GEORGE ORWELL 0234-765765 1984 Roman „In einer Zeit des Universalbetruges ist die Wahrheit zu sagen eine revolutionare Tat!" George Orwell Original Autor: George Orwell Titel: Nineteen Eighty-Four Jahr: 1948 Ubersetzung aus dem Englischen, 1950 Uberarbeitete Fassung Vorwort Mit seinem Roman „1984" hat George Orwell schon vor Jahrzehnten ein Zeichen gegen die drohende Gefahr eines globalen Uberwachungsstaates und einer Weltdiktatur gesetzt. Heute sind die von Orwell beschriebenen Tendenzen schon wesentlichen deutlicher zu erkennen, denn der „glaserne Burger" und das Aufkommen uberstaatlicher Gebilde sind keine Fiktion mehr. Hatte Orwell noch die Schreckensvision eines globalen Bolschewismus vor Augen, so wurde diese inzwischen durch die Globalisierung und die Bestrebungen gewisser Kreise, eine „Weltregierung" unter ihrer Kontrolle einzurichten, abgelost. Die Gefahr des weltweiten Uberwachungsstaates, der zugleich Nationen, Volker, Traditionen und Kulturen aufzulosen versucht, ist demnach keineswegs gebannt. Im Gegenteil: Sie tritt gerade in unserer Gegenwart in bester orwellscher Manier zu Tage. Als Orwell seinen Roman im Jahre 1948 schrieb, wollte er eine Warnung aussprechen und das ist ihm auch gelungen. Es soil ein jeder Leser von „1984" selbst ins Nachdenken kommen und sich vor allem die Frage stellen: Wer sind die Krafte, die in unserer heutigen Zeit den Uberwachungsweltstaat durchsetzen wollen? Wer hat die Macht dazu? Wer kontrolliert z.B. die Supermacht USA durch die Beherrschung der Banken und Medien? Und welche Machte stehen hinter der schrankenlosen Globalisierung, Kapitalisierung, Volkerentrechtung, Nationenauflosung und Internationalisierung der Welt? Es durfte in George Orwells Sinne sein, wenn die Leser seines Buches vor allem auch die heutige Weltpolitik und ihre treibenden Krafte kritisch betrachten. Manfred Becker, 2008 Erster Teil Erstes Kapitel Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn, als Winston Smith, das Kinn an die Brust gepresst, um dem rauen Wind zu entgehen, rasch durch die Glasturen eines der Hauser des Victory-Blocks schlupfte, wenn auch nicht rasch genug, als dafi nicht zugleich mit ihm ein Wirbel griesigen Staubs eingedrungen ware. Im Flur roch es nach gekochtem Kohl und feuchten Fufimatten. An der Ruckwand war ein grellfarbiges Plakat, das fur einen Innenraum eigentlich zu grofi war, mit Reifinageln an der Wand befestigt. Es stellte nur ein riesiges Gesicht von mehr als einem Meter Breite dar: das Gesicht eines Mannes von etwa funfundvierzig Jahren, mit dickem schwarzen Schnauzbart und ansprechenden, wenn auch derben Zugen. Winston ging die Treppe hinauf. Es hatte keinen Zweck, es mit dem Aufzug zu versuchen. Sogar zu den gunstigsten Stunden des Tages funktionierte er nur selten, und zurzeit war tagsuber der elektrische Strom abgestellt. Das gehorte zu den wirtschaftlichen Mafinahmen der in Vorbereitung befindlichen Hasswoche. Die Wohnung lag sieben Treppen hoch, und der neununddreifiigjahrige Winston, der tiber dem rechten Fufiknochel dicke Krampfaderknoten hatte, ging sehr langsam und ruhte sich mehrmals unterwegs aus. Auf jedem Treppenabsatz starrte ihn gegenuber dem Liftschacht das Plakat mit dem riesigen Gesicht an. Es gehorte zu den Bildnissen, die so gemalt sind, dafi einen die Augen uberallhin verfolgen. »Der Grofie Bruder sieht dich!« lautete die Schlagzeile darunter. Drinnen in der Wohnung verlas eine klangvolle Stimme eine Zahlenstatistik tiber die Roheisenproduktion. Die Stimme kam aus einer langlichen Metallplatte, die einem stumpfen Spiegel ahnelte und rechter Hand in die Wand eingelassen war. Winston drehte an einem Knopf, und die Stimme wurde daraufhin etwas leiser, wenn auch der Wortlaut noch zu verstehen blieb. Der Apparat, ein sogenannter Televisor oder Horsehschirm, konnte gedampft werden, doch gab es keine Moglichkeit, ihn vollig abzustellen. Smith trat ans Fenster, eine abgezehrte, gebrechliche Gestalt, deren Magerkeit durch den blauen Trainingsanzug der Parteiuniform noch betont wurde. Sein Haar war sehr hell, sein Gesicht unnattirlich gerotet, seine Haut rau von der groben Seife, den stumpfen Rasierklingen und der Kalte des gerade uberstandenen Winters. Die Welt draufien sah selbst durch die geschlossenen Fenster kalt aus. Unten auf der Strafie wirbelten schwache Windstofie Staub und Papierfetzen in Spiralen hoch, und obwohl die Sonne strahlte und der Himmel leuchtend blau war. schien doch alles farblos, aufier den uberall angebrachten Plakaten. Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte von jeder beherrschenden Ecke herunter. Ein Plakat klebte an der unmittelbar gegenuberliegenden Hausfront. »Der Grofie Bruder sieht dich!« hiefi auch hier die Unterschrift, und die dunklen Augen bohrten sich tief in Winstons Blick. Unten in Strafienhohe flatterte ein anderes, an einer Ecke eingerissenes Plakat unruhig im Winde und liefi nur das Wort „Engsoz" bald verdeckt, bald unverdeckt erscheinen. In der Feme glitt ein Helikopter zwischen den Dachern herunter, brummte einen Augenblick wie eine Schmeififliege und strich dann in einem Bogen wieder ab. Es war die Polizeistreife, die den Leuten in die Fenster schaute. Die Streifen waren jedoch nicht schlimm. Zu furchten war nur die Gedankenpolizei. Hinter Winstons Rticken schwatzte die leise Stimme aus dem Televisor noch immer von Roheisen und von der weit tiber das gesteckte Ziel hinausgehenden Erftillung des neunten Dreijahresplans. Der Televisor war gleichzeitig Empfangs- und Sendegerat. Jedes von Winston verursachte Gerausch, das tiber ein ganz leises Fltistern hinausging, wurde von ihm registriert. Aufierdem konnte Winston, solange er in dem von der Metallplatte beherrschten Sichtfeld blieb, nicht nur gehort, sondern auch gesehen werden. Es bestand nattirlich keine Moglichkeit festzustellen, ob man in einem gegebenen Augenblick gerade uberwacht wurde. Wie oft und nach welchem System die Gedankenpolizei sich in einen Privatapparat einschaltete, blieb der Mutmafiung tiberlassen. Es war sogar moglich, dafi jeder einzelne standig uberwacht wurde. Auf alle Falle aber konnte sie sich, wenn sie es wollte, jederzeit in einen Apparat einschalten. Man mufite in der Annahme leben, und man stellte sich tatsachlich instinktiv darauf ein, dafi jedes Gerausch, das man machte, uberhort und, aufier in der Dunkelheit, jede Bewegung beobachtet wurde. Winston richtete es so ein, dafi er dem Televisor den Rticken zuwandte. Das war sicherer, wenn auch, wie er wohl wufite, sogar ein Rucken verraterisch sein konnte. Einen Kilometer entfernt ragte das Wahrheitsministerium, seine Arbeitsstatte, wuchtig und weifi tiber der dtisteren Landschaft empor. Das also, dachte er mit einer Art undeutlichen Abscheus. war London, die Hauptstadt des Luftsttitzpunkts Nr. 1, der am drittstarksten bevolkerten Provinz Ozeaniens. Er versuchte in seinen Kindheitserinnerungen nachzuforschen, ob London schon immer so ausgesehen hatte. Hatten da immer diese langen Reihen heruntergekommen aussehender Hauser aus dem neunzehnten Jahrhundert gestanden, deren Mauern mit Balken gesttitzt, deren Fenster mit Pappendeckeln verschalt und deren Dacher mit Wellblech gedeckt waren, wahrend ihre schiefen Gartenmauern kreuz und quer in den Boden sackten? Und diese zerbombten Ruinen, wo der Pflasterstaub in der Luft wirbelte und Unkrautgestrtipp auf den Trtimmern wucherte, dazu die Stellen, wo Bombeneinschlage eine grofiere Lticke gerissen hatten und trostlose Siedlungen von Holzbaracken entstanden waren, die wie Hiihnerstalle aussahen? Aber es fuhrte zu nichts, er konnte sich nicht erinnern; von seiner Kindheit hatte er nichts nachbehalten als eine Reihe greller Bilder ohne Hintergrund, die ihm zumeist unverstandlich waren. Das Wahrheitsministerium - Miniwahr, wie es in „Neusprech", der amtlichen Sprache Ozeaniens, hiefi - sah verbluffend verschieden von allem anderen aus, was der Gesichtskreis umfafite. Es war ein riesiger pyramidenartiger, weifi schimmernder Betonbau, der sich terrassenformig dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von der Stelle, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in schonen Lettern in seine weifie Front gemeifielten drei Wahlspruche der Partei entziffern: KRIEG BEDEUTET FRIEDEN FREIHEIT 1ST SKLAVEREI UNWISSENHEIT 1ST STARKE Das Wahrheitsministerium enthielt, so erzahlte man sich, in seinem pyramidenartigen Bau dreitausend Raume und eine entsprechende Zahl unter der Erde. In ganz London gab es nur noch drei andere Bauten von ahnlichem Aussehen und Ausmafi. Sie beherrschten das sie umgebende Stadtbild so vollkommen, dafi man vom Dach des Victory-Blocks aus alle vier gleichzeitig sehen konnte. Sie waren der Sitz der vier Ministerien, unter die der gesamte Regierungsapparat aufgeteilt war, des Wahrheitsministeriums, das sich mit dem Nachrichtenwesen, der Freizeitgestaltung, dem Erziehungswesen und den schonen Kunsten befafite, des Friedensministeriums, das die Kriegsangelegenheiten behandelte, des Ministeriums fur Liebe, das Gesetz und Ordnung aufrechterhielt, und des Ministeriums fur Uberflufi, das die Rationierungen bearbeitete. Ihre Namen lauteten in Neusprech: Miniwahr, Minipax, Minilieb, Miniflufi. Das Ministerium fur Liebe war das furchterregendste von alien. Es hatte uberhaupt keine Fenster. Winston war noch nie im Ministerium fur Liebe gewesen und ihm auch nie, sei es nur auf einen halben Kilometer, nahe gekommen. Es war unmoglich, es aufier in amtlichem Auftrag zu betreten, und auch dann mufite man erst durch einen Irrgarten von Stacheldrahtverhauen und versteckten Maschinengewehrnestern hindurch. Sogar die zu den Befestigungen im Vorgelande hinauffuhrenden Strafien waren durch gorillagesichtige Wachen in schwarzen Uniformen gesichert, die mit schweren Gummiknuppeln bewaffnet waren. Winston drehte sich mit einem Ruck um. Er hatte die ruhige optimistische Miene aufgesetzt, die zur Schau zu tragen ratsam war, wenn man dem Televisor das Gesicht zukehrte. Er ging quer durchs Zimmer in die winzige Kiiche. Indem er zu dieser Tageszeit aus dem Ministerium weggegangen war, hatte er auf sein Mittagessen in der Kantine verzichtet, andererseits wufite er, dafi es in der Kiiche nichts zu essen gab aufier einem Stuck Schwarzbrot, das fur den nachsten Tag als Fruhstuck aufgehoben werden mufite. Er nahm eine Flasche mit einer farblosen Fliissigkeit aus dem Regal, die dem schmucklosen weifien Etikett nach Victory-Gin war. Das Getrank stromte einen faden, oligen Geruch aus, wie chinesischer Reisschnaps. Winston gofi sich fast eine Teetasse voll davon ein, stellte sich auf den zu erwartenden Schock ein und wurgte es wie eine Dosis Medizin hinunter. Sofort lief sein Gesicht krebsrot an, und das Wasser trat ihm in die Augen. Das Zeug schmeckte wie Salpetersaure, und man hatte beim Herunterschlucken das Gefuhl, eins mit dem Gummiknuppel uber den Hinterkopf zu bekommen. Einen Augenblick spater horte jedoch das Brennen in seinem Magen auf, und die Welt begann rosiger auszusehen. Er zog eine Zigarette aus einem zerknitterten Packchen mit der Aufschrift Victory-Zigaretten, doch unvorsichtigerweise hielt er sie senkrecht, worauf der Tabak heraus auf den Fufiboden rieselte. Mit der nachsten hatte er mehr Gluck. Er ging ins Wohnzimmer zuruck und setzte sich an ein links vom Televisor stehendes Tischchen. Dann zog er aus der Tischschublade einen Federhalter, eine Tintenflasche und ein dickes, unbeschriebenes Diarium in Quartformat mit rotem Rucken und marmorierten Einbanddeckeln hervor. Aus irgendeinem Grunde war der Televisor in seinem Wohnzimmer an einer ungewohnlichen Stelle angebracht. Statt wie iiblich an der kurzeren Wand, von wo aus er den ganzen Raum beherrscht hatte, war er an der Langswand gegenuber dem Fenster eingelassen. An seiner einen Seite befand sich die kleine Nische, in der Winston jetzt safi und die vermutlich beim Bau der Wohnung fur ein Bucherregal bestimmt gewesen war. Wenn er sich so in die Nische setzte und vorsichtig im Hintergrund hielt, konnte Winston, wenigstens visuell, aufier Reichweite des Televisors bleiben. Er konnte zwar gehort, aber, solange er in seiner Stellung verharrte, nicht gesehen werden. Die ungewohnliche Anlage des Zimmers war zum Teil fur den Gedanken verantwortlich, zu dessen Verwirklichung er jetzt schritt. Doch auch das Tagebuch, das er soeben aus der Schublade hervorgezogen hatte, war mit daran schuld. Es war ein ganz besonders schones Tagebuch. Sein milchweifies Papier, schon ein wenig vergilbt, war von einer Qualitat, wie sie seit wenigstens vierzig Jahren nicht mehr hergestellt worden war. Er hatte jedoch Grund zu der Annahme, dafi „das Buch" noch weit alter war. Er hatte es in der Auslage eines muffigen kleinen Altwarengeschafts in einem der Elendsviertel der Stadt (in welchem Viertel, hatte er jetzt nicht mehr sagen konnen) liegen gesehen und war sofort von dem brennenden Wunsch beseelt worden, es zu besitzen. Von Parteimitgliedern wurde erwartet, dafi sie nicht in gewohnlichen Laden einkauften (»Geschafte auf dem freien Markt machten«, wie die Formel lautete), aber die Vorschrift wurde nicht streng eingehalten, denn es gab verschiedene Dinge, wie Schuhbander oder Rasierklingen, die man sich unmoglich auf andere Weise beschaffen konnte. Er hatte einen raschen Blick die Strafie hinauf- und hinuntergeworfen, dann war er hineingeschlupft und hatte „das Buch" fur zwei Dollar funfzig erstanden. Damals hatte ihm noch kein Zweck dafur 10 vorgeschwebt. Er hatte es schuldbewusst in seiner Mappe heimgetragen. Selbst unbeschrieben war es schon ein gefahrlicher Besitz. Nun war er im Begriff, ein Tagebuch anzulegen. Das war nicht illegal (nichts war illegal, da es ja keine Gesetze mehr gab), aber falls es herauskam, war er so gut wie sicher, dafi es mit dem Tode oder zumindest funfundzwanzig Jahren Zwangsarbeitslager geahndet werden wiirde. Winston steckte eine Stahlfeder in den Halter und feuchtete sie mit der Zunge an. Die Feder war ein vorsintflutliches Instrument, das selbst zu Unterschriften nur noch selten verwendet wurde, und er hatte sich heimlich und mit einiger Schwierigkeit eine besorgt, ganz einfach aus dem Geftihl heraus, dafi das wundervolle glatte Papier es verdiente, mit einer richtigen Feder beschrieben, statt mit einem Tintenblei bekritzelt zu werden. Tatsachlich war er nicht mehr gewohnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von ganz kurzen Notizen war es tiblich, alles in den Sprechschreiber zu diktieren, aber das war naturlich in diesem Fall unmoglich. Er tauchte die Feder in die Tinte und stockte noch eine Sekunde. Ein Schauer war ihm tiber den Rticken gelaufen. Der erste Federstrich tiber das Papier war die entscheidende Handlung. In kleinen unbeholfenen Buchstaben schrieb er: 4. April 1984. Er lehnte sich zurtick. Ein Geftihl volliger Hilflosigkeit hatte sich seiner bemachtigt. Zunachst einmal war er sich durchaus nicht sicher, dafi jetzt wirklich das Jahr 1984 war. Es mufite um diese Zeit herum sein, denn er wufite mit einiger Gewissheit, dafi er selbst neununddreifiig Jahre alt war, und er glaubte, 1944 oder 1945 geboren zu sein. Doch heutzutage war es nie moglich, ein Datum auf ein oder zwei Jahre genau zu bestimmen. Ftir wen, fragte er sich plotzlich, legte er dieses Tagebuch an? Ftir die Zukunft, ftir die Kommenden. Sein Denken kreiste einen Augenblick um das zweifelhafte Datum auf der ersten Seite und prallte dann jah mit dem Wort „Gedankendelikt" aus dem Neusprech zusammen. Zum erstenmal kam ihm die Grofie seines Vorhabens zum Bewufitsein. Wie konnte man sich mit der 11 Zukunft verstandigen? Das war ihrer Natur nach unmoglich. Entweder ahnelte die Zukunft der Gegenwart, dann wtirde man ihm nicht Gehor schenken wollen; oder sie war anders geartet, dann war seine Darstellung bedeutungslos. Eine Zeitlang safi er da und starrte toricht auf das Papier. Der Televisor hatte jetzt schmetternde Militarmusik angestimmt. Es war seltsam, dafi er nicht nur die Gabe der Mitteilung verloren, sondern sogar vergessen zu haben schien, was er ursprtinglich hatte sagen wollen. Seit Wochen hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, dafi dazu noch etwas anderes notig sein konnte als Mut. Die Niederschrift als solche hatte er fur leicht gehalten. Brauchte er doch nichts weiter zu tun, als die endlosen hastigen Selbstgesprache zu Papier zu bringen, die ihm buchstablich seit Jahren durch den Kopf geschossen waren. In diesem Augenblick jedoch war sogar das Selbstgesprach verstummt. Aufierdem hatte das Ekzem an seinen Krampfadern unertraglich zu jucken angefangen. Er wagte nicht, daran zu kratzen, denn dann entzundete es sich immer. Die Sekunden verstrichen. Nichts drang in sein Bewufitsein als die unbeschriebene Weifie des vor ihm liegenden Blattes, das Hautjucken tiber seinem Knochel, die schmetternde Musik und eine leise Benebeltheit, die der Gin verursacht hatte. Plotzlich begann er ubersturzt zu schreiben, ohne recht zu wissen, was er zu Papier brachte. Seine kleine kindliche Handschrift bedeckte Zeile um Zeile des Blattes, wobei er bald auf die grofien Anfangsbuchstaben und zum Schlufi sogar auf die Interpunktion verzichtete: „4. April 1984. Gestern Abend im Kino. Lauter Kriegsfilme. Ein sehr guter, tiber ein Schiff von Fltichtlingen, das irgendwo im Mittelmeer bombardiert wird. Zuschauer hochst belustigt durch eine Aufnahme von einem grofien dicken Mann, den ein Helikopter verfolgt, zuerst sah man ihn sich durchs Wasser walzen wie ein Nilpferd, dann sah man ihn durch das 12 Zielfernrohr des Hubschraubers, dann war er ganz durchlochert und das Meer rund um ihn farbte sich rosa, und er versank so plotzlich, als sei das Wasser durch die Locher eingedrungen. Zuschauer brullten vor lachen als er unterging. Dann sah man ein Rettungsboot voll kinder mit einem hubschrauber daruber, eine frau mittleren Alters, safi mit einem etwa drei jahre alten knaben im bug. Kleiner junge brullte vor angst und verbarg seinen kopf zwischen den brusten als wollte er ganz in sie hineinkriechen und die frau legte die arme um ihn und trostete ihn. obwohl sie selbst aufier sich vor angst war bedeckte sie ihn so gut wie moglich als glaubte sie ihre arme konnten die kugeln von ihm abhalten, dann warf der hubschrauber eine 20-kilo-bombe zwischen sie schreckliches aufblitzen und das ganze schiff zersplitterte wie streichholzer, dann gab es eine wundervolle aufnahme von einem kinderarm der hoch, hoch und immer hoher hinauffliegt in die luft ein hubschrauber mit einer kamera vorn in der kanzel mufi ihm nachgeflogen sein und es gab viel beifall aus den parteilogen aber eine frau unten wo die proles sitzen fing plotzlich an radau zu machen und zu schreien man hatte so was nicht vor kindern zeigen sollen es sei nicht recht vor kindern bis die polizei sie hinauswarf ich glaube nicht dafi ihr etwas passierte niemand kummert sich darum was die proles sagen typische prolesreaktion sie konnen nie..." Winston horte zu schreiben auf, auch weil er einen Schreibkrampf bekam. Er wufite nicht, was ihn veranlafit hatte, diese Flut von Gestammel aus sich herauszuschleudern. Aber das merkwurdige war, dafi ihm dabei eine vollstandige Erinnerung so deutlich zum Bewufitsein gekommen war, dafi es ihm fast so vorkam, als habe er sie niedergeschrieben. Nun erkannte er, dafi dieser andere Vorfall an seinem plotzlichen Entschlufi schuld war, nach Hause zu gehen und heute sein Tagebuch zu beginnen. 13 Dieser Vorfall hatte sich heute Morgen im Ministerium zugetragen, wenn man von etwas so Nebelhaftem uberhaupt sagen konnte, dafi es sich zugetragen hat. Es war kurz vor elf, und in der Registrierabteilung, in der Winston arbeitete, hatte man die Stuhle aus den Gemeinschaftsraumen geholt und sie in der Mitte des Saales dem grofien Televisor gegenuber aufgestellt, in Vorbereitung auf die „Zwei-Minuten-Hass-Sendung" . Winston nahm gerade seinen Platz in einer der Mittelreihen ein, als zwei Personen, die er vom Sehen kannte, mit denen er aber noch nie ein Wort gewechselt hatte, unerwartet in den Raum traten. Die eine davon war ein Madchen, dem er oft auf den Gangen begegnet war. Er kannte ihren Namen nicht, wufite aber, dafi sie in der Abteilung fur Prosa- Literatur beschaftigt war. Vermutlich - denn er hatte sie manchmal mit olverschmierten Handen und mit einem Schraubenschlussel gesehen - hatte sie dort eine technische Funktion an einer der Romanschreibmaschinen. Sie war ein unternehmungslustig aussehendes Madchen von etwa siebenundzwanzig Jahren, mit uppigem schwarzen Haar, sommersprossigem Gesicht und raschen, muskulosen Bewegungen. Eine schmale, scharlachrote Scharpe, das Abzeichen der „Jugendliga gegen Sexualitat", war mehrmals um die Taille ihres Trainingsanzuges gewunden, gerade eng genug, um die Rundung ihrer Huften hervorzuheben. Winston hatte sie vom aller ersten Augenblick an nicht ausstehen konnen. Er wufite auch, weshalb. Es war wegen der Atmosphare von Hockeyplatz, kaltem Baden, Gemeinschaftswanderung und allgemeiner Gesinnungstuchtigkeit, mit der sie sich zu umgeben wufite. Die Frauen, und vor allem die jungen, gaben immer die blind ergebenen Parteianhanger, die gedankenlosen Nachplapperer, die freiwilligen Spitzel ab, mit deren Hilfe man weniger Linientreue aushorchen konnte. Aber dieses Madchen im Besonderen machte ihm den Eindruck, gefahrlicher als die meisten zu sein. Einmal, als sie auf dem Gang aneinander 14 vorbeigekommen waren, hatte sie ihn mit einem Seitenblick gestreift, der ihn zu durchbohren schien und der ihn fur einen Augenblick mit blankem Entsetzen erfullt hatte. Ihm war sogar der Gedanke durch den Kopf gegangen, sie konnte eine Agentin der Gedankenpolizei sein, was freilich sehr unwahrscheinlich war. Trotzdem fuhlte er weiterhin, sooft sie in seine Nahe kam, eine merkwurdige Unsicherheit, die zu gleichen Teilen mit Angst und mit Feindschaft gemischt war. Die andere Person war ein Mann namens O'Brien, ein Mitglied der Inneren Partei und Inhaber eines so wichtigen und der Allgemeinheit entriickten Postens, dafi Winston nur eine undeutliche Vorstellung davon hatte. Ein kurzes Gefluster durchlief die um die Stiihle herumstehende Gruppe, als sie den schwarzen Trainingsanzug eines Mitglieds der Inneren Partei herankommen sah. O'Brien war ein grofier, grobschlachtiger Mann mit dickem Nacken und einem derben, humorvollen und brutalen Gesicht. Ungeachtet seines wuchtigen Aufieren lag ein gewisser Charme in seiner Art, sich zu bewegen. Er hatte eine Manier, seine Brille auf der Nase zurechtzurucken, die seltsam entwaffnend und auf eine merkwurdige Weise zivilisiert wirkte. Es war eine Geste, die einen, wenn uberhaupt noch jemand in solchen Begriffen gedacht hatte, an einen Edelmann aus dem achtzehnten Jahrhundert hatte erinnern konnen, der seinem Gegenuber die Schnupftabaksdose anbot. Winston hatte O'Brien vielleicht ein Dutzend Mai in etwa ebenso vielen Jahren gesehen. Er fuhlte sich aufrichtig zu ihm hingezogen, und das nicht nur, weil ihn der Gegensatz zwischen O'Briens hoflichen Manieren und seinem Preisboxertypus fesselte. Es beruhte vielmehr auf einem heimlich gehegten Glauben - oder vielleicht nur der Hoffnung -, dafi O'Briens politische Strengglaubigkeit nicht vollkommen sei. Etwas in seinem Gesicht flofite unwiderstehlich diesen Gedanken ein. Und doch stand in diesem Gesicht eigentlich weniger mangelnde Strengglaubigkeit als einfach Intelligenz geschrieben. Jedenfalls sah er wie ein Mensch aus, mit dem man reden konnte, wenn 15 man es fertig brachte, dem Televisor ein Schnippchen zu schlagen, und ihn allein zu fassen bekam. Winston hatte nie den geringsten Versuch gemacht, seine Vermutung auf ihre Richtigkeit hin zu prufen: praktisch gab es auch keine Moglichkeit dazu. O'Brien warf in diesem Augenblick einen Blick auf seine Armbanduhr, sah, dafi es fast elf Uhr war, und beschlofi offenbar, in der Abteilung Registratur zu bleiben, bis die Zwei- Minuten-Hass-Sendung zu Ende war. Er setzte sich auf einen Stuhl in derselben Reihe wie Winston, zwei Platze von ihm entfernt. Eine kleine aschblonde Frau, die in der Abteilung neben Winston beschaftigt war, safi zwischen ihnen. Das Madchen mit dem schwarzen Haar safi unmittelbar dahinter. Im nachsten Augenblick brach ein scheufilicher, knirschender Kreischlaut, als ob eine riesige Maschine vollig ungeolt liefe, aus dem grofien Televisor am Ende des Raumes hervor. Es war ein Larm, bei dem einen eine Gansehaut uberlief und sich die Nackenhaare straubten. Die Hass-Sendung hatte begonnen. Wie gewohnlich war das Gesicht Immanuel Goldsteins, des Parteiverraters, auf dem Sehschirm erschienen. Da und dort im Zuschauerraum wurde gezischt. Die kleine aschblonde Frau stiefi ein aus Furcht und Abscheu gemischtes Quieken hervor. Goldstein war der Renegat, der grofie Abtrunnige, der fruher einmal, vor langer Zeit (wie lange es eigentlich her war, daran erinnerte sich niemand mehr genau), einer der fuhrenden Manner der Partei gewesen war und fast auf einer Stufe mit dem Grofien Bruder selbst gestanden hatte, um dann mit konterrevolutionaren Machenschaffen zu beginnen, zum Tode verurteilt zu werden und auf geheimnisvolle Weise zu verschwinden. Die Programme der Zwei-Minuten-Hass-Sendung wechselten von Tag zu Tag, aber es gab keines, in dem nicht Goldstein die Hauptrolle gespielt hatte. Er war der erste Verrater, der fruheste Beschmutzer der Reinheit der Partei. Alle spater gegen die Partei gerichteten Verbrechen, alle Verratereien, Sabotageakte, 16 Ketzereien, Abweichungen gingen unmittelbar auf seine Irrlehren zuruck. Irgendwo lebte er noch und schmiedete seine Ranke: vielleicht irgendwo jenseits des Meeres, unter dem Schutz seiner auslandischen Geldgeber, vielleicht sogar - wie gelegentlich gemunkelt wurde - in einem Versteck in Ozeanien selbst. Winstons Zwerchfell zog sich zusammen. Nie konnte er das Gesicht Goldsteins sehen, ohne in einen schmerzlichen Widerstreit der Gefuhle zu geraten. Es war ein mageres Judengesicht mit einem breiten, wirren Kranz weifier Haare und einem Ziegenbartchen - ein gerissenes und irgendwie eigentumlich verachtliches Gesicht, dessen lange dunne Nase, auf deren Ende eine Brille safi, eine Art seniler Blodheit auszustrahlen schien. Es ahnelte einem Schafsgesicht, und auch die Stimme hatte etwas Schafsmafiiges. Goldstein liefi seinen ublichen giftigen Angriff gegen die Lehren der Partei vom Stapel - einen so ubertriebenen und verdrehten Angriff, dafi ihn ein Kind hatte durchschauen konnen, und doch gerade hinreichend glaubhaft, um einen mit dem alarmierenden Gefuhl zu erfullen, dafi andere Menschen, die weniger vernunftig waren als man selbst, sich dadurch vielleicht verfuhren las sen konnten. Er schmahte den Grofien Bruder, klagte die Tyrannei der Partei an, forderte sofortigen Friedensschlufi mit Eurasien, trat fur Rede-, Presse-, Versammlungs- und Gedankenfreiheit ein, schrie hysterisch, die Revolution sei verraten worden - und alles das in einer ubersturzten, vielsilbigen Ansprache, die eine Art Parodie des ublichen Stils der Parteiredner war und sogar einige Worte des Neusprech enthielt: praktisch mehr Neusprech-Worte, als sie irgendein Parteimitglied normalerweise im wirklichen Leben angewendet hatte. Und die ganze Zeit marschierten, fur den Fall, dafi man noch im geringsten Zweifel sein konnte, was sich in Wahrheit hinter Goldsteins widerlicher Phrasendrescherei verbarg, hinter seinem Kopf auf dem Schirm des Televisors die gewaltigen Kolonnen der 17 eurasischen Armee vorbei. Es waren endlose Reihen brutal aussehender Manner mit ausdruckslosen Mongolengesichtern, die an die Oberflache des Sehschirms heranbrandeten und wieder zerflossen, um von anderen, genau gleichen, abgelost zu werden. Der sture rhythmische Marschtritt der Soldatenstiefel bildete die Gerauschkulisse, von der Goldsteins blokende Stimme sich abhob. Ehe die Hassovation dreifiig Sekunden gedauert hatte, brachen von den Lippen der Halfte der im Raum versammelten Menschen unbeherrschte Wutschreie. Das selbstzufriedene Schafsgesicht auf dem Sehschirm und die erschreckende Wucht der dahinter vorbeiziehenden eurasischen Armee waren einfach zuviel: aufierdem weckte der Anblick oder auch nur der Gedanke an Goldstein schon automatisch Abscheu und Zorn. Er war ein dauerhafteres Hassobjekt als Eurasien oder Ostasien, denn wenn Ozeanien mit einer dieser Machte im Krieg lag, so befand es sich gewohnlich mit der anderen im Friedenszustand. Das merkwurdige aber war, dafi Goldsteins Einflufi, wenn er auch von jedermann gehasst und verachtet wurde, wenn auch tagtaglich und tausendmal am Tag auf Rednertribunen, durch den Televisor, in Zeitungen, in Buchern seine Theorien verdammt, zerpfluckt, lacherlich gemacht, der Allgemeinheit als der jammervolle Unsinn, der sie waren, vor Augen gehalten wurde - dafi trotz alledem dieser Einflufi nie abzunehmen schien. Immer wieder warteten neue Opfer darauf, von ihm verfuhrt zu werden. Nie verging ein Tag, an dem nicht nach seinen Weisungen tatige Spione und Saboteure von der Gedankenpolizei entlarvt wurden. Er war der Befehlshaber einer grofien Schatten-Armee, eines Untergrund-Verschworernetzes, das sich den Sturz der Regierung zum Ziel setzte. Der Name der Organisation sei »Die Bruderschaft«, so hiefi es. Auch fliisterte man von einem schrecklichen Buch, einer Zusammenfassung aller Irrlehren, dessen Verfasser Goldstein war und das heimlich da und dort zirkulierte. Es war ein Buch ohne Titel. Die Leute sprachen 18 davon, wenn uberhaupt, einfach als von »dem Buch«. Aber man wufite von derlei Dingen nur durch vage Geruchte. Weder »Die Bruderschaft« noch »das Buch« wurden, wenn es sich vermeiden liefi, von einem gewohnlichen Parteimitglied erwahnt. In der zweiten Minute steigerte sich die Hassovation zur Raserei. Die Menschen sprangen von ihren Sitzen auf und briillten mit vollem Stimmaufwand, um die zum Wahnsinn treibende Blokstimme, die aus dem Televisor kam, zu ubertonen. Die kleine aschblonde Frau war im Gesicht rot angelaufen, und ihr Mund offnete und schlofi sich wie bei einem an Land geworfenen Fisch. Sogar O'Briens grofies Gesicht war gerotet. Er safi sehr gerade aufgerichtet auf seinem Stuhl, seine machtige Brust hob und senkte sich, als stemme er sich dem Anprall einer Woge entgegen. Das schwarzhaarige Madchen hinter Winston hatte angefangen »Schwein! Schwein! Schwein!« hinauszuschreien und ergriff plotzlich ein schweres Neusprechworterbuch und schleuderte es gegen den Bildschirm. Es traf Goldsteins Nase und prallte von ihm ab; die Stimme redete unerbittlich weiter. In einem lichten Augenblick ertappte sich Winston, wie er mit den anderen schrie und trampelte. Das Schreckliche an der Zwei-Minuten-Hass- Sendung war nicht, dafi man gezwungen wurde mitzumachen, sondern im Gegenteil, dafi es unmoglich war, sich ihrer Wirkung zu entziehen. Eine schreckliche Ekstase der Angst und der Rachsucht, das Verlangen zu toten, zu foltern, Gesichter mit einem Vorschlaghammer zu zertrummern, schien die ganze Versammlung wie ein elektrischer Strom zu durchfluten, so dafi man gegen seinen Willen in einen Grimassen schneidenden, schreienden Verruckten verwandelt wurde. Und doch war der Zorn, den man empfand, eine abstrakte, ziellose Regung, die wie der Schein einer Blendlaterne von einem Gegenstand auf den anderen gerichtet werden konnte. So war fur einen Augenblick der Hass Winstons durchaus nicht gegen Goldstein gerichtet, sondern im Gegenteil gegen den Grofien Bruder, gegen die Partei und die Gedankenpolizei. Und in 19 solchen Augenblicken schwoll sein Herz tiber fur den einsamen, verachteten Abtrtinnigen auf dem Sehschirm, diesen einzigen Verfechter von Wahrheit und Vernunft in einer Welt der Ltigen. Und doch ftihlte er sich im nachsten Augenblick wieder eins mit den ihn umgebenden Menschen, und alle Behauptungen tiber Goldstein schienen ihm wahr. In solchen Augenblicken verwandelte sich seine geheime Abneigung gegen den Grofien Bruder in Verehrung, und der Grofie Bruder schien dazustehen als ein unbesieglicher, furchtloser Beschtitzer, der sich wie ein Felsen gegen die anbrandenden asiatischen Horden stemmte, wahrend Goldstein ihm trotz seiner Vereinsamung, seiner Hilflosigkeit und der Zweifel, die sich allein schon an sein tatsachliches Vorhandensein kntipften, wie ein unheilvoller Betorer vorkam, der es lediglich durch die Macht seiner Stimme fertig brachte, die Fundamente der Zivilisation zu zerstoren. In manchen Augenblicken war es sogar moglich, seinen Hass durch einen Willensakt da oder dorthin zu lenken. So gelang es Winston plotzlich, durch eine heftige Anstrengung, ahnlich der, mit der man in einem Alptraum seinen Kopf vom Kissen losreifit, seinen Hass von dem Gesicht auf dem Sehschirm auf das hinter ihm sitzende dunkelhaarige Madchen zu tibertragen. Lebhafte, bertickende Vorstellungen huschten ihm durch den Sinn. Er wtirde sie mit einem Gummikntippel zu Tode prtigeln, sie nackt an einen Pfahl binden und sie mit Pfeilen durchlochern, gleich dem heiligen Sebastian. Er wtirde sie vergewaltigen und ihr im Augenblick der hochsten Lust die Kehle durchschneiden. Deutlicher als zuvor war er sich auch bewufit, warum er sie hasste. Er hasste sie, weil sie jung, htibsch und geschlechtslos war, weil er mit ihr ins Bett gehen wollte und daraus nie etwas werden wtirde, denn um ihre reizende, biegsame Taille, die einen zur Umarmung aufzufordern schien, wand sich nur die verhexte scharlachrote Scharpe, das aufreizende Symbol der Keuschheit. Die Hasswelle erreichte ihren Hohepunkt. Goldsteins Stimme war tatsachlich zu einem Bloken geworden, und einen Augenblick lang verwandelte sich sein Gesicht in das eines 20 Schafes. Dann blendete das Schafsgesicht in die Gestalt eines eurasischen Soldaten tiber, der riesig und furchtbar mit ratternder Maschinenpistole auf den Besucher zuzuschreiten und aus der Flache des Sehschirms herauszuspringen schien, so dafi manche der Zuschauer in der ersten Reihe auf ihren Sitzen zurtickprallten. Aber im gleichen Augenblick, wahrend jedem Munde ein tiefer Seufzer der Erleichterung entfuhr, zerschmolz die feindliche Gestalt in das Gesicht des Grofien Bruders mit seinen dunklen Haaren und seinem Schnurrbart, das Macht und geheimnisvolle Ruhe ausstrahlte und mit seiner riesigen Grofie fast den ganzen Sehschirm ausftillte. Niemand verstand, was der Grofie Bruder sagte. Es waren nur ein paar Worte der Ermutigung, Worte, wie sie im Kampflarm einer Schlacht ausgestofien werden, nicht im einzelnen unterscheidbar, die aber einfach dadurch, dafi sie ausgesprochen werden, die Zuversicht wiederherstellen. Dann zerrann das Gesicht des Grofien Bruders wieder, und statt seiner erschienen in klaren grofien Buchstaben die drei Parteiwahlsprtiche: KRIEG BEDEUTET FRIEDEN FREIHEIT 1ST SKLAVEREI UNWISSENHEIT 1ST STARKE Aber das Gesicht des Grofien Bruders schien sich noch einige Sekunden auf dem Sehschirm zu behaupten, so als sei der Eindruck, den es auf der Netzhaut aller Zuschauer hervorgebracht hatte, zu lebhaft, um sogleich zu verloschen. Die kleine Frau hatte sich tiber die Lehne des vor ihr stehenden Stuhles nach vorne geworfen. Mit einem bebenden Fltistern, das wie »Mein Retter!« klang, breitete sie die Arme dem Sehschirm entgegen. Dann barg sie ihr Gesicht in den Handen. Offensichtlich sprach sie ein Gebet. Jetzt stimmten alle Versammelten einen kraftvollen, langsamen und rhythmischen Sprechchor an: »G-B! G-B! G-B!« 21 Wieder und immer wieder, sehr langsam, mit einer langen Pause zwischen dem ersten G und dem zweiten B - in einem feierlichen, murmelnden, seltsam ungestum wirkenden Ton, so dafi man als Begleitung das Stampfen nackter Fufie und das dumpfe Drohnen von Tamtams zu horen glaubte. Vielleicht dreifiig Sekunden lang fuhren sie damit fort. Es war ein Refrain, den man oft in Augenblicken uberwaltigender Erregung horte. Zum Teil war es eine Art Hymne auf die Weisheit und Majestat des Grofien Bruders, mehr aber noch ein Akt der Selbsthypnose, ein absichtliches Ubertonen des Bewufitseins durch das Mittel rhythmischen Larms. Winston fuhlte eine Kalte in seinen Eingeweiden. Wahrend der Zwei-Minuten-Hass- Sendung konnte er nicht umhin, gleichfalls dem allgemeinen Delirium anheim zufallen, aber dieser unmenschliche Singsang »G-B! G-B!« erfullte ihn immer mit Abscheu. Naturlich stand er den ubrigen nicht nach; etwas anderes ware unmoglich gewesen. Seine Gefuhle zu verschleiern, sein Gesicht zu beherrschen, zu tun, was jeder tat, gebot schon der Instinkt. Aber es gab eine Zeitspanne von einigen Sekunden, in der ihn der Ausdruck seiner Augen in bedenklicher Weise hatte verraten konnen. Und genau in diesem Augenblick ereignete sich das Bedeutsame - wenn es sich wirklich ereignete. Er fing fliichtig O'Briens Blick auf. O'Brien war aufgestanden. Er hatte seine Brille abgenommen und war gerade im Begriff, sie wieder mit seiner charakteristischen Geste aufzusetzen. Aber dazwischen lag der Bruchteil einer Sekunde, wahrenddessen sich ihre Augen begegneten, und in diesem winzigen Zeitraum wufite Winston - ja, er wufite es!, dafi O'Brien das gleiche dachte wie er. Eine unmifiverstandliche Botschaft war zwischen ihnen ausgetauscht worden. Es war, als hatten ihre beiden Denkwelten sich aufgetan und als stromten durch ihre Augen die Gedanken von dem einen in den anderen tiber. »Ich halte es mit dir«, schien O'Brien zu ihm zu sagen. »Ich weifi genau, was in dir vorgeht. Ich kenne deine ganze Verachtung, deinen Hass, deinen Abscheu. Aber hab keine Angst, ich stehe 22 auf deiner Seite!« - Dann war der Blitz des Einverstandnisses erloschen, und O'Briens Gesicht war ebenso undurchdringlich wie das aller anderen. Das war alles gewesen, und er war schon nicht mehr sicher, ob es sich wirklich zugetragen hatte. Derartige Zwischenfalle hatten nie eine Fortsetzung. Sie hielten lediglich den Glauben - oder die Hoffnung - in ihm lebendig, dafi es aufier ihm noch andere Feinde der Partei gab. Vielleicht waren die Geruchte von grofien Untergrundverschworungen doch wahr - vielleicht existierte »Die Bruderschaft« wirklich! Trotz der endlosen Verhaftungen, Gestandnisse und Hinrichtungen konnte man nie sicher sein, dafi »Die Bruderschaft« nicht lediglich eine sagenhafte Erfindung war. An manchen Tagen glaubte er daran, an anderen nicht. Es gab keinen greifbaren Beweis, nur fliichtige Andeutungen, die alles oder nichts bedeuten konnten: Bruchstucke erlauschter Gesprache, verwischte Aufschriften an Abortwanden - oder einmal, wenn zwei Freunde sich trafen, eine kleine Bewegung der Hande, die einem Verstandigungszeichen ahnlich sah. Alles war nur eine Mutmafiung: sehr wahrscheinlich hatte er sich das alles nur eingebildet. Er war an seinen Arbeitsplatz zuruckgegangen, ohne O'Brien noch einmal anzusehen. Der Gedanke, ihre kurze Fuhlungnahme weiter zu verfolgen, war ihm kaum durch den Sinn gegangen. Es ware unvorstellbar gefahrlich gewesen, selbst wenn er gewufit hatte, wie er das machen sollte. Eine oder zwei Sekunden lang hatten sie einen zweideutigen Blick getauscht - und damit Schlufi. Aber sogar das war ein denkwurdiger Augenblick in der abgeschlossenen Einsamkeit, in der man zu leben gezwungen war. Winston rappelte sich hoch und setzte sich gerade. Er mufite rulpsen. Der Gin rumorte in seinem Magen. Sein Blick richtete sich wieder auf das Blatt. Er entdeckte, dafi er, wahrend er in hilflosem Grubeln dagesessen, gleichzeitig automatisch weitergeschrieben hatte. Und zwar war es nicht mehr die gleiche 23 verkrampfte Handschrift von vorhin. Seine Feder war beschwingt tiber das glatte Papier geglitten und hatte in grofier klarer Blockschrift hingemalt: NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER! NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER! NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER! Immer wieder schrieb er es, fast tiber eine halbe Seite hinweg. Unwillktirlich durchzuckte ihn ein furchtbarer Schrecken. Das war im Grunde toricht, denn das Niederschreiben gerade dieser Worte war nicht gefahrlicher als der erste Schritt, ein Tagebuch anzulegen; und doch ftihlte er sich einen Augenblick lang versucht, die beschriebenen Seiten herauszureifien und die ganze Sache aufzugeben. Er tat es jedoch nicht, weil er wufite, dafi es zwecklos war. Ob er „nieder mit dem Grofien Bruder" hinschrieb oder nicht, machte keinen Unterschied. Ob er mit dem Tagebuch fortfuhr oder nicht, machte keinen Unterschied. Die Gedankenpolizei wurde ihn trotzdem erwischen. Er hatte - auch wenn er nie die Feder angesetzt hatte - das Kapitalverbrechen begangen, das alle anderen in sich einschlofi. Gedankenverbrechen nannten sie es. Gedankenverbrechen konnte man auf die Dauer nicht geheim halten. Man konnte vielleicht eine Weile, oder sogar Jahre lang, schlaue Winkelzuge machen, aber friiher oder spater kamen sie einem doch darauf. Immer war es nachts - die Verhaftungen fanden unabanderlich nachts statt. Das plotzliche Hochfahren aus dem Schlaf, die derbe Hand, die einen an der Schulter packte, die Lichter, die einem die Augen blendeten, der Kreis harter Gesichter um das Bett. In der uberragenden Mehrzahl der Falle fand keine Gerichtsverhandlung statt, kein Bericht meldete die Verhaftung. Die Menschen verschwanden einfach, immer mitten in der Nacht. Der Name wurde aus den Listen gestrichen, jede Aufzeichnung von allem, was einer je getan hatte, wurde vernichtet; dafi man jemals gelebt hatte, wurde erst geleugnet und dann vergessen. 24 Man war ausgeloscht, zu nichts geworden; man wurde „vaporisiert", wie das gebrauchliche Wort daftir lautete. Einen Augenblick tiberfiel ihn eine Art Nervenkrise. Er begann in fliegendem, krakeligem Gekritzel zu schreiben: »sie werden mich erschiefien wenn ich nicht aufpasse sie werden mich mit einem genickschufi erschiefien wenn ich nicht aufpasse nieder mit dem grofien bruder sie erschiefien einen immer mit genickschufi mir ist es egal nieder mit dem grofien bruder. . .« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurtick, ein wenig beschamt tiber sich selbst, und legte den Federhalter hin. Im nachsten Augenblick fuhr er heftig zusammen. Es klopfte jemand an die Ttir. Schon! Er safi mucksmauschenstill da, in der vergeblichen Hoffnung, der Draufienstehende konnte nach einem einmaligen Versuch weggehen. Aber nein, das Klopfen wurde wiederholt. Das Schlimmste, was er tun konnte, war zu zogern. Sein Herz klopfte wie eine Pauke, aber sein Gesicht war, vermutlich aus langer Gewohnheit, ganz ausdruckslos. Er stand auf und ging schweren Schrittes zur Tur. Zweites Kapitel Wahrend er die Hand auf die Turklinke legte, sah Winston, dafi er das Tagebuch offen auf dem Tisch hatte liegen lassen. „Nieder mit dem Grofien Bruder!" stand da tiber die halbe Seite hinweg in Buchstaben, die beinahe grofi genug waren, um durch das ganze Zimmer leserlich zu sein. Es war eine unvorstellbare Dummheit. Aber er stellte fest, dafi er es sogar in seinem Schrecken nicht tiber sich gebracht hatte, das weifie Papier dadurch zu besudeln, dafi er das Buch zuklappte, solange die Tinte noch nafi war. 25 Er hielt den Atem an und offnete die Tur. Sofort durchflutete ihn eine warme Welle der Erleichterung. Draufien stand eine farblose, zerknittert aussehende Frau mit strahnigem Haar und tiefgefurchtem Gesicht. »Ach, Genosse«, begann sie mit leidender Jammerstimme, »mir war so, als ob ich Sie heimkommen horte. Konnten Sie wohl heruberkommen und sich eben mal unsern Ausguss in der Kuche ansehen? Er ist verstopft und. . .« Es war Frau Parsons, die Frau des Nachbarn auf dem gleichen Flur. (Die Geschlechtsbezeichnung »Frau« wurde von der Partei nicht gern gesehen - man erwartete, dafi man alle Leute mit »Genosse« oder »Genossin« anredete -, aber bei einigen Frauen gebrauchte man das Wort ganz unwillkurlich.) Sie war eine Frau von etwa dreifiig Jahren, sah aber viel alter aus. Man hatte den Eindruck, dafi sich in den Falten ihres Gesichts Staub angesetzt hatte. Winston folgte ihr durch den Gang. Solche eigenhandigen, unfachgemafien Reparaturarbeiten waren eine fast alltagliche Last. Der Victory-Block war ein alter, etwa um das Jahr 1930 gebauter Wohnungskomplex und ging langsam in die Bruche. Dauernd brockelte der Verputz von Decken und Wanden, die Leitungsrohre platzten bei jedem starken Frost, das Dach liefi Wasser durchsickern, sobald es schneite, die Zentralheizung war gewohnlich nur unter halbem Druck, wenn sie nicht aus Sparsamkeitsgrunden ganz abgestellt war. Reparaturen mufiten, wenn man sie nicht selbst machte, von abgelegenen Amtern genehmigt werden, die es fertig brachten, sogar das Wiedereinsetzen einer Fensterscheibe zwei Jahre hinauszuzogern. »Ich komme naturlich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, murmelte Frau Parsons unbestimmt vor sich hin. Die Wohnung der Parsons war grofier als die von Winston und auf eine andere Art schabig. Alles sah hier abgestofien und niedergetrampelt aus, so als seien die Raume eben von einem grofien wilden Tier heimgesucht worden. Sportgerate - Hockeyschlager, Boxhandschuhe, ein aus den Nahten geplatzter 26 Fufiball, eine verschwitzte, umgekrempelte Turnhose - lagen samtlich tiber den Fufiboden verstreut, und auf dem Tisch war ein Durcheinander von schmutzigem Geschirr und eselsohrigen Schulbuchern. An den Wanden hingen knallrote Wimpel der Jugendliga und der sogenannten „Spaher", nebst einem Plakat vom Grofien Bruder in Grofiformat. Auch hier schwebte der ubliche Kohlgeruch, der dem ganzen Haus anhaftete, in der Luft, aber er war von einem scharferen Schweifidunst geschwangert, nach dem Schweifi eines - wie man vom ersten Schnuppern an wufite, wenn man auch schwer den Grund dafur hatte sagen konnen - im Augenblick abwesenden Menschen. In einem andern Zimmer versuchte jemand im Takt der Militarmusik, die noch immer aus dem Televisor drohnte, auf einem Kamm mit daruber gespanntem Toilettenpapier zu blasen. »Es sind die Kinder«, sagte Frau Parsons mit einem halb furchtsamen Blick auf die Tur. »Sie sind heute nicht aus dem Haus gekommen. Und natiirlich . . . « Sie hatte eine Angewohnheit, ihre Satze mittendrin abzubrechen. Der Kuchenausguss war fast bis zum Rand voll mit schmutzig- grunlichem Wasser, das schlimmer als alles andere nach Kohl stank. Winston kniete nieder und untersuchte das gebogene Verbindungsstuck des Ableitungsrohres. Er verabscheute manuelle Arbeit sehr, und es war ihm schrecklich, sich bucken zu mussen, weil das fast immer einen Hustenanfall bei ihm ausloste. Frau Parsons machte ein hilfloses Gesicht. »Freilich, wenn Tom daheim ware, wurde er es im Nu in Ordnung bringen«, meinte sie. »Solche Sachen machen ihm Spafi. Er ist so geschickt mit seinen Handen, wirklich, er ist so geschickt, der Tom.« Parsons war Winstons Kollege im Wahrheitsministerium. Er war ein rundlicher, jedoch sehr beweglicher Mann von entwaffnender Dummheit, ein Klotz voll torichter Begeisterung - einer von diesen ergebenen Gimpeln, die niemals eine Frage stellen und von denen - mehr sogar noch als von der Gedankenpolizei - der Bestand der Partei abhing. Mit funfunddreifiig Jahren war er erst 27 kurzlich sehr ungern aus der Jugendliga ausgeschieden, und ehe er in die Jugendliga aufgeruckt war, hatte er es fertiggebracht, ein Jahr iiber das satzungsgemafi festgesetzte Alter hinaus bei den Spahern zu verbleiben. Im Ministerium wurde er auf einem untergeordneten Posten verwendet, fur den kein Verstand notig war, doch war er andererseits ein fuhrender Mann beim Sportausschufi und alien anderen Ausschussen, denen die Organisation von Gemeinschaftswanderungen, spontanen Demonstrationen, Sparwerbewochen und uberhaupt jede Art freiwilligen Einsatzes unterstand. Er erzahlte einem voll ruhigen Stolzes, wahrend er seiner Pfeife kleine Rauchwolkchen entlockte, dafi er in den letzten vier Jahren jeden Abend im Gemeinschaftshaus erschienen sei. Ein durchdringender Schweifigeruch folgte ihm wie ein unfreiwilliges Zeugnis fur die Angestrengtheit seines Lebens uberallhin und schwebte sogar nach seinem Weggehen noch im Zimmer. »Haben Sie einen Schraubenschlussel?« fragte Winston und machte sich mit der Schraubenmutter am Verbindungsstuck zu schaffen. »Einen Schraubenschlussel«, sagte Frau Parsons und wurde sofort unsicher. »Ich weifi nicht. Vielleicht, dafi die Kinder... « Man horte Schuhgetrampel und einen neuen Trompetenstofi auf dem Kamm, als die Kinder ins Wohnzimmer hereinsturmten. Frau Parsons brachte den Schraubenschlussel. Winston liefi das Wasser ablaufen und entfernte angeekelt den Pfropfen menschlicher Haare, der die Rohre verstopft hatte. Er reinigte seine Hande so gut er konnte in dem kalten Leitungswasser und ging in das andere Zimmer zuruck. »Hande hoch!« schrie eine wilde Stimme. Ein hubscher, robust aussehender Junge von neun Jahren war hinter dem Tisch hervorgesprungen und bedrohte ihn mit seiner automatischen Kinderpistole, wahrend seine um etwa zwei Jahre jungere Schwester mit einem Stuck Holz dieselbe Geste machte. Beide waren mit den kurzen blauen Hosen, den grauen Hemden 28 und dem roten Halstuch bekleidet, aus denen die Uniform der Spaher bestand. Winston hob seine Hande tiber den Kopf, aber mit einem unbehaglichen Gefuhl, denn der Junge gebardete sich so bosartig, als ob es wirklich mehr als ein Spiel war. »Sie sind ein Verrater!« schrie der Junge. »Sie sind ein Gedankenverbrecher! Sie sind ein eurasischer Spion! Ich erschiefie Sie, ich werde Sie vaporisieren, ich werde Sie in die Salzbergwerke verbannen!« Plotzlich sprangen beide um ihn herum und schrien »Verrater!« und »Gedankenverbrecher!«, wobei das kleine Madchen ihrem Bruder jede Bewegung nachmachte. Es war irgendwie erschreckend, gleich den Freudensprungen von Tigerjungen, die bald zu Menschenfressern herangewachsen sein werden. Es war etwas von berechnender Wildheit im Auge des Jungen, ein ganz offensichtliches Verlangen, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewufitsein, schon beinahe grofi genug dazu zu sein. Ein Gliick, dafi er keine richtige Pistole in Handen hielt, dachte Winston. Frau Parsons' Blicke huschten nervos von Winston zu den Kindern und wieder zuruck. In dem besseren Licht des Wohnzimmers bemerkte er voller Mitleid, dafi es tatsachlich Staub war, was sich in ihren Runzeln eingenistet hatte. »Sie sind so laut«, sagte sie. »Sie sind enttauscht, weil sie nicht ausgehen und sich das Hangen ansehen konnen, daher kommt es wohl. Ich bin zu beschaftigt, um mit ihnen hinauszugehen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit heim.« »Warum konnen wir nicht gehen und das Hangen sehen?« briillte der Junge mit seiner kraftigen Stimme. »Hangen sehen! Hangen sehen!« leierte das Madchen, das noch immer herumsprang. Einige eurasische Gefangene, denen Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurden, sollten an diesem Abend im Park gehangt werden, fiel Winston ein. Dergleichen fand etwa einmal im Monat statt und war ein beliebtes Schauspiel. Kinder verlangten immer, dazu mitgenommen zu werden. Er verabschiedete sich 29 von Frau Parsons und ging zur Tur. Er war aber noch keine sechs Stufen die Treppe hinuntergestiegen, als ihn etwas mit furchtbarer Wucht hochst schmerzhaft in den Nacken traf. Es war, als sei ihm ein rotgluhender Draht ins Fleisch gestofien worden. Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Frau Parsons ihren Sohn durch die Wohnungstur hineinzerrte, wahrend der Junge eine Schleuder einsteckte. »Goldstein!« schrie ihm der Junge nach, wahrend sich die Tur hinter ihm schloss. Was Winston am betroffensten machte, war der Ausdruck hilfloser Angst im Antlitz der Frau. Als er in seine Wohnung zuruckgekehrt war, ging er rasch hinter den Televisor und setzte sich wieder an den Tisch. Er rieb seinen immer noch schmerzenden Nacken. Die Musik aus dem Televisor war verstummt. Stattdessen verlas eine forsche militarische Stimme mit einer Art brutalen Behagens eine Beschreibung von der Bewaffnung der neuen Schwimmenden Festung, die soeben zwischen Island und den Faroer-Inseln vor Anker gegangen war. Mit die sen Kindern, dachte Winston, mufite die arme Frau ein Hollenleben haben. Noch ein, zwei Jahre, und sie wurden sie Tag und Nacht nach Anzeichen nachlassender Parteitreue bespitzeln. Fast alle Kinder waren heutzutage schrecklich. Am schlimmsten von allem war jedoch, dafi sie mit Hilfe von solchen Organisationen wie den Spahern systematisch zu unbezahmbaren kleinen Wilden erzogen wurden. Und doch weckte das in ihnen keineswegs die Neigung, sich gegen die Parteidisziplin aufzulehnen. Die Umzuge, die Fahnen, die Wanderungen, das Exerzieren mit Holzgewehren, das Brullen von Schlagworten, die Verehrung des Grofien Bruders - alles das war fur sie ein herrliches Spiel. Ihre ganze Wildheit wurde nach aufien gelenkt, gegen die Systemfeinde, gegen Abweichler, Verrater, Saboteure, Gedankenverbrecher. Es war fur Leute uber dreifiig nahezu normal, vor ihren eigenen Kindern Angst zu haben. Und das mit gutem Grund, denn es verging kaum eine Woche, in der nicht in der Times ein Bericht stand, wie ein lauschender kleiner Angeber 30 - »Kinderheld« lautete die gewohnlich gebrauchte Bezeichnung - eine kompromittierende Bemerkung mit angehort und seine Eltern bei der Gedankenpolizei angezeigt hatte. Der durch das Geschofi der Schleuder verursachte Schmerz war vergangen. Winston griff unentschlossen zum Federhalter und fragte sich, ob ihm wohl noch etwas fur sein Tagebuch einfallen wurde. Plotzlich dachte er von neuem an O'Brien. Vor Jahren - wie lange war es her? Es mufite vor sieben Jahren gewesen sein - hatte er getraumt, er gehe durch ein stockdunkles Zimmer. Und jemand, der seitlich von ihm safi, hatte, als er voruberkam, gesagt: »Wir wollen uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht.« Er sagte das ganz ruhig, fast nebenbei - als eine Feststellung, kein Befehl. Er war weitergegangen, ohne stehen zubleiben. Das selfsame war, dafi damals, im Traum, die Worte keinen grofien Eindruck auf ihn gemacht hatten. Erst spater und allmahlich hatten sie anscheinend eine Bedeutung angenommen. Er konnte sich jetzt nicht mehr erinnern, ob es vor oder nach dem Traum war, dafi er O'Brien zum erstenmal gesehen hatte; so wenig wie er sich entsann, wann er zum erstenmal jene Stimme als die O'Briens identifiziert hatte. Jedenfalls war es fur ihn jetzt die Stimme O'Briens. O'Brien hatte aus der Dunkelheit zu ihm gesprochen. Winston hatte nie genau herausfinden konnen - auch nach dem fluchtigen zweideutigen Blick von heute morgen konnte er dessen nicht sicher sein -, ob O'Brien ein Freund oder ein Feind war. Aber das schien nicht einmal viel auszumachen. Zwischen ihnen herrschte ein Einverstandnis, das wichtiger war als Zuneigung oder Parteizugehorigkeit. »Wir wollen uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht«, hatte er gesagt. Winston wufite nicht, was das zu bedeuten hatte, sondern nur, dafi es sich auf irgendeine Weise bewahrheiten wiirde. Die Stimme aus dem Televisor brach ab. Ein Fanfarenstofi schmetterte klar und schon durch die stille Luft. Die Stimme fuhr 31 rasch und krachzend fort: »Achtung! Achtung! Soeben ist eine Sondermeldung von der Malabar-Front eingetroffen. Unsere Streitkrafte in Sud-Indien haben einen glanzenden Sieg erfochten. Ich bin zu der Durchsage ermachtigt, dafi die kriegerische Operation, von der wir gleich berichten werden, das Kriegsende in errechenbare Nahe rucken durfte. Es folgt jetzt die Sondermeldung. . . " Das bedeutet nichts Gutes, dachte Winston. Und tatsachlich, nach einer blutrunstigen Schilderung der vollstandigen Vernichtung einer eurasischen Armee, bei der riesige Zahlen von Toten und Gefangenen genannt wurden, kam die Ankundigung, dafi ab nachster Woche die Schokoladeration von dreifiig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden sollte. Winston mufite noch einmal aufstofien. Die Wirkung des Gins verfluchtigte sich und liefi ein Gefuhl der Erschlaffung zuruck. Der Televisor stimmte - vielleicht um den Sieg zu feiern, oder aber um die Erinnerung an die Schokoladenkurzung zu ubertonen - die schmetternden Klange von »Ozeanien, mein Land, fur Dich mit Herz und Hand« an. Vom Zuhorer wurde erwartet, dafi er dabei stramme Haltung annahm. Aber an seinem derzeitigen Platz war Winston nicht sichtbar. Die Hymne wurde von leichterer Musik abgelost. Winston trat ans Fenster, mit dem Rucken zum Televisor. Der Tag war noch immer kalt und klar. Irgendwo in der Feme explodierte eine Raketenbombe mit dumpfem, widerhallendem Drohnen. Zurzeit fielen wochentlich etwa zwanzig bis dreifiig Stuck auf London. Drunten auf der Strafie klappte der Wind das zerrissene Plakat hin und her, und das Wort Engsoz war abwechselnd sichtbar und unsichtbar. Die heiligen politischen Grundsatze von Engsoz: Neusprech, Doppeldenk, die Verwandlung der Vergangenheit. Ihm war, als wandle er durch Walder auf dem Meeresgrund, in eine ungeheuerliche Welt verirrt, in der er selbst das Ungeheuer war. Er war allein. Die Vergangenheit war tot, die Zukunft unvorstellbar. Welche Gewifiheit hatte er, dafi auch nur ein einziger lebender Mensch auf seiner Seite stand? Und warum 32 sollte die Herrschaft der Partei nicht ewig dauern? Wie eine Art Antwort fielen ihm die drei Wahlspruche auf der weifien Front des Wahrheits-Ministeriums ein: KRIEG BEDEUTET FRIEDEN FREIHEIT 1ST SKLAVEREI UNWISSENHEIT 1ST STARKE Er zog ein Funfundzwanzig-Cent-Stuck aus der Tasche. Auch hier waren in winziger, klarer Schrift die gleichen Devisen eingestanzt, wahrend die Kehrseite der Miinze den Kopf des Grofien Bruders zeigte. Sogar auf der Miinze verfolgten einen die Augen. Von Geldmunzen, Briefmarken, Bucheinbanden, Fahnen, Plakaten, Zigarettenschachteln - von uberall verfolgten sie einen. Immer wurde man von den Augen beobachtet, von der Stimme eingehullt. Im Wachen und im Schlafen, bei der Arbeit oder beim Essen, im Haus oder aufier Haus, im Bad oder im Bett - es gab kein Entrinnen. Nichts gehorte einem aufier den paar Kubikzentimetern im eigenen Schadel. Die Sonne war weitergeruckt, und die unzahligen Fenster des Wahrheits-Ministeriums, auf die ihre Strahlen nicht mehr fielen, sahen grimmig wie die Schiefischarten einer Festung aus. Winstons Herz verzagte angesichts dieser riesig sich hochturmenden Pyramide. Die Pyramide - dieses Symbol wurde von den Herren Ozeaniens haufig verwendet, wie es Winston kurz in den Sinn kam. Dieser Betonmoloch war zu unerschutterlich, um ersturmt zu werden, tausend Raketenbomben vermochten ihn nicht zu zertrummern. Wieder fragte er sich, fur wen er sein Tagebuch schrieb. Fur die Zukunft, fur die Vergangenheit - fur ein Zeitalter, das vielleicht nur ein Traum war. Ihn erwartete nicht allein der Tod, sondern vollstandige Austilgung. Das Tagebuch wurde zu Asche, er selbst zu blofiem Rauch verbrannt werden. Nur die Gedankenpolizei wurde das von ihm Geschriebene lesen, ehe sie 33 es aus der Welt und aus der Erinnerung tilgte. Wie konnte man an die Zukunft appellieren, wenn keine Spur von einem, nicht einmal ein Stuckchen Papier mit ein paar darauf gekritzelten anonymen Worten hinubergerettet werden konnte? Im Televisor schlug es vierzehn Uhr. In zehn Minuten mufite er aufbrechen. Urn vierzehn Uhr dreifiig mufite er zuruck an der Arbeit sein. Merkwurdigerweise schien ihn das Schlagen der vollen Stunde mit neuem Mut erfullt zu haben. Er war ein einsamer Gast auf dieser Erde, der eine Wahrheit verkundete, die niemand jemals horen wurde. Aber solange er sie verkundete, war auf eine geheimnisvolle Weise der rote Faden nicht abgerissen. Nicht indem man sich Gehor verschaffte, sondern indem man sich unversehrt bewahrte, gab man das Erbe der Menschheit weiter. Er kehrte an den Tisch zuruck, tauchte seine Feder ein und schrieb: »Einer Zukunft oder einer Vergangenheit, in der Gedankenfreiheit herrscht, in der die Menschen voneinander verschieden sind und nicht jeder fur sich lebt - einer Zeit, in der es Wahrheit gibt und das Geschehene nicht ungeschehen gemacht werden kann, schicke ich diesen Grufi aus einem Zeitalter der Gleichmachung und der Vereinsamung, dem Zeitalter des Grofien Bruders, dem Zeitalter des Zwiegedankens.« Er war bereits tot, uberlegte er. Es schien ihm, als habe er erst jetzt, seit er angefangen hatte, seine Gedanken formulieren zu konnen, den entscheidenden Schritt getan. Die Folgen jeder Handlung sind schon in der Handlung selbst beschlossen. Er schrieb: »Das Gedankenverbrechen zieht nicht den Tod nach sich: das Gedankenverbrechen ist der Tod!« Jetzt aber, seit er sich als einen toten Mann betrachtete, wurde es wichtig, so lange wie moglich am Leben zu bleiben. Zwei Finger seiner rechten Hand waren mit Tinte bekleckst. Gerade durch eine solche Kleinigkeit konnte man sich verraten. Ein schnuffelnder fanatischer Eiferer im Ministerium (vermutlich 34 eine Frau: so jemand wie die kleine Aschblonde oder das schwarzhaarige Madchen aus der Literatur-Abteilung) konnte sich zu wundern anfangen, warum er wahrend der Mittagspause geschrieben, warum er eine altmodische Stahlfeder benutzt und was er geschrieben hatte - um dann an zustandiger Stelle einen Wink zu geben. Er ging ins Badezimmer und schrubbte die Tintenflecke sorgfaltig mit der sandigen dunkelbraunen Seife, die einem die Hand wie Schmirgelpapier aufscheuerte und deshalb fur seinen Zweck geeignet war. Er legte sein Tagebuch in die Schublade. Der Gedanke, es zu verstecken, war vollig sinnlos, aber er konnte wenigstens Vorkehrungen treffen, um sich zu vergewissern, ob es entdeckt worden war. Ein zwischen die Seiten gelegtes Haar war zu augenfallig. Mit der Fingerspitze pickte er ein gerade noch erkennbares weifiliches Staubkornchen auf und legte es auf die Ecke des Einbands, wo es herunterfallen mufite, wenn jemand das Buch beruhrte. Drittes Kapitel Winston traumte von seiner Mutter. Er mufite, so uberlegte er, zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als seine Mutter verschwunden war. Sie war eine grofie, wurdevolle, ziemlich stille Frau mit gemessenen Bewegungen und wundervollen blonden Haaren gewesen. Seinen Vater hatte er undeutlicher in Erinnerung: dunkelhaarig und hager, immer in eleganten dunklen Anzugen (Winston entsann sich insbesondere seiner sehr dunnen Schuhsohlen) und mit einer Brille. Die beiden mufiten offenbar bei einer der ersten grofien Sauberungsaktionen urns Leben gekommen sein. Im Traum safi seine Mutter an einem Platz tief unter ihm, seine 35 kleine Schwester in den Armen. Er erinnerte sich an seine Schwester nur noch als an ein winziges, schwachliches, immer lautloses Kind mit grofien, aufmerksamen Augen. Beide blickten zu ihm empor. Sie befanden sich an einer Stelle unter der Erde - etwa auf dem Grunde eines Ziehbrunnens oder in einem sehr tiefen Grab -, aber der Fleck, auf dem sie safien, sank, obwohl bereits tief unter ihm gelegen, selbst noch immer tiefer nach unten ab. Sie waren in der Kajute eines sinkenden Schiffes und blickten durch das immer dunkler werdende Wasser zu ihm empor. Noch war Luft in der Kajute, noch konnten sie einander sehen, aber die ganze Zeit sanken sie tiefer, immer tiefer hinunter in die grunen Wasser, die sie im nachsten Augenblick fur immer dem Blick entziehen mufiten. Er weilte in Licht und Luft, wahrend sie in den Tod hinuntergezogen wurden, und sie waren dort drunten, weil er hier oben war. Er wufite es, und auch sie wufiten es, und er konnte dieses Wissen in ihren Gesichtern lesen. Es war kein Vorwurf, weder in ihren Gesichtern noch in ihren Herzen, nur das Bewufitsein, dafi sie sterben mufiten, damit er am Leben blieb, und dafi dies zur unausweichlichen Ordnung der Dinge gehorte. Er konnte sich nicht erinnern, was eigentlich geschehen war, aber er wufite in seinem Traum, dafi das Leben seiner Mutter und seiner Schwester irgendwie fur das seine geopfert worden war. Es war einer jener Traume, die in der charakteristischen Verkleidung des Traumes doch eine Fortsetzung des seelischen Erlebens sind und in denen einem Tatsachen und Gedanken zum Bewufitsein kommen, die auch nach dem Erwachen neu und wertvoll erscheinen. Die Erkenntnis, die Winston jetzt plotzlich dammerte, war, dafi der Tod seiner Mutter vor dreifiig Jahren auf eine Weise traurig und tragisch gewesen war, die es heutzutage nicht mehr gab. Tragik, erkannte er, gehorte einer vergangenen Zeit an, als es noch ein Eigenleben, Liebe und Freundschaft gab und die Mitglieder einer Familie, ohne nach dem Grund zu fragen, 36 fureinander eintraten. Die Erinnerung an seine Mutter nagte an seinem Herzen, denn sie war aus Liebe zu ihm gestorben, als er selbst noch zu Jung und eigensuchtig war, um ihre Liebe zu erwidern, und weil sie sich irgendwie - auf welche Weise, erinnerte er sich nicht mehr - einem Treuegedanken geopfert hatte, an den sie personlich und unerschutterlich geglaubt hatte. Derlei konnte heutzutage nicht mehr vorkommen, das begriff er. Heutzutage gab es Angst, Hass und Leid, aber keine starken und wertvollen Gefuhle, keine tiefen und echten Schmerzen mehr. All das schien er in den grofien Augen seiner Mutter und seiner Schwester zu lesen, mit denen sie ihn durch das grime Wasser aus einer Tiefe von vielen hundert Klafter ansahen, dabei immer tiefer versinkend. Plotzlich stand er auf einer abgemahten Wiese, auf der federnden Grasnarbe; es war ein Sommerabend, und die Strahlen der untergehenden Sonne vergoldeten die Erde. Die Landschaft, die er sah, kehrte so oft in seinen Traumen wieder, dafi er nie ganz sicher war, ob er sie nicht in Wirklichkeit gesehen hatte. In seiner wachen Vorstellung nannte er sie das „Goldene Land". Es war eine alte, von Kaninchen bevolkerte Weide, durch die ein Fufipfad lief, mit da und dort einem Maulwurfshugel. In der unregelmafiigen Baumreihe jenseits der Wiese wiegten sich die Zweige der Ulmen leise in der sanften Brise, und ihre Blatter wogten in dichten Buscheln wie Frauenhaar. In der Nahe war, wenn auch aufier Sicht, ein klarer, trage dahinfliefiender Flufi, in dessen seichten Buchten unter den Weidenbaumen sich Weififische tummelten. Das Madchen mit dem dunklen Haar kam tiber die Wiese auf ihn zu. Mit einer einzigen Bewegung riss sie sich das Kleid herunter und warf es verachtlich beiseite. Ihr Leib war weifi und weich, aber er weckte kein Verlangen in ihm, ja er sah ihn kaum an. Was ihn in diesem Augenblick ganz erfullte, war die Bewunderung fur die Gebarde, mit der sie ihre Kleider weggeschleudert hatte. Mit ihrer Grazie und Unbekummertheit schien sie eine ganze Kultur abzutun, eine ganze Denkordnung, so, als konnten der 37 Grofie Bruder, die Partei und die Gedankenpolizei mit einer einzigen herrlichen Armbewegung weggewischt werden. Auch das war eine der alten Zeit angehorende Geste. Winston wachte mit dem Wort »Shakespeare« auf den Lippen auf . Der Televisor liefi einen ohrenbetaubenden Pfeifton horen, der in gleicher Hohe dreifiig Sekunden lang anhielt. Es war Punkt sieben Uhr funfzehn, Zeit zum Aufstehen fur alle Behordenangestellten. Winston walzte seinen Korper aus dem Bett - er schlief nackt, denn ein Mitglied der Aufieren Partei erhielt nur dreitausend Kleiderpunkte im Jahr - und ergriff ein tiber dem Stuhl liegendes graufarbenes Unterhemd und eine kurze Sporthose. In drei Minuten begann die Morgengymnastik. Doch im nachsten Augenblick krummte er sich unter einem heftigen Hustenanfall, der ihn fast immer kurz nach dem Erwachen uberfiel. Seine Lungen wurden dadurch so vollstandig leergepumpt, dafi er erst wieder Atem schopfen konnte, indem er sich der Lange nach auf den Rucken streckte und ein paar tiefe Atemzuge machte. Seine Adern waren unter der Anstrengung des Hustens geschwollen, und die Krampfaderknoten hatten angefangen zu schmerzen. »Gruppe der Dreifiig- bis Vierzigjahrigen!« klaffte eine schrille Frauenstimme. »Gruppe der Dreifiig- bis Vierzigjahrigen. Bitte, auf die Platze! Dreifiig- bis Vierzigjahrige.« Winston nahm stramme Haltung vor dem Televisor an, auf dessen Schirm bereits das Bild einer ziemlich jungen, mageren, aber muskulosen Frau in einem Kittel und Turnschuhen erschienen war. »Arme beugt und streckt!« legte sie los. »Im Takt, bitte! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! Los, Genossen, ein bisschen lebhafter! Eins, zwei, drei, vier! Eins, zwei, drei, vier! . . .« Der von dem Hustenanfall verursachte Schmerz hatte in Winstons Gehirn noch nicht ganz den Eindruck verwischt, den sein Traum auf ihn gemacht hatte, und unter den rhythmischen Bewegungen der Gymnastik wurde dieser wieder lebhafter. 38 Wahrend er mechanisch seine Arme beugte und streckte, wobei sein Gesicht den beflissen begeisterten Ausdruck zur Schau trug, der fur die Morgengymnastik Vorschrift war, versuchte er sich in Gedanken zuruck in die unklare Zeit seiner fruhen Kindheit zu versetzen. Das war aufierst schwierig. Schon bei den funfziger Jahren trubte sich jede Erinnerung. Wenn es keine aufierlichen Anhaltspunkte gab, an die man sich halten konnte, verlor sogar der Verlauf des eigenen Lebens seine deutlich umreifibare Kontur. Man entsann sich grofier Geschehnisse, die sehr wahrscheinlich gar nicht stattgefunden hatten, erinnerte sich an Einzelheiten von Vorfallen, ohne ihre Atmosphare wiederherstellen zu konnen, und es gab lange leere Zeitabschnitte, mit denen man uberhaupt nichts anzufangen wufite. Damals war alles anders gewesen. Sogar die Namen der Lander und ihre Gestalt auf der Landkarte waren anders gewesen. Luftflottenstutzpunkt Nr. 1 zum Beispiel hatte zu der Zeit als es noch Nationen gab eine andere Bezeichnung gehabt: er hatte England oder Grofibritannien geheifien, wenn auch London, wie er ziemlich sicher zu sein glaubte, immer London genannt worden war. Winston konnte sich nicht genau an einen Zeitpunkt erinnern, in dem seine Heimat nicht in einen Krieg verwickelt gewesen ware, aber offenbar hatte es doch zwischendurch, wahrend seiner Kindheit, eine ziemlich lange Friedensperiode gegeben; denn eine seiner fruhesten Erinnerungen betraf einen Luftangriff, der fur jedermann vollkommen uberraschend gekommen zu sein schien. Vielleicht handelte es sich um die Zeit, als die Atombombe auf Colchester gefallen war. Er erinnerte sich nicht an den Luftangriff selbst, entsann sich aber, wie die Hand seines Vaters die seinige umklammert hielt, als sie hinunter, immer tiefer und tiefer hinunter an einen Ort tief unter der Erde geeilt waren, immer im Kreis auf einer spiralformigen Treppe, die unter seinen Sohlen leise geklirrt und schliefilich seine Beine so ermudet hatte, dafi er zu jammern begann und sie stehen bleiben und ausruhen 39 mufiten. Die Mutter, in ihrer langsamen, vertraumten Art, kam ein gutes Stuck hinter ihnen drein. Sie trug sein Schwesterchen - oder vielleicht auch nur ein Bundel Decken: er war nicht sicher, ob seine Schwester damals schon geboren war. Endlich waren sie an einen uberfullten Ort gekommen, den er als einen Untergrundbahnhof erkannt hatte. Menschen kauerten uberall auf dem steingepflasterten Fufiboden, und andere safien, dicht zusammengedrangt, ubereinander auf den Eisentragern. Winston, sein Vater und seine Mutter fanden einen Platz auf dem Boden, und dicht neben ihnen safien Seite an Seite ein alter Mann und eine alte Frau auf einem Eisentrager. Der alte Mann hatte einen guten schwarzen Anzug an, eine schwarze Reisemutze war tiber seinem sehr weifien Haar aus der Stirn geruckt; sein Gesicht war blaurot, und seine blauen Augen standen voller Tranen. Er roch heftig nach Gin, den seine Haut an Stelle von Schweifi auszudunsten schien, und man hatte glauben konnen, auch die Tranen, die aus seinen Augen rollten, seien purer Gin. Aber abgesehen von seiner leichten Betrunkenheit, litt er auch unter einem echten und unertraglichen Kummer. In seinem kindlichen Verstand begriff Winston, dafi soeben etwas Schreckliches, etwas Unverzeihliches und nie wieder Gutzumachendes geschehen war. Es schien ihm auch, als wisse er, was es war. Jemand, den der alte Mann lieb hatte, vielleicht eine kleine Enkelin, war getotet worden. Alle paar Augenblicke rief der alte Mann von neuem aus: »Wir hatten ihnen nicht trauen durfen. Hab' ich's nicht immer gesagt, Muttchen? Das hat man davon, dafi man ihnen vertraut hat. Ich hab' es immer gesagt. Wir hatten diesen Lumpen nicht trauen sollen.« Aber welchen Lumpen man nicht hatte trauen sollen, daran konnte sich Winston jetzt nicht mehr erinnern. Seit dieser Zeit namlich war der Krieg buchstablich ein Dauerzustand geworden, wenn es sich auch genaugenommen nicht immer um den gleichen Krieg handelte. Mehrere Monate 40 wahrend seiner Kindheit hatten in London selbst wirre Strafienkampfe getobt, an einige davon erinnerte er sich noch lebhaft. Aber die geschichtliche Entwicklung genau zu verfolgen und zu sagen, wer jemals wen bekampfte, ware vollstandig unmoglich gewesen, denn keine schriftliche Aufzeichnung oder mundliche Uberlieferung erwahnte je eine andere Konstellation als die gegenwartig gultige. So war zum Beispiel in diesem Augenblick, um das Jahr 1984 (man schrieb tatsachlich das Jahr 1984), Ozeanien mit Eurasien im Kriegszustand und mit Ostasien verbundet. In keiner offentlichen oder privaten Verlautbarung wurde je zugegeben, dafi die drei Machte jemals anders gruppiert gewesen seien. In Wirklichkeit war es, wie Winston sehr wohl wufite, erst vier Jahre her, dafi Ozeanien Ostasien bekriegt und mit Eurasien ein Bundnis gehabt hatte. Aber das war nur ein kleiner Schimmer historischen Wissens, den er auch nur besafi, weil seine Erinnerung noch nicht hinreichend kontrollierbar war. Offiziell hatte nie eine Veranderung in der Kombination der Partner stattgefunden. Ozeanien fuhrte mit Eurasien Krieg: also hatte Ozeanien immer mit Eurasien Krieg gefuhrt. Der augenblickliche Feind stellte immer das Bose an sich dar, und daraus folgte, dafi jede vergangene oder zukunftige Verbindung mit ihm undenkbar war. Das Schrecklichste, uberlegte er zum zehntausendstenmal, wahrend er seine Schultern mit schmerzender Anstrengung zuruckrifi (sie machten jetzt, die Hande auf den Huften, einige Rumpfbeugen, eine Ubung, welche die Ruckenmuskeln starken sollte) - das Schrecklichste war, dafi einfach alles wahr oder falsch sein konnte. Wenn die Partei sich so in die Vergangenheit einmischen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, „es habe nie stattgefunden" - war das nicht wirklich furchtbarer als Folter und Tod? Die Partei sagte, Ozeanien sei nie mit Eurasien verbundet gewesen. Er, Winston Smith, wufite seinerseits, dafi Ozeanien noch vor nicht langer als vier Jahren mit Eurasien verbundet 41 gewesen war. Aber wo war dieses Wissen verankert? Nur in seinem eigenen Bewufitsein, das unausweichlich bald in Staub zerfallen mufite. Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Luge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Luge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. Denn die Machtigen kontrollierten die Medien und damit auch das Bewusstsein der Massen. Sie schrieben Geschichte und hatten allein die Mittel dazu. »Wer die Vergangenheit beherrscht«, lautete die Parteiparole, »beherrscht die Zukunft! Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit !« Und doch hatte sich die Vergangenheit, so wandelbar sie von Natur aus sein mochte, nie gewandelt. Das gegenwartig Wahre blieb wahr bis in alle Ewigkeit. Es war ganz einfach. Es war nichts weiter notig als eine nicht abreifiende Kette von Siegen tiber das eigene Gedachtnis. „Wirklichkeitskontrolle" nannten sie es; im Neusprech hiefi es „Doppeldenk". »Ruhrt euch!« klaffte die Vorturnerin, ein wenig freundlicher. Winston liefi die Arme sinken und fiillte seine Lungen langsam mit Luft. Seine Gedanken schweiften in die labyrinthische Welt des Doppeldenk ab. Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollstandigen Vertrauens seiner Horer bewufit zu sein, wahrend man sorgfaltig konstruierte Lugen erzahlte, gleichzeitig zwei einander ausschliefiende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, dafi sie einander widersprachen, und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu fuhren; die Moral zu verwerfen, wahrend man sie fur sich in Anspruch nahm. So behauptete man, Demokratie sei unmoglich, wobei die Partei jedoch zugleich die Huterin der Demokratie war. Und man sollte vergessen, um es sich dann, wenn man es brauchte, wieder ins Gedachtnis zuruckzurufen, und es hierauf erneut prompt wieder zu vergessen; und vor allem, dem Verfahren selbst gegenuber wiederum das gleiche Verfahren anzuwenden. 42 Das war die aufierste Spitzfindigkeit: bewusst die Unbewusstheit vorzuschieben und dann noch einmal sich des eben vollzogenen Hypnoseaktes nicht bewusst zu werden! Allein schon das Verstandnis des Wortes Doppeldenk setzte eine doppelbodige Denkweise voraus. Die Vorturnerin hatte sie wieder zum Stillstehen aufgerufen. »Und jetzt wollen wir mal sehen, wer von uns seine Zehen beruhren kann!« sagte sie betont munter. »Aus den Huften heraus beugt, Genossen. „Eins! Zwei! Eins! Zwei!" Winston war diese Ubung schrecklich, da sie ihm von den Fersen bis ins Gesafi einen stechenden Schmerz verursachte und oft mit einem erneuten Hustenanfall endete. Ihm vergingen die halbwegs freundlichen Gedanken. Die Vergangenheit, uberlegte er, war nicht nur verandert, sondern rundweg ausgeloscht worden. Denn wie konnte man die offensichtlichste Tatsache beweisen, wenn es - aufier in der eigenen Erinnerung - keine andere Aufzeichnung daruber gab? Er versuchte sich zu erinnern, in welchem Jahr er zum erstenmal vom Grofien Bruder gehort hatte. Er glaubte, es mufite im Laufe der sechziger Jahre gewesen sein, aber es war unmoglich, der Tatsache sicher zu sein. In den Geschichtsdarstellungen der Partei figurierte der Grofie Bruder selbstverstandlich als Fuhrer und Huter der Revolution von ihren ersten Anfangen an. Seine Heldentaten waren allmahlich zeitlich zuriickverlegt worden, bis sie bereits in die sagenhafte Welt der vierziger und dreifiiger Jahre zuruckreichten, als die Kapitalisten noch mit ihren seltsamen zylindrischen Huten in grofien schimmernden Automobilen oder Pferdewagen mit seitlichen Glasfenstern durch die Strafien Londons fuhren. Man wufite nicht, wie viel an dieser Legende wahr und wie viel erfunden war. Winston konnte sich nicht einmal erinnern, zu welchem Zeitpunkt die Partei selbst erstmalig in Erscheinung getreten war. Er glaubte nicht, das Wort Engsoz jemals vor dem Jahre 1960 gehort zu haben, aber es war moglich, dafi es in seiner 43 alten Form - namlich als »Englischer Sozialismus« - schon friiher gebrauchlich gewesen war. Alles loste sich in Nebel auf. Manchmal freilich konnte man eine deutliche Luge festnageln. Es war zum Beispiel nicht wahr - wie in den Parteigeschichtsbuchern behauptet wurde -, dafi die Partei die Flugzeuge erfunden hatte. Er erinnerte sich an Flugzeuge von seiner fruhesten Kindheit an. Aber man konnte nichts beweisen. Es gab keinen Beweis. Nur einmal in seinem ganzen Leben hatte er den unverkennbaren dokumentarischen Beweis einer Geschichtsfalschung in Handen gehalten. Und das war damals, als... »Smith!« schrie die giftige Stimme aus dem Televisor. »6079 Smith W.! Ja, Sie meine ich! Tiefer bucken, wenn ich bitten darf! Sie bringen mehr fertig, als was Sie da zeigen. Sie geben sich keine Mtihe. Tie-fer, bitte! So ist es schon besser, Genosse. Ruhren, der ganze Verein, und alle mal herschauen!« Heifier Schweifi war Winston plotzlich am ganzen Korper ausgebrochen. Sein Gesicht blieb vollkommen undurchdringlich. Nur keine Unlust verraten! Niemals entrustet sein! Ein einziges Zucken in den Augen konnte einen verraten. Er stand da und sah aufmerksam zu, wahrend die Vorturnerin ihre Arme tiber den Kopf gehoben hatte und dann - man konnte nicht gerade sagen anmutig, aber mit erstaunlicher Exaktheit und Tuchtigkeit - eine tiefe Rumpfbeuge machte, wobei sie ihre vordersten Fingerglieder unter ihre Zehen schob. »Bitte, Genossen. So mochte ich das bei Ihnen sehen. Schauen Sie mir noch einmal genau zu. Ich bin neununddreifiig und habe vier Kinder. Obacht jetzt!« Sie beugte sich wieder. »Sie sehen, die Knie sind bei mir durchgedruckt. Sie alle konnen das, wenn Sie wollen«, fugte sie hinzu, wahrend sie sich aufrichtete. »Jeder Mensch unter funfundvierzig Jahren ist durchaus imstande, seine Zehenspitzen zu beriihren. Wir haben nicht alle den Vorzug, an der Front kampfen zu durfen, aber wenigstens konnen wir uns alle in bester Form erhalten. Denkt an unsere Jungens an der Malabar- 44 Front! Und an die Matrosen auf den Schwimmenden Festungen! Denkt nur mal daran, was die auszuhalten haben. Jetzt versuchen Sie es noch einmal. So ist's besser, Genosse, so ist's schon viel besser«, fugte sie ermutigend hinzu, als es Winston in einer heftigen Tauchbewegung zum erstenmal in mehreren Jahren gelang, mit durchgedruckten Knien seine Zehen zu beruhren. Viertes Kapitel Mit dem tiefen, unbewussten Seufzer, den bei Beginn seiner Tagesarbeit auszustofien ihn nicht einmal die Nahe des Televisors hindern konnte, zog Winston den Sprechschreiber an sich heran, blies den Staub aus dem Mundstuck und setzte seine Brille auf. Dann offnete er vier kleine Papierrollen, die bereits aus der Rohrpost an der rechten Seite seines Schreibtisches herausgeschossen waren, und heftete sie mit Klammern zusammen. In den Wanden des Buroraumes waren drei Locher angebracht. Rechts von dem Sprechschreiber eine kleine Rohrpostrohre fur schriftliche Mitteilungen; links eine grofiere fur Zeitungen; und in der Seitenwand, fur Winston in bequemer Reichweite, ein grofier, durch ein Klappgitter geschutzter langlicher Schlitz. Dieser Schlitz diente als Papierkorb, und ahnliche Schlitze waren zu Tausenden oder Zehntausenden tiber das ganze Gebaude verteilt, nicht nur in jedem Zimmer, sondern in kurzen Abstanden auf jedem Gang. Aus irgendeinem Grunde hiefien sie die „Gedachtnis-L6cher". Wufite man, dafi ein Dokument zur Vernichtung bestimmt war, oder sah man auch nur ein Stuck Abfallpapier herumliegen, war es eine automatische Handlung, das Schutzgitter des nachstbesten Gedachtnis-Loches hochzuklappen und das Papier hineinzuwerfen, woraufhin es 45 von einem warmen Luftstrom zu den riesigen Verbrennungsofen fortgewirbelt wurde, die in den geheimen Tiefen des Gebaudes verborgen waren. Winston las die vier Zettel, die er aufgerollt hatte. Jeder enthielt eine nur eine oder zwei Zeilen umfassende Botschaft in dem abgekurzten Jargon, der im Ministerium fur interne Zwecke benutzt wurde und der nicht eigentlich aus der Neusprech bestand, aber viele einzelne Worte der Neusprech enthielt. Sie lauteten: „Times vom 17. 3. 84: G B Rede Fehlbericht Afrika rechtstellt. Times vom 19. 12. 83: Voraussagen 3 jp 4. Quartal 83 Falschdruck verbessert Neuausgabe. Times vom 14. 2. 84: Miniflu fehlzitiert Schokolade rechtstellt. Times vom 3. 12. 83: Bericht GB Tagesbefehl doppelplusungut nennt Unpersonen totalumschreibt anteordner." Mit einem leisen Gefuhl der Befriedigung legte Winston die letzte Botschaft beiseite. Es war eine verzwickte und verantwortungsvolle Aufgabe und besser erst am Schluss zu erledigen. Die anderen drei waren Routineangelegenheiten, wenn auch die zweite vermutlich ein langweiliges Durchackern von Zahlenlisten erfordern wurde. Winston schaltete auf dem Televisor »Fruhere Nummern« ein und verlangte die entsprechenden Ausgaben der Times, die schon nach ein paar Augenblicken aus der Rohrpostanlage herausglitten. Die Botschaften, die er erhalten hatte, bezogen sich auf Zeitungsartikel oder Meldungen, die aus diesem oder jenem Grunde zu andern oder, wie die offizielle Phraseologie lautete, „richtigzustellen" fur notig befunden wurde. So ging z. B. aus der Times vom 17. Marz hervor, dafi der Grofie Bruder in seiner Rede am Tage vorher prophezeit hatte, die Sudindien-Front wurde ruhig bleiben, aber in Nordafrika wiirde bald eine eurasische Offensive losbrechen. In Wirklichkeit jedoch hatte das eurasische Oberkommando seine Offensive in Sudindien angesetzt, und in Afrika hatte Ruhe geherrscht. Deshalb mufite eine neue Fassung der Rede des Grofien Bruders geschrieben werden, die eben das voraussagte, was wirklich 46 eingetreten war. Im zweiten Falle hatte die Times vom 19. Dezember die offiziellen Voraussagen der Produktion verschiedener Gebrauchsguter wahrend des vierten Quartals von 1983 publiziert, das gleichzeitig das 6. Quartal des neunten Dreijahresplans war. Die heutige Ausgabe enthielt einen Bericht der tatsachlichen Produktion, aus dem hervorging, dafi die Voraussagen in jeder Sparte grob unrichtig waren. Winstons Aufgabe bestand nun darin, die ursprunglichen Zahlen richtig zustellen, indem er sie mit den spateren in Ubereinstimmung brachte. Was die dritte Botschaft betraf, so bezog sie sich auf einen ganz einfachen Irrtum, der in ein paar Minuten eingerenkt werden konnte. Noch im Februar hatte das Ministerium fur Uberflufi ein Versprechen verlautbaren lassen (eine »kategorische Garantie« hiefi der offizielle Wortlaut), dafi wahrend des Jahres 1984 keine Kurzung der Schokoladeration vorgenommen werden wurde. In Wirklichkeit sollte, wie Winston nun wufite, Ende dieser Woche die Schokoladeration von dreifiig auf zwanzig Gramm herabgesetzt werden. Man brauchte nun nichts weiter zu tun, als statt des ursprunglichen Versprechens eine warnende Aufierung zu unterschieben, dafi es vermutlich notig sein wiirde, die Ration im Laufe des Monats April zu kurzen. Nachdem Winston von jeder der Botschaften Kenntnis genommen hatte, heftete er seine sehsprechgeschriebenen Korrekturen an die jeweilige Ausgabe der Times und steckte sie in den Rohrpostzylinder. Dann knullte er, mit einer fast vollig unbewufiten Bewegung, die ursprungliche Meldung und alle von ihm selbst gemachten Notizen zusammen und warf sie in das Gedachtnis-Loch, um sie von den Flammen verzehren zu lassen. Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, in dem die Rohrpostrohren zusammenliefen, wufite er nicht im einzelnen, sondern nur in grofien Umrissen. Wenn alle Korrekturen, die in einer Nummer der Times notig geworden waren, gesammelt und kritisch miteinander verglichen worden waren, wurde diese 47 Nummer neu gedruckt, die ursprungliche vernichtet und an ihrer Stelle die richtiggestellte Ausgabe ins Archiv eingereiht. Dieser dauernde Umwandlungsprozefi vollzog sich nicht nur an den Zeitungen, sondern auch an Buchern, Zeitschriften, Broschuren, Plakaten, Flugblattern, Filmen, Liedertexten, Karikaturen - an jeder Art von Literatur, die irgendwie von politischer oder ideologischer Bedeutung sein konnte. Einen Tag um den anderen und fast von Minute zu Minute wurde die Vergangenheit mit der Gegenwart in Einklang gebracht. Auf diese Weise konnte fur jede von der Partei gemachte Vorhersage der dokumentarische Beweis erbracht werden, dafi sie richtig gewesen war; auch wurde nie geduldet, dafi man eine Verlautbarung oder Meinungsaufierung aufhob, die den augenblicklichen Gegebenheiten widersprach. Die ganze Historie stand so gleichsam auf einem auswechselbaren Blatt, das genauso oft, wie es notig wurde, radiert und neu beschrieben werden konnte. In keinem Fall ware es moglich gewesen, nach Durchfuhrung des Verfahrens nachzuweisen, dafi eine Falschung vorgenommen worden war. Die grofite Gruppe der Abteilung Registratur, weit grofier als die Winstons, bestand aus Personen, deren Aufgabe lediglich war, alle Ausgaben von Buchern, Zeitungen und anderen Druckerzeugnissen ausfindig zu machen und zu sammeln, die aufier Gebrauch gesetzt und vernichtet werden mufiten. Eine Nummer der Times, die vielleicht infolge von Anderungen in der politischen Gruppierung oder der vom Grofien Bruder ausgesprochenen irrtumlichen Prophezeiungen ein Dutzend Mai neu abgefafit worden war, stand noch immer mit ihrem ursprunglichen Datum versehen in ihrem Regal, und es gab auf der ganzen Welt keine andere Ausgabe, die mit ihr in Widerspruch hatte stehen konnen. Auch Bucher wurden immer wieder aus dem Verkehr gezogen und neu geschrieben und ohne jeden Hinweis auf die vorgenommenen Veranderungen neu aufgelegt. Sogar die geschriebenen Weisungen, die Winston erhielt und deren er sich in jedem Fall nach Gebrauch sofort 48 entledigte, sprachen nie aus oder liefien durchblicken, dafi eine Falschung vorgenommen werden sollte: immer wurde nur von Weglassungen, Irrtumern, Druckfehlern oder falschen Zitaten gesprochen, die im Interesse der Genauigkeit richtiggestellt werden mufiten. In Wirklichkeit, so dachte er, wahrend er die Ziffern der Angaben des Ministeriums fur Uberflufi neu einsetzte, war es auch nicht einmal eine Falschung. Es war lediglich die Einsetzung eines Unsinns an Stelle eines anderen. Der grofite Teil des Materials, das man bearbeitete, hatte keinerlei Relation zur Wirklichkeit, nicht einmal die Relation, die eine direkte Luge zur Wahrheit hat. Die Statistiken waren in ihrer ursprunglichen Fassung genauso wohl eine Ausgeburt der Phantasie wie in ihrer berichtigten Form. Sehr haufig wurde erwartet, dafi man sie nach eigenem Ermessen zurechtstutzte. So hatten zum Beispiel die Voraussagen des Ministeriums fur Uberflufi die Schuhproduktion fur ein Vierteljahr auf 145 Millionen Paare geschatzt. Die tatsachliche Produktion wurde mit 62 Millionen angegeben. Winston jedoch setzte, als er die Vorhersage neu schrieb, dafur 57 Millionen ein, um so die ubliche Behauptung zu ermoglichen, die Quote sei ubererfullt worden. In jedem Fall aber kamen zweiundsechzig Millionen der Wahrheit nicht naher als siebenundfunfzig oder einhundertfunfundvierzig Millionen. Sehr wahrscheinlich waren uberhaupt keine Schuhe produziert worden. Noch wahrscheinlicher war es, dafi niemand wufite, wie viel Schuhe produziert worden waren, oder dafi sich uberhaupt niemand darum kummerte. Man wufite nur so viel, als dafi jedes Vierteljahr auf dem Papier astronomische Zahlen von Schuhen produziert wurden, wahrend etwa die Halfte der Bevolkerung Ozeaniens barfufi lief. Und so war es mit jeder Gattung berichteter Tatsachen, ob es sich nun um grofie oder kleine handelte. Alles loste sich in einer Welt des leeren Scheins auf, in der zuletzt sogar die gultige Jahreszahl unsicher geworden war. Winston warf einen Blick durch den Saal. Auf dem entsprechenden Platz auf der anderen Seite ging 49 ein kleiner, pedantischer, dunkelhautiger Mann namens Tillotson beflissen seiner Arbeit nach, eine entfaltete Zeitung auf den Knien, den Mund ganz dicht an der Muschel des Sprechschreibers. Er sah so aus, als versuche er, was er sagte, als Geheimnis zwischen ihm und dem Televisor zu bewahren. Er blickte auf, und seine Brille warf ein feindseliges Aufblitzen zu Winston hertiber. Winston kannte Tillotson kaum und hatte keine Ahnung, mit welcher Arbeit er beschaftigt war. Die Angestellten der Registratur sprachen nicht gerne tiber ihre Tatigkeit. In dem langen, fensterlosen Saal mit seiner doppelten Reihe von Nischen und seinem endlosen Rascheln von Papier und Summen von Stimmen, die in die Sprechschreiber sprachen, safien ein gutes Dutzend Menschen, die Winston nicht einmal dem Namen nach kannte, obwohl er sie tagtaglich auf den Gangen hin und her eilen oder wahrend der Zwei-Minuten-Hass-Sendung gestikulieren sah. Er wufite, dafi in der Nische neben ihm die kleine Frau mit dem aschblonden Haar tagein, tagaus damit beschaftigt war, aus der Presse die Namen von Menschen herauszusuchen und zu streichen, die vaporisiert worden waren und die man infolgedessen so behandelte, als hatten sie niemals existiert. Darin lag eine gewisse Abgebruhtheit, denn erst vor zwei Jahren war ihr eigener Mann vaporisiert worden. Ein paar Nischen weiter safi ein milder, untuchtiger, vertraumter Mensch namens Ampleforth, mit stark behaarten Ohren und einem erstaunlichen Talent, mit Reimen und Versmafien zu jonglieren, der dazu angestellt war, geanderte Texte - »endgultige Fassungen«, wie es hiefi - von Gedichten herzustellen, die ideologisch anstofiig geworden waren, die man aber aus diesem oder jenem Grunde in den Gedichtsammlungen beibehalten wollte. Und dieser Saal mit seinen etwa funfzig Angestellten war nur eine Unterabteilung Registratur. Neben, tiber und unter ihnen waren andere Schwarme von Angestellten mit einer unvorstellbaren Vielfalt von Arbeiten beschaftigt. Da 50 waren die grofien Druckereien mit ihren Hilfsredakteuren, ihren drucktechnischen Fachleuten und ihren hervorragend ausgestatteten Ateliers fur Falschungen von Photographien. Da war die Tele-Programm-Abteilung mit ihren Ingenieuren, ihren Produktionsleitern und ihrem Stab von Schauspielern, die speziell im Hinblick auf ihr Imitationstalent ausgewahlt worden waren. Da gab es die Heerscharen von Bibliothekaren, deren Aufgabe lediglich darin bestand, Listen von Buchern und Zeitschriften aufzustellen, von denen eine Neuauflage hergestellt werden mufite. Da waren die grofien Lagerraume, in denen die korrigierten Druckerzeugnisse aufbewahrt, und die versteckten Verbrennungsanlagen, in denen die ursprunglichen Ausgaben vernichtet wurden. Und irgendwo safien ganz anonym die leitenden Hirne, die den ganzen Betrieb koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten, nach denen dieses Bruchstuck der Vergangenheit aufbewahrt, jenes gefalscht und ein anderes aus der Welt geschafft wurde. Und doch war die Registraturabteilung als solche nur ein einzelner Zweig des Wahrheitsministeriums, dessen Hauptaufgabe ja nicht darin bestand, die Vergangenheit entsprechend zu frisieren, sondern die Burger Ozeaniens mit Zeitungen, Filmen, Lehrbuchern, Televisor-Programmen, Theaterstucken, Romanen - mit jeder nur vorstellbaren Art von Nachrichten, Belehrung oder Unterhaltung zu versorgen, von Denkmalern angefangen bis zum taglichen Kernspruch, vom lyrischen Gedicht bis zur biologischen Abhandlung, von der Kinderfibel bis zum Worterbuch der Neusprech. Und das Ministerium mufite nicht nur die mannigfachen Bedurfnisse der Partei befriedigen, sondern den ganzen Arbeitsgang noch einmal auf dem niedrigeren Niveau des Proletariats wiederholen. Es gab eine Reihe von besonderen Abteilungen, die sich mit der proletarischen Literatur, mit Musik, Theater und Variete fur Proletarier befafiten. Dort wurden minderwertige Zeitungen, die fast nichts als Sport, Verbrechen und astrologische Ratschlage enthielten, reifierische 51 Funf-Cent-Romane, von Sexualitat strotzende Filme und sentimentale Schlager hergestellt, die vollkommen mechanisch mit Hilfe einer Art Kaleidoskop, des sogenannten „Versificators", abgefafit wurden. Es gab sogar eine ganze Unterabteilung - „Porno-Ro" hiefi sie in der Neusprech -, die sich mit der massenhaften Erzeugung der niedrigsten Art von Pornographie befafite, die in versiegelten Verpackungen versandt wurde und von keinem Parteimitglied, aufier den in der betreffenden Abteilung beschaftigten, betrachtet werden durfte. Drei Mitteilungen waren aus der Rohrpostanlage geglitten, wahrend Winston an der Arbeit war; aber es handelte sich um einfache Dinge, und er hatte sie erledigt, ehe er durch die Zwei-Minuten-Hass-Sendung unterbrochen wurde. Als die Hassovation zu Ende war, ging er in seine Nische zuruck, schob den Sprechschreiber auf die Seite, putzte seine Brille und machte sich an die Hauptarbeit, die er an diesem Morgen zu bewaltigen hatte. Winstons grofite Freude im Leben war seine Arbeit. Das meiste war langweilige Routine, aber es gab doch auch so schwierige und knifflige Aufgaben darunter, dafi man sich darin wie in den Tiefen mathematischer Probleme verlieren konnte - feine Falschungen, bei denen man von nichts anderem geleitet wurde als seiner Kenntnis der Prinzipien des Engsoz und dem eigenen Einfuhlungsvermogen dafur, was die Partei von einem erwartete. Winston war in diesen Dingen tuchtig. Gelegentlich war er sogar mit der Umarbeitung von vollig in der Neusprech verfafiten Leitartikeln der Times betraut worden. Er rollte die Mitteilung auf, die er vorher beiseite gelegt hatte: „Times vom 3. 12. 83: Bericht GB Tagesbefehl doppelplusungut nennt Unpersonen totalumschreibt anteordner." In der alten umstandlichen Sprache hiefi das ungefahr soviel wie: Der Bericht uber den Tagesbefehl des Grofien Bruders in der Times vom 3. Dezember 1983 ist aufierst unbefriedigend und erwahnt heute nicht mehr lebende Personen. Noch einmal vollig 52 neu schreiben und Ihren Entwurf an hoherer Stelle vorlegen, ehe er im Archiv abgelegt wird. Winston las den beanstandeten Artikel durch. Der Tagesbefehl des Grofien Bruders hatte offenbar hauptsachlich in einem Loblied auf die Leistung einer als SFZZ bekannten Organisation bestanden, die fur die Matrosen auf den Schwimmenden Festungen Zigaretten und andere Zubehore des taglichen Lebens lieferte. Ein gewisser Genosse Withers, ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, war mit namentlicher Erwahnung geehrt und mit der Zweiten Klasse des Ordens fur besondere Verdienste ausgezeichnet worden. Drei Monate spater war die SFZZ plotzlich ohne Bekanntgabe eines Grundes aufgelost worden. Man durfte annehmen, dafi Withers und seine Geschaftsteilhaber jetzt in Ungnade gefallen waren, jedoch war in der Presse oder durch den Televisor kein Bericht daruber erfolgt. Das war zu erwarten gewesen, da es nicht ublich war, politische Sunder vor Gericht zu stellen oder offentlich anzuklagen. Die grofien Sauberungsaktionen, bei denen es sich um Tausende von Menschen handelte, mit offentlichen Verhandlungen von Verratern und Gedankenverbrechern, die dann Gestandnisse ihrer abscheulichen Verbrechen ablegten und darauf hingerichtet wurden, waren besondere Schaustellungen, die nicht offer als einmal alle Jahre stattfanden. Gewohnlich verschwanden Menschen, die sich das Mififallen der Partei zugezogen hatten, ganz einfach, und man horte nie wieder etwas von ihnen. Man erhielt nie auch nur die leiseste Andeutung, was aus ihnen geworden war. In manchen Fallen waren sie vielleicht nicht einmal tot. Etwa dreifiig Menschen, die Winston personlich gekannt hatte, abgesehen von seinen Eltern, waren im Laufe der Zeit auf diese Weise verschwunden. Winston schubberte sich mit einer Heftklammer die Nase. In der Nische jenseits des Ganges safi Genosse Tillotson noch immer geheimnistuerisch uber seinen Sprechschreiber gebeugt. Er hob einen Augenblick den Kopf: wieder das feindselige Blitzen der 53 Brille. Winston fragte sich, ob Genosse Tillotson mit der gleichen Arbeit wie er beschaftigt war. Das war durchaus moglich. Ein so kniffliges Stuck Arbeit wurde niemals nur einem Sachbearbeiter anvertraut werden: es andererseits einem Ausschufi vorzulegen, ware mit dem offentlichen Eingestandnis gleichbedeutend gewesen, dafi eine Falschung vorgenommen werden sollte. Sehr wahrscheinlich bemuhte sich jetzt ein ganzes Dutzend Menschen darum, die beste Abwandlung von dem zu finden, was der Grofie Bruder in Wirklichkeit gesagt hatte. Und bald darauf wurde dann ein Grofikopfeter aus der Inneren Partei diese oder jene Fassung auswahlen, sie erneut herausgeben und das komplizierte Getriebe der notwendig werdenden Richtigstellung auf anderen Gebieten in Gang setzen, worauf die ausgewahlte Luge ins Archiv eingehen und zu Wahrheit werden wurde. Winston wufite nicht, warum Withers in Ungnade gefallen war. Vielleicht wegen Bestechlichkeit oder wegen Unfahigkeit. Vielleicht wollte sich auch der Grofie Bruder lediglich eines allzu beliebten Untergebenen entledigen. Vielleicht hatte Withers oder ein ihm Nahestehender sich ketzerischer Ansichten verdachtig gemacht. Oder vielleicht - und das war das Allerwahrscheinlichste - war das Ganze nur geschehen, weil Sauberungsaktionen und Vaporisierungen nun einmal zu den notwendigen Mafinahmen der Regierungsmaschinerie gehorten. Der einzige Schlussel lag in den Worten »nennt Unpersonen«, was darauf hinwies, dafi Withers bereits tot war. Man konnte nicht ein fur allemal annehmen, dafi dies der Fall war, wenn Menschen festgenommen wurden. Manchmal wurden sie wieder entlassen und ein oder zwei Jahre in Freiheit geduldet, ehe sie hingerichtet wurden. Ganz unvermutet trat ein Mensch, den man seit langem fur tot gehalten hatte, bei einer offentlichen Gerichtsverhandlung wieder in gespenstische Erscheinung, wo er dann Hunderte andere durch seine Zeugenaussage belastete, ehe er, diesmal fur immer, von der Bildflache verschwand. 54 Withers jedoch war bereits eine Unperson. Er war nicht vorhanden: er war nie vorhanden gewesen. Winston entschied, es geniige nicht, einfach die Tendenz der Rede des Grofien Bruders auf den Kopf zu stellen. Es war besser, man liefi sie von etwas handeln, das uberhaupt nichts mit ihrem ursprunglichen Thema zu tun hatte. Er konnte die Rede in die ubliche Anklage gegen Verrater und Gedankenverbrecher verwandeln, aber das war ein bifichen zu naheliegend; andererseits wurde es die Registratur zu sehr uberlasten, wenn man einen Sieg an der Front oder einen Triumph der Uberproduktion wahrend des neunten Dreijahresplanes erfinden wollte. Das Richtigste war schon ein reines Phantasiegebilde. Plotzlich schwebte ihm, fix und fertig, die Phantasiegestalt eines gewissen Genossen Ogilvy vor, der vor kurzem unter heldenhaften Umstanden im Kampf gefallen war. Manchmal kam es vor, dafi der Grofie Bruder seinen Tagesbefehl dem Gedachtnis eines einfachen, dem Mannschaftsstand angehorenden Parteimitglieds widmete, dessen Leben und Sterben er als ein der Nachahmung wurdiges Beispiel hinstellte. An diesem 3. Dezember also sollte er des Genossen Ogilvy gedenken. Zwar gab es keinen Menschen dieses Namens auf der Welt, aber ein paar gedruckte Zeilen und zwei gefalschte Photographien wurden ihn schnell und ohne grofie Mtihe ins Leben rufen. Winston uberlegte einen Augenblick, zog dann den Sprechschreiber zu sich heran und begann in dem vertrauten Stil des Grofien Bruders zu diktieren. Dieser Stil, zugleich militarisch und pedantisch, war infolge eines Kniffes, Fragen zu stellen und sie sofort zu beantworten (»Welche Lehre lernen wir daraus, Genossen? Die Lehre, die auch eines der Grundprinzipien von Engsoz ist, namlich dass...«), sehr leicht nachzuahmen. Im Alter von drei Jahren hatte Genosse Ogilvy kein anderes Spielzeug als eine Trommel, eine Maschinenpistole und ein Flugzeugmodell in die Hand nehmen wollen. Sechsjahrig war er - infolge einer besonderen Genehmigung ein Jahr fruher, als nach 55 den Statuten zulassig - den Spahern beigetreten; mit neun Jahren war er Truppftihrer geworden. Mit elf hatte er seinen Onkel bei der Gedankenpolizei angezeigt, nachdem er eine Unterhaltung belauscht hatte, die ihm verbrecherische Tendenzen zu haben schien. Mit siebzehn war er Bezirksleiter der Jugendliiga gegen Sexualitat geworden. Mit neunzehn hatte er eine Handgranate erfunden, die vom Friedensministerium ubernommen und bei ihrer ersten Versuchsweisen Anwendung mit einem Schlag einunddreifiig eurasische Gefangene getotet hatte. Mit dreiundzwanzig war er im Kampf gefallen. Von feindlichen Dusenjagern auf einem Flug mit wichtigen Depeschen tiber dem Indischen Ozean verfolgt, hatte er den eigenen Leib mit dem Bord-MG beschwert und war samt den Depeschen aus dem Flugzeug ins Meer gesprungen - ein Tod, sagte der Grofie Bruder, den man unmoglich ohne Neidgeftihle betrachten konnte. Der Grofie Bruder ftigte ein paar Worte tiber die Lauterkeit und Untadeligkeit von Genosse Ogilvys Leben hinzu. Er war ein vollstandiger Abstinenzler und Nichtraucher gewesen, hatte keine andere Erholung als eine tagliche Stunde auf dem Turnplatz gekannt und das Geltibde abgelegt, unverheiratet zu bleiben, da er Ehe- und Familiensorgen ftir unvereinbar mit der taglich vierundzwanzigsttindigen Pflichterftillung hielt. Er kannte keinen anderen Gesprachsstoff als die Grundlehren des Engsoz und kein anderes Lebensziel als die Vernichtung des eurasischen Feindes und die Unschadlichmachung von Spionen, Saboteuren, Gedankenverbrechern und aller Arten von Verratern und anderen unsauberen Elementen. Winston schwankte, ob er dem Genossen Ogilvy den Orden ftir besondere Verdienste verleihen sollte. Am Schlufi entschied er sich dagegen, wegen der unnotigen Richtigstellungen, die das mit sich bringen wtirde. Noch einmal schielte er kurz zu seinem Rivalen in der gegentiberliegenden Nische hintiber. Etwas schien ihm mit Gewifiheit zu sagen, dafi Tillotson mit der gleichen Aufgabe 56 beschaftigt war wie er selbst. Man konnte nicht wissen, wessen Losung schliefilich angenommen wurde, aber er fuhlte eine tiefe Uberzeugung, dafi er den Vogel abschiefien wurde. Genosse Ogilvy, vor einer Stunde noch im Schofie des Nicht-Gedachten, war jetzt eine Tatsache. Es fiel ihm ein, dafi man seltsamerweise Toten Gestalt geben konnte, nicht aber Lebenden. Genosse Ogilvy, der nie in der Gegenwart gelebt hatte, lebte jetzt in der Vergangenheit, und wenn erst einmal die Tatsache der Falschung vergessen war, wurde er ebenso authentisch und ebenso nachweislich vorhanden sein wie Karl der Grofie oder Julius Casar. Fxinftes Kapitel In der tief unter der Erde liegenden, niedrigen Kantine rilckte die Schlange der Mittagsgaste nur langsam voran. Der Raum war bereits gedrangt voll, und es herrschte ein betaubender Larm. Von dem Herd hinter dem Ausgabetisch stieg der dicke Dampf eines Eintopfgerichts auf, mit einem sauerlich-metallischen Geruch, der die Dunste des Victory-Gins nicht ganz uberdeckte. Am Ende des langen Raumes namlich befand sich eine kleine Bar, nur eben eine Nische in der Wand, wo man ein grofies Glas Gin fur zehn Cents kaufen konnte. »Da ist ja der Mann, den ich suche«, sagte eine Stimme hinter Winstons Riicken. Er drehte sich um. Es war sein Freund Syme, der in der Forschungsabteilung arbeitete. Vielleicht war »Freund« nicht ganz das richtige Wort. Man hatte heutzutage keine Freunde, man hatte Genossen; aber es gab Genossen, deren Gesellschaft angenehmer war als die anderer. Syme war Sprachwissenschaftler, ein Spezialist fur »Neusprech«. Er gehorte 57 zu der riesigen Gruppe von Fachleuten, die jetzt mit der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Worterbuchs der Neusprech betraut waren. Er war ein winziges Kerlchen, kleiner als Winston, mit dunklem Haar und grofien, hervortretenden Augen, die traurig und spottisch zugleich dreinblickten und im Gesprach das Gesicht des Gegenubers genau zu durchforschen schienen. »Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht ein paar Rasierklingen hast«, sagte er. »Nicht eine!« versicherte Winston mit gleichsam schuldbewufiter Hast. »Ich habe uberall welche aufzutreiben versucht. Es gibt keine mehr.« Bestandig wurde man von alien Leuten nach Rasierklingen gefragt. In Wirklichkeit hatte Winston noch zwei unbenutzte gehortet. Seit Monaten schon herrschte Mangel an diesem Artikel. Alle Augenblicke fehlte es an einem notwendigen Gebrauchsartikel, den die Parteiladen nicht liefern konnten. Manchmal waren es Knopfe, manchmal Stopfwolle, dann wieder Schnursenkel; zurzeit waren es Rasierklingen. Man konnte sie, wenn uberhaupt, nur dadurch bekommen, dafi man mehr oder weniger heimlich den »freien« Markt abgraste. »Ich habe seit sechs Wochen die gleiche Klinge benutzt«, setzte Winston lugnerisch hinzu. Die Schlange machte einen neuen Ruck vorwarts. Erst als sie zum Stehen kam, drehte er sich wieder Syme zu. Jeder von ihnen nahm ein fettiges Metalltablett von einem auf der Ecke des Ausgabetisches stehenden hochaufgeturmten Stofi. »Hast du gestern zugeschaut, wie die Gefangenen aufgehangt wurden?« fragte Syme. »Ich hatte zu arbeiten«, sagte Winston leichthin. »Ich werde es mir wohl im Kino ansehen.« »Ein sehr ungenugender Ersatz«, meinte Syme und blickte Winston forschend an. Seine spottischen Augen glitten tiber Winstons Gesicht. »Ich kenne dich!« schienen die Augen zu sagen. 58 »Ich sehe durch dich hindurch. Ich weifi sehr wohl, warum du nicht hingegangen bist, um dir das anzusehen.« Auf eine intellektuelle Art und Weise war Syme verbissen orthodox. Er konnte mit einer unangenehm geniefierischen Befriedigung von Bombenangriffen auf feindliche Dorfer, von den Gerichtsverhandlungen und Gestandnissen der Gedankenverbrecher und den Hinrichtungen in den Kellern des Liebesministeriums sprechen. Wenn man sich mit ihm unterhalten wollte, so mufite man ihn vor allem von diesen Themen ablenken und ihn moglichst in ein Gesprach tiber die technischen Eigenttimlichkeiten der Neusprech verwickeln, ein Thema, tiber das er fesselnd und voll Sachkenntnis plaudern konnte. Winston drehte den Kopf ein wenig zur Seite, um dem forschenden Blick der grofien dunklen Augen zu entgehen. »Es war recht interessant, das Hangen«, sagte Syme in Erinnerung daran. »Ich finde, es beeintrachtigt die Sache sehr, wenn man ihnen die Ftifie zusammenbindet. Ich sehe sie gerne strampeln. Und vor allem mufi am Schlufi die Zunge herausblecken, blau - ganz zart hellblau. Das ist eine Einzelheit, die mir gefallt.« »Der nachste, bitte!« rief der weifibeschtirzte Prole mit der Schopfkelle. Winston und Syme schoben ihre Tabletts tiber den Ausgabetisch. Jedem wurde mit einem raschen Schwung seine Einheitsmahlzeit zugeteilt: ein Efigeschirr voll eines rosagrauen Eintopfes, ein Sttick Brot, ein Wtirfel Kase, ein Becher Victory-Kaffee ohne Milch und eine Sacharin-Tablette. »Dort unter dem Televisor ist ein Tisch frei«, sagte Syme. »Nehmen wir uns im Vorbeigehen einen Gin mit.« Der Gin wurde in henkellosen Porzellanbechern ausgegeben. Sie zwangten sich durch den gedrangt vollen Raum und stellten ihre Schtisseln auf die Metallplatte des Tisches, auf dessen einer Ecke jemand eine Pftitze von Eintopf hinterlassen hatte, einen schmutzig-nassen Brei, der wie Erbrochenes aussah. Winston hob 59 seinen Ginbecher in die Hohe, hielt einen Augenblick inne, um Mut zu sammeln, und sturzte das olig schmeckende Zeug hinunter. Nachdem er die Tranen niedergekampft hatte, die ihm in die Augen gestiegen waren, merkte er plotzlich, dafi er hungrig war. Er begann gehaufte Loffel des Eintopf-Gerichtes herunterzuschlingen, in dessen schlupfriger Masse auch Wurfel eines schwammigen, rosafarbenen Zeugs auftauchten, das vermutlich ein Kunstfleischprodukt war. Keiner der beiden sprach ein Wort, bis sie ihr Efigeschirr geleert hatten. An dem Tisch links von Winston, ein wenig hinter ihm, sprach jemand rasch und pausenlos - ein unangenehmes Geplapper, das wie das Quaken einer Ente durch das allgemeine Getose des Raumes drang. »Wie geht's mit dem Worterbuch vorwarts?« fragte Winston mit erhobener Stimme, um den Larm zu ubertonen. »Nur langsam«, sagte Syme. »Ich bin jetzt bei den Adjektiven. Es ist sehr interessant.« Bei der Erwahnung des Neusprech war er sofort lebhaft geworden. Er schob seine Schilssel beiseite, ergriff mit der einen seiner zarten Hande sein Stuck Brot und mit der andern den Kase; dabei beugte er sich uber den Tisch, um nicht schreien zu mussen. »Die Elfte Ausgabe ist die endgultige Fassung«, erklarte er. »Wir geben dem Neusprech seinen letzten Schliff - wir geben ihm die Form, die es haben wird, wenn niemand mehr anders spricht. Wenn wir damit fertig sind, werden Leute wie du die Sprache ganz von neuem erlernen mussen. Du nimmst wahrscheinlich an, neue Worte zu erfinden. Ganz im Gegenteil! Wir merzen jeden Tag Worte aus - massenhaft, zu Hunderten. Wir vereinf achen die Sprache auf ihr nacktes Gerust. Die Elfte Ausgabe wird kein einziges Wort mehr enthalten, das vor dem Jahr 2050 entbehrlich wird.« Er biss hungrig in sein Brot, und nachdem er zwei Bissen geschluckt hatte, fuhr er mit pedantischer Leidenschaft zu sprechen fort. Sein mageres, dunkles Gesicht hatte sich belebt, 60 seine Augen hatten ihren spottischen Ausdruck verloren und waren fast traumerisch geworden. »Es ist eine herrliche Sache, dieses Ausmerzen von Wortern. Naturlich besteht der grofie Leerlauf hauptsachlich bei den Zeit- und Eigenschaftswortern, aber es gibt auch Hunderte von Hauptwortern, die ebenso gut abgeschafft werden konnen. Es handelt sich nicht nur urn die sinnverwandten Worte, sondern auch um Worte, die den jeweils entgegengesetzten Begriff wiedergeben. Welche Berechtigung besteht schliefilich fur ein Wort, das nichts weiter als das Gegenteil eines anderen Wortes ist? Jedes Wort enthalt seinen Gegensatz in sich. Zum Beispiel >gut<: Wenn du ein Wort wie >gut< hast, wozu brauchst du dann noch ein Wort wie >schlechtUngut< erfullt den Zweck genauso gut, ja sogar noch besser, denn es ist das haargenaue Gegenteil des anderen, was man bei >schlecht< nicht wissen kann. Wenn du wiederum eine starkere Abart von >gut< willst, worin besteht der Sinn einer ganzen Reihe von undeutlichen, unnotigen Worten wie >vorzuglich<, >hervorragend< oder wie sie alle heifien mogen? >Plusgut< druckt das Gewunschte aus; oder >doppelplusgut<, wenn du etwas noch Starkeres haben willst. Freilich verwenden wir diese Formen bereits, aber in der endgultigen Neusprech gibt es einfach nichts anderes. Zum Schluss wird die ganze Begriffswelt von Gut und Schlecht nur durch sechs Worte - letzten Endes durch ein einziges Wort - gedeckt werden. Siehst du die Schonheit, die darin liegt, Winston? Es war naturlich ursprunglich eine Idee vom G. B.«, fugte Syme hinzu. Ein mattes Aufleuchten huschte bei der Erwahnung des Grofien Bruders tiber Winstons Gesicht. Trotzdem stellte Syme sofort einen Mangel an Begeisterung fest. »Du weifit Neusprech nicht wirklich zu schatzen, Winston«, sagte er beinahe traurig. »Selbst wenn du in ihr schreibst, denkst du noch immer in der Altsprache. Ich habe ein paar von den 61 Artikeln gelesen, die du gelegentlich in der Times schreibst. Sie sind recht gut, aber es sind doch nur Ubertragungen. Dein Herz hangt noch an der Altsprache, mit alien ihren Unklarheiten und unnutzen Gedankenschattierungen. Dir geht die Schonheit der Wortvereinfachung nicht auf . Weifit du auch, dass Neusprech die einzige Sprache der Welt ist, deren Wortschatz von Jahr zu Jahr kleiner wird?« Nein, Winston wufite das nicht. Er lachelte, wie er hoffte, mit einem anerkennenden Ausdruck, ohne dafi er zu sprechen wagte. Syme bifi wieder ein Stuck Schwarzbrot ab, kaute kurz und fuhr dann fort: »Siehst du denn nicht, dafi Neusprech kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkurzen? Zum Schlufi werden wir Gedankenverbrechen buchstablich unmoglich gemacht haben, da es keine Worte mehr gibt, in denen man sie ausdrucken konnte. Jeder Begriff, der jemals benotigt werden konnte, wird in einem einzigen Wort ausdruckbar sein, wobei seine Bedeutung streng festgelegt ist und alle seine Nebenbedeutungen ausgetilgt und vergessen sind. Schon heute, in der Elften Ausgabe, sind wir nicht mehr weit von diesem Punkt entfernt. Aber der Prozefi wird immer weitergehen, lange nachdem wir beide tot sind. Mit jedem Jahr wird es weniger und immer weniger Worte geben, wird die Reichweite des Bewufitseins immer kleiner und kleiner werden. Auch heute besteht naturlich kein Entschuldigungsgrund fur das Begehen eines Gedankenverbrechens. Es ist lediglich eine Frage der Selbstzucht, der Wirklichkeitskontrolle. Aber schliefilich wird auch das nicht mehr notig sein. Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist. Neusprech ist Engsoz, und Engsoz ist Neusprech!«, fugte er mit einer Art geheimnisvoller Befriedigung hinzu. »Hast du schon einmal bedacht, Winston, dafi um das Jahr 2050 kein Mensch mehr am Leben sein wird, der ein solches Gesprach, wie wir es eben fuhren, uberhaupt verstehen konnte?« 62 »Aufier...«, wollte Winston einwenden, aber er brach ab. Es lag ihm auf der Zunge zu sagen: »Aufier den Proles«, aber er hielt sich zuruck, da er nicht ganz sicher war, ob eine solche Bemerkung nicht in gewisser Weise unorthodox gewesen ware. Syme hatte jedoch erraten, was er sagen wollte. »Die Proles sind keine Menschen!«, sagte er beilaufig. »Mit dem Jahr 2050 - aber vermutlich schon fruher - wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein - und damit auch die alte Kultur dieses Landes. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprech-Fassungen vorhanden sein, und damit nicht einfach umgewandelt, sondern zu dem Gegenteil von dem verkehrt, was sie waren. Selbst die Parteiliteratur wird eine Wandlung erf ahren. Sogar die Leitsatze werden anders lauten. Wie konnte ein Leitsatz wie >Freiheit ist Sklaverei< bestehen bleiben, wenn der Begriff Freiheit aufgehoben ist? Das ganze Reich des Denkens wird anders sein. Es wird uberhaupt kein Denken mehr geben - wenigstens was wir heute darunter verstehen. Strengglaubigkeit bedeutet: nicht mehr denken - nicht mehr zu denken brauchen. Strengglaubigkeit ist Unkenntnis.« Eines Tages, dachte Winston plotzlich aus innerster Uberzeugung, wird Syme vaporisiert werden. Er ist zu gescheit. Er sieht zu klar und spricht zu often. Die Partei sieht solche Menschen nicht gerne. Eines schonen Tages wird er verschwinden. Es steht in seinem Gesicht geschrieben. Winston war fertig mit seinem Brot und seinem Kase. Er drehte sich auf seinem Stuhl ein wenig zur Seite, um seinen Becher Kaffee zu trinken. Am Tisch links von ihm sprach der Mann mit der kreischenden Stimme noch immer unbarmherzig weiter. Eine junge Frau, vielleicht seine Sekretarin, die mit dem Rucken zu Winston dasafi, horte ihm zu und schien allem, was er sagte, eifrig beizustimmen. 63 Von Zeit zu Zeit fing Winston Bemerkungen auf wie »Ich glaube, Sie haben vollkommen recht, ich bin ganz Ihrer Meinung«, die eine jugendliche und ziemlich torichte Frauenstimme vorbrachte. Aber die andere Stimme schwieg keinen Augenblick still, auch nicht, wenn das Madchen einmal sprach. Winston kannte den Mann vom Sehen, doch wufite er nicht mehr von ihm, als dafi er einen wichtigen Posten in der Literaturabteilung bekleidete. Er war ein Mann von etwa dreifiig Jahren, mit einem muskulosen Hals und einem grofien, beweglichen Mund. Sein Kopf war ein wenig zuruckgebeugt, und infolge des Winkels, in dem er dasafi, fingen seine Brillenglaser das Licht auf und zeigten Winston zwei blanke Scheiben statt der Augen. Das etwas Gespenstische an der Sache war, dafi es fast unmoglich war, ein einziges Wort des aus seinem Munde hervorbrechenden Redeschwalls zu verstehen. Nur einmal fing Winston einen Gesprachsfetzen auf: »...vollstandige und endgultige Ausrottung des Goldsteinismus...« - sehr rasch und gleichsam in einem Stuck, wie eine fertiggegossene Druckzeile, hervorgestofien. Der Rest war nur ein Gerausch, quak-quak-quak. Und doch konnte man, auch ohne zu verstehen, was der Mann sagte, sich tiber den Grundton nicht im Zweifel sein. Mochte er nun Goldstein beschuldigen und strengere Mafinahmen gegen Gedankenverbrecher und Saboteure fordern, mochte er gegen die Grausamkeiten der eurasischen Streitkrafte wettern, mochte er den Grofien Bruder oder die Helden an der Malabar-Front lobpreisen - es blieb sich alles gleich. Man konnte sicher sein, was immer er sagte, dafi jedes seiner Worte streng orthodox, reinster Engsoz war. Wahrend Winston das augenlose Gesicht betrachtete, dessen Unterkiefer schnell auf- und zuklappte, hatte er ein merkwurdiges Gefuhl, dafi dies kein richtiger Mensch, sondern eine Art Puppe war. Hier sprach nicht das Gehirn eines Menschen, sondern sein Kehlkopf. Was dabei herauskam, bestand zwar aus Worten, aber es war keine menschliche Sprache im echten Sinne; es war ein unbewufit 64 hervorgestofienes, vollig automatisches Gerausch, wie das Quaken einer Ente. Syme war einen Augenblick verstummt und zeichnete mit dem Stiel seines Loffels ein Muster in die Eintopf-Reste. Die Stimme am Nebentisch quakte pausenlos weiter, gut horbar trotz des grofien Getoses ringsum. »Es gibt ein Wort im Neusprech«, sagte Syme, »ich weifi nicht, ob du es kennst: Entenquak. Es ist eines von den interessantesten Wortern, die zwei gegensatzliche Bedeutungen haben. Einem Gegner gegenuber angewandt, ist es eine Beschimpfung; gebraucht man es von jemandem, mit dem man einer Meinung ist, dann ist es ein Lob.« Fraglos wird Syme vaporisiert werden, dachte Winston von neuem. Er dachte es mit einem gewissen Bedauern, obwohl er genau wufite, dafi Syme ihn verachtete und keineswegs besonders mochte, ja, dafi er durchaus imstande war, ihn beim geringsten Anlafi als Gedankenverbrecher zu denunzieren. Etwas an Syme stimmte nicht ganz. Ihm fehlte etwas: Takt, Zuruckhaltung, ein rettendes Quentchen Dummheit. Man konnte ihn nicht als unorthodox bezeichnen. Er glaubte an die Grundsatze des Engsoz, verehrte den Grofien Bruder, jubelte tiber Siege, hasste politisch Unkorrekte nicht nur eifrig und unermudlich aus Uberzeugung, sondern wohlinformiert, mit einem Scharfblick, wie ihn ein gewohnliches Parteimitglied sonst nicht besafi. Dennoch hatte er immer etwas Anruchiges. Er sagte Dinge, die besser ungesagt blieben, er hatte zu viele Bucher gelesen und war ein Stammgast im Cafe »Kastanienbaum«, dem Treffpunkt der Maler und Musiker. Es gab kein Gesetz, nicht einmal ein ungeschriebenes, das den Besuch dieses Cafes untersagte, und trotzdem war dieses Lokal einigermafien tibel beleumundet. Die alten, in Mifikredit geratenen Parteifuhrer hatten dort verkehrt, ehe sie schliefilich liquidiert worden waren. Goldstein selbst, erzahlte man sich, war dort vor Jahren oder Jahrzehnten manchmal gesehen worden. Symes Schicksal war unschwer 65 vorauszusehen. Und doch war kein Zweifel, dafi Syme, wenn er - und sei es auch nur fur die Dauer von drei Sekunden - die wahre Natur von Winstons geheimen Absichten erkannt hatte, ihn sofort an die Gedankenpolizei verraten wurde. Freilich hatte das auch jeder andere getan; aber Syme mit grofierer Bestimmtheit als die meisten. Eifer allein genugte noch nicht. Der strenge Glaube handelte unbewusst. Syme blickte auf . »Da kommt Parsons«, sagte er und stutzte seine Ellbogen auf die metallische Tischplatte. Etwas im Ton seiner Stimme schien hinzuzufugen: »Dieser blode Kerl.« Tatsachlich bahnte sich Parsons, Winstons Wohnungsnachbar im Victory-Block, seinen Weg durch den Raum - ein dickbauchiger, mittelgrofier Mann mit blondem Haar und einem froschartigen Gesicht. Mit funfunddreifiig Jahren setzte er bereits am Nacken und an den Huften Fettpolster an, seine Bewegungen waren jedoch temperamentvoll und jungenhaft. Seine ganze Erscheinung war die eines hochaufgeschossenen Knaben, so sehr, dafi man sich ihn - obwohl er den vorschriftsmafiigen Trainingsanzug trug - schwerlich anders als in den kurzen blauen Hosen, dem grauen Hemd und dem roten Halstuch der Spaher vorstellen konnte. Wenn man sich im Geiste sein Bild vor Augen hielt, sah man immer nackte Knie und rundliche Unterarme mit aufgekrempelten Hemdarmeln. Parsons kehrte auch unweigerlich zu kurzen Hosen zuruck, sobald ihm eine Gemeinschaftswanderung oder eine sonstige Form von Leibesubungen den geringsten Anlafi dafur bot. Er begrufite die beiden mit einem munteren »Hallo, hallo !« und setzte sich an den Tisch, wobei ein intensiver Schweifigeruch von ihm ausstromte. Auf seinem ganzen rosaroten Gesicht standen Schweifitropfen. Seine Fahigkeit zu schwitzen war unbegrenzt. Im Gemeinschaftshaus konnte man immer an der Feuchtigkeit des Schlagergriffs feststellen, ob er vor einem Tischtennis gespielt hatte. Syme hatte ein Blatt Papier hervorgezogen, auf dem eine 66 lange Reihe Worte standen, und studierte sie aufmerksam, wobei er einen Tintenbleistift zur Hand nahm. »Schauen Sie nur, wie er wahrend der Mittagspause arbeitet«, sagte Parsons und gab Winston einen Rippenstofi. »Das nenne ich Eifer! Was haben Sie denn da, alter Junge? Vermutlich etwas, das ein bifichen tiber meinen Horizont hinausgeht. Smith, alter Junge, jetzt mufi ich Ihnen sagen, warum ich hinter Ihnen her bin. Es ist wegen des Beitrags, den Sie mir noch nicht gestiftet haben.« »Um welchen Beitrag handelt es sich?« fragte Winston und tastete automatisch nach Geld. Ungefahr ein Viertel seines Gehaltes mufite man fur freiwillige Beitrage zeichnen, die so zahlreich waren, dafi man sie kaum auseinanderhalten konnte. »Fur die Hass-Woche. Sie wissen ja, die Haussammlung. Ich bin Vertrauensmann fur unseren Block. Die ganze Stadt soil im Festschmuck prangen - es wird eine Riesensache werden. Ich kann Ihnen sagen, es wird bestimmt nicht meine Schuld gewesen sein, wenn der gute alte Victory-Block nicht den reichsten Fahnenschmuck in der ganzen Strafie aufzuweisen hat. Sie haben mir zwei Dollar versprochen.« Winston fischte zwei fettig-schmutzige Scheine aus der Tasche und uberreichte sie Parsons, der den Betrag mit der sauberen Handschrift des Ungebildeten in ein kleines Notizbuch eintrug. »Bei der Gelegenheit, alter Junge«, meinte er, »wie ich hore, hat mein kleiner Lauselummel gestern mit seinem Katapult nach Ihnen geschossen. Ich habe ihm eine tuchtige Abreibung dafur erteilt. Ich sagte ihm, ich wurde ihm das Ding wegnehmen, wenn er es noch einmal tut.« »Er war wohl ein wenig verstimmt, weil er nicht zu der Hinrichtung gehen durfte«, sagte Winston. »Ei nun - das zeigt den richtigen Geist, finden Sie nicht auch? Mutwillige kleine Lausejungen sind sie, alle beide, aber an Eifer mangelt es bei ihnen wahrhaftig nicht! Sie haben nichts anderes im Kopf als die Spaher - und den Krieg naturlich. Wissen Sie, was mein kleines Madel letzten Samstag getan hat, als ihr Fahnlein einen Gemeinschaftsausflug nach Berkhamsted machte? 67 Sie stahl sich mit zwei anderen Madchen aus der Reihe und heftete sich den ganzen Nachmittag an die Fersen eines merkwurdig aussehenden Mannes. Sie folgten ihm zwei Stunden lang, mitten durch den Wald, und als sie nach Amersham kamen, ubergaben sie ihn der Polizeistreife.« »Warum haben sie das getan?« fragte Winston ein wenig verbltifft. Parsons fuhr triumphierend fort: »Mein Sprofiling hatte erkannt, dafi er irgendwie so eine Art Feindagent war - er konnte zum Beispiel mit dem Fallschirm abgesetzt worden sein. Aber nun kommt der springende Punkt, alter Junge. Was glauben Sie, was ihr zuerst an ihm aufgefallen ist? Sie merkte, dafi er eine merkwurdige Sorte Schuhe anhatte. Sie sagte, sie habe noch nie zuvor jemanden solche Schuhe tragen sehen. Daher bestand die Wahrscheinlichkeit, dafi es sich um einen feindlichen Spitzel handelte. Allerhand Kopfchen fur einen siebenjahrigen Dreikasehoch, was?« »Was wurde aus dem Mann?« fragte Winston. »Ach, das kann ich Ihnen nattirlich nicht sagen. Aber ich ware durchaus nicht verwundert, wenn...« Parsons machte die Bewegung des Gewehranlegens und deutete mit einem Zungenschnalzen den Schufi an. »Gut!« sagte Syme zerstreut, ohne von seinem Papier aufzublicken. »Nattirlich konnen wir uns kein Risiko leisten«, stimmte Winston pflichtschuldig bei. »Schliefilich haben wir nun einmal Krieg«, meinte Parsons. Wie zur Bestatigung seiner Worte erscholl ein Fanfarenstofi aus dem gerade tiber ihren Kopfen angebrachten Televisor. Diesmal war es jedoch nicht die Verkundigung eines militarischen Sieges, sondern lediglich eine Meldung des Ministeriums fur Uberflufi. »Genossen!« rief eine eifrige jugendliche Stimme. »Achtung, Genossen! Wir haben herrliche Nachrichten fur euch! Wir haben die Erzeugungsschlacht gewonnen! Die jetzt abgeschlossenen amtlichen Berichte tiber die Produktion aller Kategorien von 68 Gebrauchsgiitern zeigen, dafi der Lebensstandard im Vergleich zum vergangenen Jahr sich um nicht weniger als zwanzig Prozent erhoht hat. In ganz Ozeanien fanden heute morgen spontane Demonstrationen statt, bei denen die Arbeiter aus den Fabriken und Buros herausmarschierten und mit Fahnen durch die Strafien zogen, um dem Grofien Bruder ihre Dankbarkeit fur das neue, gluckliche Leben zum Ausdruck zu bringen, mit dem uns seine weise Fuhrung beschenkt hat. Hier folgen einige der endgultigen Zahlen: Lebensmittel...« Der Satz »unser neues, gliickliches Leben« kehrte mehrmals wieder. Es war in letzter Zeit ein Lieblingsausdruck des Ministeriums fur Uberflufi geworden. Parsons, dessen Aufmerksamkeit durch den Fanfarenstofi geweckt worden war, safi in einem Zustand von gahnendem Ernst und belehrter Langeweile da. Er vermochte den Zahlen nicht zu folgen, war sich aber bewufit, dafi sie irgendwie einen Grund zur Befriedigung boten. Er hatte eine grofie, verschmutzte Pfeife hervorgeholt, die bereits bis zur Halfte mit verkohltem Tabak angefullt war. Mit der Tabakration von hundert Gramm in der Woche konnte man seine Pfeife selten bis zum Rand fullen. Winston rauchte eine Victory-Zigarette, die er sorgfaltig waagrecht hielt. Die neue Zuteilung wurde erst morgen fallig, und er hatte nur noch vier Zigaretten ubrig. Fur den Augenblick hatte er seine Ohren den entfernteren Gerauschen verschlossen und lauschte dem Redeschwall, der aus dem Televisor drang. Es stellte sich heraus, dafi sogar Demonstrationen stattgefunden hatten, um dem Grofien Bruder fur die Erhohung der Schokoladeration auf zwanzig Gramm in der Woche zu danken. Dabei war erst gestern, so uberlegte Winston, bekanntgegeben worden, dafi die Ration auf zwanzig Gramm die Woche herabgesetzt wurde. War es moglich, dafi die Leute das nach nur vierundzwanzig Stunden schlucken wurden? Ja, sie schluckten es. Parsons schluckte es muhelos, mit der Dummheit eines Tieres. Das augenlose Geschopf am Nebentisch schluckte es fanatisch, 69 leidenschaftlich, mit der blindwtitigen Sucht, jeden ausfindig zu machen, zu denunzieren und zu vaporisieren, der behaupten wollte, vergangene Woche habe die Ration dreifiig Gramm betragen. Auch Syme schluckte es - allerdings auf eine komplizierte Art, bei der das Doppeldenk hineinspielte. Stand er demnach allein da, war er der einzige, der ein Gedachtnis hatte? Immer noch tonten die frei erfundenen Statistiken aus dem Televisor. Im Vergleich zum vergangenen Jahr gab es mehr zu essen, mehr Kleidung, mehr Hauser, mehr Mobel, mehr Kochtopfe, mehr Heizmaterial, mehr Schiffe, mehr Flugzeuge, mehr Bticher, mehr Neugeborene - mehr von allem aufier Krankheit, Verbrechen und Wahnsinn. Jahr um Jahr, von einer Minute zur anderen erlebte alles einen rasenden Aufstieg. Wie vorher Syme, hatte Winston jetzt seinen Loffel ergriffen und manschte in den farblosen Speiseresten auf dem Tisch herum, wobei er einen langen Streifen zu einem Muster auszog. Voll Ingrimm dachte er tiber die physische Beschaffenheit des Lebens nach. War es schon immer so gewesen? Hatte das Essen immer so geschmeckt? Er blickte sich in der Kantine um. Ein niedriger, gedrangt voller Raum, dessen Wande durch die Beruhrung unzahliger Leiber schmutzig geworden waren. Verbeulte Metalltische und Sttihle, so eng zusammengertickt, dafi man sich im Sitzen mit den Ellenbogen beruhrte. Verbogene Gabeln, am Rand abgestofienes Geschirr, grobe weifie Becher, auf alien Flachen fettglanzend, Schmutz in jedem Sprung. Und ein sauerlicher Geruch tiber allem, zusammengesetzt aus schlechtem Gin, minderwertigem Kaffee, leicht metallisch schmeckendem Eintopf und unsauberen Kleidern. Immer regte sich im Magen und auf der Haut ein Protest - das Geftihl, um etwas betrogen worden zu sein, worauf man ein Anrecht hatte. Zwar hatte er keine Erinnerung an etwas wesentlich anderes. Soweit er sich genau zurtickzuerinnern vermochte, hatte es nie wirklich genug zu essen gegeben, hatte 70 man nie Socken oder Unterhosen besessen, die nicht voll Locher waren, war das Mobiliar immer schadhaft und wackelig gewesen, waren die Zimmer ungenugend geheizt, die Untergrundbahn uberfullt, die Hauser verfallen, das Brot dunkel, der Tee eine Raritat, der Kaffee schauderhaft, die Zigaretten zu wenig gewesen. Nichts war billig oder reichlich vorhanden gewesen aufier dem synthetischen Gin. Und obwohl man das alles mit dem Alterwerden naturlich schlimmer empfand, war es nicht ein Zeichen, dafi dies nicht die naturliche Ordnung der Dinge sein konnte, wenn einem stets das Herz weh tat bei der Unbehaglichkeit, dem Schmutz und dem Mangel, den endlosen Wintern, den verfilzten Socken, den nie funktionierenden Fahrstuhlen, dem kalten Wasser, der sandigen Seife, den zerbrockelnden Zigaretten, den kunstlichen Nahrungsmitteln mit ihrem chemischen Geschmack? Warum empfand man das als so unertraglich, wenn man nicht eine altererbte Erinnerung in sich trug, dafi die Dinge einmal ganz anders gewesen waren? Er sah sich noch einmal in der Kantine um. Fast jeder einzelne war hafilich, und ware auch hafilich gewesen, wenn er etwas anderes als den gleichformigen blauen Trainingsanzug getragen hatte. Am anderen Ende des Raumes safi allein an einem Tisch ein kleiner, einem Kafer merkwurdig ahnlicher Mann und trank seine Tasse Kaffee, wobei seine Auglein argwohnische Blicke von einer Seite zur anderen warfen. Winston betrachtete die ihn umgebenden Gestalten. Die Mehrzahl der Menschen im Luftflottenstutzpunkt Nr. 1, war, soweit er es beurteilen konnte, klein, dunkel und hafilich. Es war merkwurdig, wie dieser kaferartige Typ in den Ministerien Uberhand nahm: kleine, rundkopfige, untersetzte Menschen, die schon in jungen Jahren korpulent wurden, mit kurzen Beinen, raschen zappeligen Bewegungen und gedunsenen undurchdringlichen Gesichtern mit sehr kleinen Augen. Dieser Typ schien unter der Herrschaft der Partei am besten zu gedeihen. 71 Die Meldung des Ministeriums fur Uberflufi endete mit einem erneuten Fanfarenstofi und wurde durch Blechmusik abgelost. Parsons, durch das Zahlenbombar dement zu vager Begeisterung aufgeruttelt, nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Das Ministerium fur Uberflufi hat dieses Jahr wahrhaftig Grofies geleistet«, sagte er mit einem wissenden Kopfnicken. »Bei der Gelegenheit, Smith, alter Junge, Sie haben nicht zufallig ein paar Rasierklingen, die Sie mir ablassen konnten?« »Nicht eine«, sagte Winston. »Ich benutze selber seit sechs Wochen dieselbe Klinge.« »Ach so - ich dachte nur, ich wollte Sie mal fragen, alter Junge. « »Tut mir leid«, sagte Winston. Die quakende Stimme vom Nebentisch, die wahrend der Meldung des Ministeriums vorubergehend zum Schweigen gebracht worden war, hatte wieder mit voller Lautstarke loszulegen begonnen. Aus irgendeinem Grunde mufite Winston plotzlich an Frau Parsons mit ihrem Wuschelhaar und dem Staub in ihren Kummerfalten denken. In zwei Jahren wurden ihre Kinder sie bei der Gedankenpolizei denunzieren. Frau Parsons wurde vaporisiert werden. Syme wurde vaporisiert werden. Winston wurde vaporisiert werden. O'Brien wurde vaporisiert werden. Parsons dagegen wurde nie vaporisiert werden. Das augenlose Wesen mit der quakenden Stimme wurde nie vaporisiert werden. Die kleinen kaferartigen Menschen, die so nichtssagend durch die labyrinthischen Gange der Ministerien huschten - auch sie wurden nie vaporisiert werden. Und das Madchen mit dem dunklen Haar, das Madchen aus der Literaturabteilung - auch sie wurde niemals vaporisiert werden. Es schien ihm, als wisse er instinktiv, wer mit dem Leben davonkommen und wer vernichtet werden wurde: wenn man auch nicht ohne weiteres sagen konnte, welcher Faktor eigentlich das Uberleben entschied. In diesem Augenblick schrak er heftig aus seiner Traumerei auf. Das Madchen am Nebentisch hatte sich halb umgedreht und ihn angeblickt. Es war das Madchen mit dem dunklen Haar. Sie sah 72 ihn mit einem verstohlenen Seitenblick, aber mit merkwurdiger Eindringlichkeit an. In dem Moment, in dem ihre Augen sich begegneten, wandte sie sich wieder ab. Winston brach der Schweifi aus alien Poren. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte ihn. Zwar liefi er fast sofort nach, aber es blieb eine nagende Ungewifiheit zuruck. Warum beobachtete sie ihn? Warum verfolgte sie ihn dauernd? Unglucklicherweise konnte er sich nicht entsinnen, ob sie bereits bei seinem Kommen an diesem Tisch gesessen hatte oder erst nachher erschienen war. Auf alle Falle hatte sie sich gestern, wahrend der Zwei-Minuten- Hass-Sendung, unmittelbar hinter ihn gesetzt, obwohl dazu keine zwingende Notwendigkeit bestand. Sehr wahrscheinlich hatte sie in Wirklichkeit die Absicht gehabt, ganz genau hinzuhoren und sich davon zu uberzeugen, ob er auch laut genug in das Beifallsgeschrei einstimmte. Sein erster Gedanke kam ihm wieder: vermutlich war sie nicht wirklich ein Mitglied der Gedankenpolizei, andererseits stellten eben gerade die Amateurspitzel die grofite Gefahr von alien dar. Er wufite nicht, wie lange sie ihn schon angesehen hatte, vielleicht immerhin ftinf Minuten, und es war moglich, dafi er sein Gesicht nicht vollig in der Gewalt gehabt hatte. Es war schrecklich gefahrlich, seine Gedanken schweifen zu lassen, wenn man bei einer offentlichen Veranstaltung oder in Reichweite eines Televisors war. Die geringste Kleinigkeit konnte einen verraten. Ein nervoses Zusammenzucken, ein unbewufiter Angstblick, die Gewohnheit, vor sich hinzumurmeln - alles, was den Verdacht des Ungewohnlichen erwecken konnte, oder dafi man etwas zu verbergen habe. Einen unpassenden Ausdruck im Gesicht zu zeigen (zum Beispiel unglaubig dreinzuschauen, wenn ein Sieg verkundet wurde), war jedenfalls schon an sich ein strafbares Vergehen. Es gab sogar ein Neusprechwort dafur: Gesichtsverbrechen. Das Madchen hatte ihm wieder den Rucken zugewandt. Vielleicht verfolgte sie ihn nicht wirklich, oder es war nur ein 73 Zufall, dafi sie zwei Tage hintereinander so nahe von ihm gesessen hatte. Seine Zigarette war ausgegangen, und er legte sie vorsichtig auf den Tischrand. Er wurde sie nach der Arbeit fertig rauchen, wenn inzwischen nicht der Tabak herausgefallen war. Sehr wahrscheinlich war die Person am Nebentisch ein Spitzel der Gedankenpolizei, und sehr wahrscheinlich war er in drei Tagen in den Krallen des Liebesministeriums - aber einen Zigarettenstummel durfte man nicht vergeuden! Syme hatte sein Blatt Papier zusammengefaltet und in die Tasche gesteckt. Parsons hatte wieder zu schwatzen angefangen. »Habe ich Ihnen eigentlich erzahlt, alter Junge«, sagte er kichernd, das Pfeifenmundstuck zwischen den Zahnen, »wie meine beiden Sprofilinge den Rock der alten Marktfrau in Brand gesteckt haben, weil sie gesehen hatten, wie sie Wurste in ein Plakat mit dem Bild vom G. B. einwickelte? Schlichen sich von hinten an sie heran und legten mit Zundholzern Feuer an. Haben sie recht bos verbrannt, nehm ich an. Kleine Lauser, was? Aber scharf wie Schiefihunde! Heute bekommen sie bei den Spahern eine erstklassige Vorschulung - sogar noch besser als zu meiner Zeit. Was glauben Sie, womit sie neuerdings die Kinder ausgerustet haben? Horrohre, um damit durch Schlussellocher zu lauschen! Meine Kleine brachte gestern Abend eins mit nach Hause. Sie probierte es an unserer Wohnzimmertur aus und stellte test, dafi sie doppelt so gut damit horen konnte, als wenn sie einfach das Ohr ans Schlusselloch legte. Naturlich ist es nur ein Spielzeug, verstehen Sie mich recht. Aber jedenfalls lenkt es ihre Gedanken auf die richtige Fahrte, nicht wahr?« In diesem Augenblick kam aus dem Televisor ein schrilles Pfeifen. Es war das Zeichen, wieder an die Arbeit zu gehen. Alle drei Manner sprangen auf, um sich in das Gewuhl vor den Fahrstuhlen zu sturzen, und aus Winstons Zigarette fiel der restliche Tabak heraus. 74 Sechstes Kapitel Winston lehnte sich zuruck und starrte gegen die Decke. Dann ergriff er den Federhalter und schrieb in sein Tagebuch: „Es war vor drei Jahren. An einem dunklen Abend, in einer engen Seitenstrafie in der Nahe eines der grofien Bahnhofe. Sie stand unweit von einem Torweg unter einer Strafienlaterne, die nur sparliches Licht gab. Sie hatte ein junges, sehr stark geschminktes Gesicht. Eigentlich war es die Gesichtsbemalung mit ihrer maskenhaften Weifie, was mich anzog, und die brennend roten Lippen. Die Frauen von der Partei schminken sich nie. Es war niemand sonst auf der Strafie, und kein Televisor. Sie sagte zwei Dollar. Ich..." Es war im Augenblick zu schwierig weiter zuschreiben. Er prefite die Finger auf die geschlossenen Augen und versuchte, das Bild wieder heraufzubeschworen, das ihm in seiner Erinnerung vorschwebte. Er verspurte ein fast unuberwindliches Verlangen, mit vollem Stimmaufwand einen Schwall unflatiger Worte hinauszuschreien. Oder mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, den Tisch umzuwerfen und das Tintenfafi aus dem Fenster zu schleudern - irgendetwas Gewaltsames, Lautes oder Schmerzhaftes zu tun, um die qualende Erinnerung auszuloschen. Der schlimmste Feind, mit dem man es zu tun hatte, uberlegte er, waren die eigenen Nerven. Jeden Augenblick konnte die innere Spannung sich in einem aufieren Symptom verraten. Ihm fiel ein Mann ein, an dem er vor ein paar Wochen auf der Strafie vorbeigegangen war: ein ganz alltaglich aussehender Mann, ein Parteimitglied von funfunddreifiig oder vierzig Jahren, ziemlich grofi und mager, eine Aktentasche unterm Arm. Sie waren ein paar Meter voneinander entfernt gewesen, als die linke Gesichtshalfte des Mannes plotzlich in krampfhafte Zuckungen geriet. Das gleiche hatte sich noch einmal gerade in dem 75 Augenblick wiederholt, als sie aneinander vorbeigekommen waren: es war nur ein kurzes Zittern, ein Zucken, so schnell wie das Klicken eines Fotoapparats, aber offenbar chronisch. Er erinnerte sich, dafi er damals gedacht hatte: Der arme Teufel ist geliefert! Und das Erschreckende daran war, dafi es sich hochstwahrscheinlich urn einen unbewufiten Vorgang handelte. Die allergrofite Gefahr war, im Schlaf zu sprechen. Soviel er wufite, gab es keine Moglichkeit, sich dagegen irgendwie zu schutzen. Er schopfte Atem und fuhr fort zu schreiben: „Ich ging mit ihr durch den Torweg und tiber einen Hinterhof in eine im Erdgeschofi gelegene Kuche. An der Wand stand ein Bett und auf dem Tisch eine sehr tief herabgeschraubte Lampe. Sie..." Er war nervos. Er hatte am liebsten ausspucken mogen. Zugleich mit der Frau in der Kuche dachte er an Katherine, seine Frau. Winston war verheiratet - oder jedenfalls verheiratet gewesen; vermutlich war er es noch, denn soviel ihm bekannt war, war seine Frau nicht gestorben. Ihm kam es vor, als atme er wieder den warmen, stickigen Geruch in der ebenerdigen Kuche, einen Geruch aus Ungeziefer, schmutziger Wasche und miserablem billigen Parfum, aber dennoch verlockend, denn keine Frau von der Partei benutzte jemals Parfum, auch hatte man sich das uberhaupt nicht vorstellen konnen. Nur die Proles benutzten Parfum. In seiner Vorstellung war dieser Geruch untrennbar mit Unzucht verbunden. Als er mit dieser Frau gegangen war, hatte das seinen ersten Fehltritt seit ungefahr zwei Jahren bedeutet. Der Umgang mit Prostituierten war naturlich verboten, aber es war eine der Vorschriften, die man gelegentlich zu ubertreten wagen konnte. Es war gefahrlich, aber es war keine Angelegenheit auf Leben und Tod. Mit einer Prostituierten erwischt zu werden, konnte bis zu ftinf Jahren Zwangsarbeitslager bedeuten; aber nicht mehr, wenn man keinen weiteren Verstofi begangen hatte. Und das war recht einfach, wenn man nur vermeiden konnte, in flagranti ertappt zu werden. In den armeren Vierteln wimmelte es von 76 Frauen, die bereit waren, sich zu verkaufen. Manche waren sogar fur eine Flasche Gin zu haben, der nicht fur die Proles bestimmt war. Stillschweigend neigte die Partei sogar dazu, die Prostitution zu fordern, als ein Ventil fur Instinkte, die sich nicht vollig unterdrucken liefien. Die blofie Ausschweifung wurde nicht wichtig genommen, solange sie fliichtig und freudlos blieb und nur die Frauen der unterdruckten und verachteten Klasse daran teilnahmen. Ein unverzeihliches Verbrechen dagegen war die Unzucht zwischen Parteimitgliedern. Doch obwohl dies auch zu den Verbrechen gehorte, deren sich die Angeklagten in den grofien Sauberungsprozessen unabanderlich schuldig bekannten, so konnte man sich doch nur schwer vorstellen, dafi dergleichen wirklich vorkam. Das Ziel der Partei war nicht nur, das Zustandekommen enger Beziehungen zwischen Mannern und Frauen zu verhindern, die sie vielleicht nicht mehr ubersehen konnte. Ihre wirkliche, unausgesprochene Absicht ging dahin, den sexuellen Akt aller Freude zu entkleiden. Nicht so sehr die Liebe als vielmehr die Erotik wurde als Feind betrachtet, sowohl in wie aufierhalb der Ehe. Alle Eheschliefiungen zwischen Parteimitgliedern mussten von einer zu diesem Zweck aufgestellten Kommission genehmigt werden, und diese Genehmigung wurde - obwohl dieser Grundsatz nie deutlich festgelegt worden war - immer verweigert, wenn das fragliche Paar den Eindruck machte, korperlich zueinander hingezogen zu sein. Der einzig anerkannte Zweck einer Heirat war, Kinder zum Dienst fur die Partei zur Welt zu bringen. Zudem wurde uberhaupt das Vorhandensein verschiedener Geschlechter im Grunde aggressiv ignoriert und verleugnet. Der Fortpflanzungsakt selbst hatte als eine unbedeutende und leicht anruchige Sache zu gelten, wie ein Klistier. Auch das wurde nie deutlich ausgedruckt, doch auf indirekte Weise jedem Parteimitglied von Jugend an eingeimpft. Es gab sogar Organisationen wie die Jugendliga gegen Sexualitat, die fur das 77 vollkommene Zolibat beider Geschlechter eintraten. Alle Kinder sollten durch kunstliche Befruchtung („Kunstsam" hiefi das im Neusprech) gezeugt und in staatlichen Anstalten grofigezogen werden. Winston wufite sehr wohl, dafi dies nicht ganz ernst gemeint war, aber es pafite zu der allgemeinen Ideologic der Partei. Die Partei versuchte das Sexualgefuhl abzutoten oder doch zu verbiegen und in den Schmutz zu Ziehen. Er wufite nicht, warum das so war, aber es schien naturlich, dafi es so sein sollte. Und soweit es die Frauen betraf, waren die Bemuhungen der Partei weitgehend erfolgreich. Er dachte wieder an Katherine. Es mufite wohl neun, zehn - fast elf Jahre her sein, seit sie sich getrennt hatten. Es war merkwurdig, wie selten er an sie dachte. Er konnte tagelang vergessen, dafi er uberhaupt verheiratet gewesen war. Sie hatten nur ungefahr funfzehn Monate zusammengelebt. Die Partei duldete keine Scheidung, befurwortete aber in Fallen kinderloser Ehen die Trennung. Katherine war ein grofies blondes Madchen, von sehr gerader Haltung und mit herrlichen Bewegungen. Sie hatte ein kuhnes, adlerhaftes Gesicht, ein Gesicht, das man versucht war, ideal zu nennen, bis man herausfand, dafi so gut wie nichts dahinter steckte. Schon sehr bald wahrend seiner Ehe war er zu der Ansicht gelangt - vielleicht auch nur, weil er sie genauer kannte als die meisten anderen Menschen -, dafi sie geistig das dummste, gewohnlichste und leerste Wesen war, dem er je begegnet war. Sie hatte keinen Gedanken im Kopf, der nicht ein Schlagwort gewesen ware, und es gab keinen Blodsinn, aber auch keinen einzigen, den sie nicht gefressen hatte, wenn die Partei ihn ihr auftischte. Er gab ihr im Stillen den Spitznamen »Die alte Platte«. Und doch hatte er mit ihr zusammenleben konnen, wenn nicht - die Erotik gewesen ware. Sobald er sie beruhrte, schien sie zuruckzuzucken und zu erstarren. Wenn man sie umarmte, war es genauso, als umarmte man eine Holzpuppe. Und seltsamerweise hatte er sogar, wenn sie ihn an sich prefite, das Gefiihl, als stofie sie ihn gleichzeitig 78 mit aller Kraft von sich weg. Sie lag mit geschlossenen Augen da, weder widerstrebend noch miterlebend, sondern nur sich fugend. Es war aufierst hinderlich und nach einer Weile geradezu schrecklich. Aber selbst dann hatte er es fertiggebracht, mit ihr zusammenzuleben, wenn sie sich dahin geeinigt hatten, dafi jeder fur sich blieb. Aber merkwurdigerweise lehnte gerade Katherine das ab. Sie mufiten, nach ihrer Ansicht, wenn irgend moglich, ein Kind zur Welt bringen. So vollzog sich der Vorgang weiterhin ganz regelmafiig einmal in der Woche, wenn es nicht gerade unmoglich war. Sie pflegte ihn sogar am Morgen daran zu erinnern als an etwas, das an dem betreffenden Abend getan und nicht vergessen werden durfte. Sie hatte zwei Bezeichnungen dafur, die eine hiefi »an unser Baby denken«, und die andere »unsere Pflicht gegenuber der Partei erfullen« (ja, diesen Ausdruck hatte sie tatsachlich gebraucht). Bald schon entwickelte sich bei Winston ein Gefuhl ehrlicher Angst, wenn der betreffende Tag nahte. Aber glucklicherweise kam kein Kind, und zu guter Letzt war sie einverstanden, den Versuch aufzugeben. Und bald darauf gingen sie auseinander. Winston seufzte horbar. Wieder ergriff er seinen Federhalter, und dann schrieb er weiter in das Tagebuch: „Sie warf sich aufs Bett, und sofort, ohne jede Vorbereitung, raffte sie in der gemeinsten, abscheulichsten Weise, die man sich vorstellen kann, ihren Rock hoch. Ich..." Er sah sich wieder in dem truben Lampenlicht stehen und spurte in seiner Nase den Geruch nach Wanzen und billigem Parfum. In seinem Herzen stieg ein Gefuhl der Niedergeschlagenheit und Reue auf, das in diesem Augenblick sogar mit dem Gedanken an den weifien Leib Katherines verschwamm, den die hypnotische Macht der Partei fur immer hatte zu Eis erstarren lassen. Warum mufite es immer so sein? Warum konnte er nicht eine Frau fur sich haben, statt dieser schmutzigen Schlampen, in Abstanden von Jahren? 79 Aber ein wirkliches Liebeserlebnis war ein nahezu unvorstellbares Ereignis. Die Frauen aus der Partei waren sich alle gleich. Die Enthaltsamkeit war ihnen ebenso tief eingeimpft wie die Treue zur Partei. Durch sorgfaltige fruhzeitige Lenkung, durch Sport und Kaltwasser, durch den ganzen Unsinn, der ihnen in der Schule, bei den Spahern und in der Jugendliga eingetrichtert wurde, durch Vortrage, Paraden, Lieder, Parteischlagworte und Militarmusik war ihnen jedes naturliche Gefuhl ausgetrieben worden. Wenn sein Verstand ihm auch sagte, dafi es Ausnahmen geben musse, glaubte sein Herz doch nicht daran. Diese Frauen waren alle, genau wie die Partei es haben wollte, nicht zu erschuttern. Er aber wunschte sich, sogar noch sehnlicher, als geliebt zu werden, diese Tugendmauer niederzureifien, und ware es auch nur ein einziges Mai in seinem Leben. Der Akt der geschlechtlichen Verschmelzung, wenn er gluckhaft vollzogen wurde, war ein Akt der Auflehnung. Die Begierde war ein Gedankenverbrechen. Sogar Katherine geweckt zu haben - wenn ihm das je gelungen ware -, hatte als Verfuhrung gegolten, obwohl sie seine Frau war. Aber der Schlufi der Geschichte mufite zu Papier gebracht werden. Er schrieb: „Ich schraubte die Lampe hoch. Als ich sie bei Lichtsah..." Nach der Dunkelheit war ihm das schwache Licht der Paraffinlampe sehr hell erschienen. Zum erstenmal konnte er die Frau richtig sehen. Er hatte einen Schritt auf sie zu gemacht und war dann, erfullt von Begierde und Angst, stehen geblieben. Er war sich qualvoll der Gefahr bewufit, die er damit auf sich genommen hatte, dafi er hier hereingekommen war. Es war sehr wohl moglich, dafi ihn eine Streife beim Herauskommen abfing: vielleicht warteten sie in diesem Augenblick schon draufien vor der Tur. Wenn er nun fortging, ohne zu tun, weswegen er gekommen war. Es war sehr wohl moglich, dafi ihn eine Streife beim Herauskommen abfing: vielleicht warteten sie in diesem Augenblick schon draufien vor der Tur. Wenn er nun fortging, ohne es zu tun... 80 Es mufite niedergeschrieben, mufite gebeichtet werden. In der vollen Flut des Lampenlichts hatte er plotzlich erkannt: die Frau war uralt. Die Schminke in ihrem Gesicht war so dick aufgetragen, dafi es aussah, als konnte sie Sprunge bekommen, wie eine Maske aus Pappe. In ihrem Haar waren weifie Strahnen. Aber die grausigste Einzelheit war, dafi ihr halbgeoffneter Mund nichts enthullte als eine schwarze Hohle. Sie hatte uberhaupt keine Zahne. Hastig schrieb er mit kritzeligen Zugen: „Bei Licht gesehen, war sie eine ganz alte Frau, wenigstens funfzig Jahre alt. Aber ich liefi mich nicht abschrecken und tat es trotzdem. . ." Wieder presste er die Finger gegen seine Augenlider. Endlich hatte er es hingeschrieben. Aber es half nichts, die Therapie hatte nicht gewirkt. Sein Verlangen, mit lauter Stimme unflatige Worte hinauszuschreien, war genauso heftig wie je zuvor. Siebentes Kapitel „Wenn es noch eine Hoffnung gibt", schrieb Winston, „so liegt sie bei den Proles!" Wenn es eine Hoffnung gab, so mufite sie einfach bei den Proles liegen, denn nur dort, in diesen unbeachtet durcheinanderwimmelnden Massen, die 85 Prozent der Bevolkerung Ozeaniens ausmachten, konnte jemals die Kraft entstehen, das System zu zerschlagen. Von innen her konnte die Partei nicht gesturzt werden. Ihren Feinden, wenn sie uberhaupt Feinde hatte, bot sich keinerlei Moglichkeit, zusammenzukommen oder auch nur einander zu erkennen. Sogar wenn die legendare »Bruderschaft« wirklich existierte, was immerhin moglich war, blieb es doch unvorstellbar, dafi ihre 81 Mitglieder sich jemals in grofierer Anzahl als zu zweien oder dreien versammeln konnten. Ein Blick in die Augen, eine Modulation der Stimme bedeutete schon Rebellion; das Aufierste war ein geflustertes Wort. Aber die Proles, wenn sie sich nur ihrer Macht bewusst werden konnten, hatten es gar nicht notig, eine Verschworung anzuzetteln. Sie brauchten nur aufzustehen und sich zu schutteln, wie ein Pferd, das die Fliegen abschuttelt. Wenn sie wollten, konnten sie die Partei morgen in Stucke schlagen. Sicherlich mufite ihnen fruher oder spater der Gedanke dazu kommen! Und doch... Er erinnerte sich, wie er einmal eine volkreiche Strafie hinuntergegangen war, als sich ein machtiges Geschrei von Hunderten von Stimmen - Frauenstimmen - in einer dicht vor ihm gelegenen Seitenstrafie erhob. Es war ein grofier, furchtbarer Aufschrei des Zorns und der Verzweiflung, ein tiefes, lautes »Oooh!«, das wie eine Glocke weiterdrohnte. Sein Herz hatte ausgesetzt. Es ist soweit! hatte er gedacht. Eine Volkserhebung! Die Proles wachen endlich auf! Als er die Stelle erreicht hatte, sah er einen Pobelhaufen von zwei- oder dreihundert Weibern sich mit tragischen Mienen, als seien sie die dem Untergang geweihten Passagiere eines sinkenden Schiffes, um die Verkaufsstande eines Strafienmarktes drangen. Aber im gleichen Augenblick loste sich die allgemeine Verzweiflung in eine Menge einzelner Zankereien auf. Es stellte sich heraus, dafi an einem der Stande Blechpfannen verkauft worden waren. Armselige, schabige Dinger - aber Kochgeschirr jeglicher Art war immer schwierig zu bekommen. Nun war der Vorrat unerwarteterweise schon erschopft. Die Frauen, denen es gegluckt war, ein Stuck zu ergattern, versuchten sich mit ihren Blechpfannen, von den ubrigen gestofien und gedrangt, davonzumachen, wahrend Dutzende von anderen vor dem Verkaufsstand larmten, die Verkauferin der Bevorzugung beschuldigten und behaupteten, sie habe irgendwo noch mehr Blechpfannen in der Reserve. Ein erneutes Geschrei brach aus. 82 Zwei aufgedunsene Frauenspersonen, von denen der einen die Frisur aufging, hielten dieselbe Blechpfanne fest und versuchten, sie einander aus der Hand zu reifien. Einen Augenblick zerrten beide daran, dann brach der Stiel ab. Winston beobachtete sie angeekelt. Und doch, welche fast erschreckende Macht hatte fur einen kurzen Augenblick aus diesem Schrei aus ein paar hundert Kehlen geklungen! Warum konnten sie niemals tiber etwas Wichtiges so aufschreien? Er schrieb: „Sie werden sich niemals auflehnen, solange sie sich nicht ihrer Macht bewufit sind, und erst nachdem sie sich aufgelehnt haben, konnen sie sich ihrer Macht bewufit werden. Aufierdem sind sie in der Masse ohne Geist und es fehlt ihnen ein Anfuhrer..." Das hatte beinahe einem der Parteilehrbucher entnommen sein konnen, uberlegte er. Die Partei erhob naturlich Anspruch darauf, die Proles aus der Knechtschaft befreit zu haben. Vor der Revolution waren sie von den Kapitalisten schmahlich unterdruckt worden, man hatte sie hungern lassen und ausgepeitscht, Frauen mufiten in den Kohlenbergwerken arbeiten (Frauen arbeiteten ubrigens in Wirklichkeit noch immer in den Kohlenbergwerken), Kinder waren im Alter von sechs Jahren an die Fabriken verkauft worden. Aber gleichzeitig lehrte die Partei, getreu den Grundsatzen des Doppeldenk, die Proles seien von Natur aus minderwertige Geschopfe, die durch die Anwendung von einigen wenigen einfachen Verordnungen wie die Tiere im Zaum gehalten werden mufiten. In Wahrheit wufite man sehr wenig tiber die Proles. Man brauchte nicht viel zu wissen. Solange sie nur arbeiteten und sich fortpflanzten, waren ihre tibrigen Lebensaufierungen unwichtig. Sich selbst tiberlassen wie das Vieh, das man auf die Weiden Argentiniens hinaustreibt, waren sie zu einem ihnen offenbar nattirlichen Lebensstil, einer Art alter Uberlieferung, zurtickgekehrt. Sie wurden geboren, wuchsen in der Gosse auf, gingen mit zwolf Jahren an die Arbeit, durchlebten eine kurze Bltitezeit korperlicher Schonheit und sinnlicher Begierde, 83 heirateten mit zwanzig, alterten mit dreifiig und starben zum grofiten Teil mit sechzig Jahren. Schwere korperliche Arbeit, die Sorge um Heim und Kinder, kleinliche Streitigkeiten mit Nachbarn, Kino, Fufiball, Bier und vor allem Glucksspiele fullten den Rahmen ihres Denkens aus. Es war nicht schwer, sie unter Kontrolle zu halten. Nur ein paar Agenten der Gedankenpolizei bewegten sich standig unter ihnen, um falsche Geruchte zu verbreiten und diejenigen zu notieren und verschwinden zu lassen, die vielleicht gefahrlich werden konnten. Aber es wurde kein Versuch unternommen, die Proles mit der Partei-Ideologie vertraut zu machen. Es war nicht wunschenswert, dafi sie ein starkes politisches Bewufitsein hatten. Von ihnen wurde nur ein primitiver Gehorsam verlangt, an den man gegebenenfalls appellieren konnte, wenn sie sich mit einer Verlangerung ihrer Arbeitsstunden oder einer Kurzung der Rationen abfinden mufiten. Und sogar, wenn sie einmal unzufrieden wurden, fuhrte ihre Unzufriedenheit zu nichts, denn da sie ganz ohne einen leitenden Gedanken waren, richtete sich diese Unzufriedenheit nur auf belanglose jeweilige Ubelstande. Die grofieren Ubelstande entgingen unweigerlich ihrer Aufmerksamkeit. Die grofie Mehrheit der Proles hatte nicht einmal einen Televisor in ihrer Wohnung. Selbst die gewohnliche Polizei mischte sich nur sehr wenig in ihre Angelegenheiten. Es gab in London ein weit verbreitetes Verbrechertum, eine ganz in sich geschlossene Welt von Dieben, Strafienraubern, Prostituierten, bekannten Rauschgift- und Schwarzhandlern. Aber da sich das alles nur unter den Proles abspielte, war es ohne Bedeutung. In alien ethischen Fragen liefi man sie ihrer alten Tradition folgen. Der sexuelle Puritanismus der Partei wurde ihnen nicht aufgezwungen. Aufierehelicher Geschlechtsverkehr blieb unbestraft, Scheidungen waren erlaubt. Selbst die Ausubung einer Religion ware gestattet worden, wenn die Proles irgendwie das Bedurfnis oder den Wunsch danach zum Ausdruck gebracht 84 hatten. Sie waren tiber jeden Verdacht erhaben. Wie ein Schlagwort der Partei es ausdruckt: »Proles und Tiere sind frei.« Winston beugte sich vor und kratzte vorsichtig seine Krampfaderknoten, die wieder zu jucken angefangen hatten. Der Punkt, auf den man unausweichlich immer wieder zuruckgefuhrt wurde, war die Unmoglichkeit, sich ein Bild von dem Leben vor der Revolution zu machen. Er zog aus der Schublade ein Geschichtsbuch fur Schulkinder hervor, das er von Frau Parsons entliehen hatte, und begann ein Stuck daraus in sein Tagebuch abzuschreiben: „In den alten Zeiten vor der glorreichen Revolution war London nicht die herrliche Stadt, als die wir es heute kennen. Es war ein dusterer, schmutziger, armseliger Ort, wo kaum jemand genug zu essen und Tausende von armen Menschen keine Schuhe an ihren Fufien und nicht einmal ein Dach uberm Kopf hatten, unter dem sie schlafen konnten. Kinder in Euerm Alter mufiten zwolf Stunden am Tag fur grausame Arbeitgeber schuften, die sie mit Peitschen schlugen, wenn sie zu langsam arbeiteten, und ihnen nur trockenes Brot und Wasser zu essen gaben. Aber inmitten dieser schrecklichen Armut gab es ein paar grofie, schone Hauser, die von den Reichen bewohnt wurden, die bis zu dreifiig Dienstboten zu ihrer Bedienung hatten. Diese Reichen nannte man Kapitalisten. Sie waren dicke, hafiliche Menschen mit bosen Gesichtern, wie der auf der nachsten Seite Abgebildete. Er tragt, wie Ihr seht, einen langen schwarzen Rock, der Gehrock genannt wurde, und einen komischen, glanzenden Hut von der Form eines Ofenrohrs, der Zylinder hiefi. Das war die Kleidung der Kapitalisten, und niemand sonst durfte sie tragen. Den Kapitalisten gehorte alles, was es auf der Welt gab, und alle anderen Menschen waren ihre Sklaven. Sie besafien das ganze Land, alle Hauser, alle Fabriken und alles Geld. Wenn jemand ihnen nicht gehorchte, liefien sie ihn ins Gefangnis werfen oder nahmen ihm die Arbeit weg, damit er verhungerte. Wenn ein gewohnlicher Mensch mit einem Kapitalisten sprach, 85 mufite er sich ducken und vor ihm katzbuckeln, seine Mutze abnehmen und ihn mit »Gnadiger Herr« anreden. Der Hauptling der Kapitalisten wurde Konig genannt und..." Aber er kannte diese alte Leier schon. Es wurde sich die Beschreibung der Bischofe mit ihren Batistarmeln anschliefien, der Richter in ihren Hermelinroben, des Prangers, des Blocks, der Tretmiihle, der neunschwanzigen Katze, des Banketts des Londoner Oberburgermeisters und des Brauchs, dem Papst den Schuh zu kussen. Auch hatte es so etwas wie das sogenannte „jus primae noctis" gegeben, was vermutlich nicht in einem Kinderlehrbuch stehen wurde. Das war ein Gesetz, nach dem jeder Kapitalist das Recht hatte, mit jedem in seinen Fabriken beschaftigten Madchen zu schlafen. Er konnte nicht sagen, wie viel von all dem Luge war. Es mochte wahr sein, dafi es dem Durchschnittsmenschen heute besser ging als vor der Revolution. Der einzige Gegenbeweis war der stumme Protest im eigenen Innern, das instinktive Gefuhl, dafi die Bedingungen, unter denen man lebte, unertraglich waren und fruher anders gewesen sein mufiten. Es fiel ihm auf, dafi das wirklich Charakteristische des heutigen Lebens nicht seine Grausamkeit und Unsicherheit, sondern einfach seine Nacktheit, seine Schabigkeit, seine Ruhelosigkeit war. Das Leben hatte, wenn man um sich blickte, nicht nur keinerlei Ahnlichkeit mit den Liigen, die aus dem Televisor stromten, sondern entsprach nicht einmal den Idealen, wie sie die Partei aufstellte. Ein grofier Teil des Lebens spielte sich, selbst fur ein Parteimitglied, auf einer neutralen und unpolitischen Ebene ab und bestand darin, sich mit langweiliger Arbeit abzuplagen, sich einen Platz in der Untergrundbahn zu erobern, eine zerrissene Socke zu stopfen, eine Sacharintablette zu erbetteln, einen Zigarettenstummel aufzubewahren. Das von der Partei propagierte Ideal war etwas Grofies, Schreckliches, Gleifiendes - eine Welt aus Stahl und Beton, eine Welt riesiger Maschinen und furchtbarer Waffen - mit einer Bevolkerung aus Kriegern und Fanatikern, die vollig geschlossen 86 voranmarschierte, immer mit den gleichen Gedanken und den gleichen Schlachtrufen. Eine Welt, in der alle pausenlos arbeiteten, kampften, siegten, verfolgten - dreihundert Millionen Menschen, alle mit den gleichen Gesichtern. Die Wirklichkeit aber waren zerfallende, heruntergekommene Stadte, durch deren Strafien unterernahrte Menschen in durchlocherten Schuhen schlichen und in deren notdurftig ausgebesserten Hausern aus dem neunzehnten Jahrhundert wohnten, wo es immer nach Kohl und schadhaften Aborten roch. Alles verrottete und verkam, wahrend aus einem ehemals grofien Volk eine kulturlose, verdummte Sklavenmasse geworden war. Ihm war, als sahe er eine Vision von London als einer riesigen Trummerstadt, einer Stadt von Millionen Kehrichthaufen, und dahinter ein Bild von Frau Parsons, einer Frau mit durchfurchtem Gesicht und verwuschelten Haaren, die hilflos an einem verstopften Ausgufi herumhantierte. Er buckte sich und kratzte wieder an seinem Knochel. Tag und Nacht knatterte einem der Televisor die Ohren voll mit Statistiken, aus denen hervorging, dafi die Menschen heutzutage mehr zu essen, mehr anzuziehen, bessere Wohnungen und eine bessere Freizeitgestaltung hatten - dafi sie langer lebten und ihre Arbeitszeit kurzer war, dafi sie grofier, gesunder, kraftiger, glucklicher, klilger, gebildeter waren als die Menschen vor funfzig Jahren. Kein Wort davon konnte je belegt oder widerlegt werden. Die Partei behauptete zum Beispiel, gegenwartig konnten 40 Prozent der erwachsenen Proles lesen und schreiben: vor der Revolution, hiefi es, habe die Zahl nur 15 Prozent betragen. Die Partei behauptete, die Kindersterblichkeit belaufe sich jetzt nur noch auf einhundertundsechzig pro Tausend, wahlend sie vor der Revolution dreihundert betragen habe - und so ging es weiter. Es war ein ewiges Jonglieren mit zwei Unbekannten. Es konnte sehr gut moglich sein, dafi buchstablich jedes Wort in den Geschichtsbuchern, sogar das, was man unbedenklich hinnahm, frei erfunden war. Es brauchte ein Gesetz wie das „jus primae 87 noctis" oder ein Wesen wie den Kapitalisten oder eine Kopfbedeckung wie den Zylinderhut nie gegeben zu haben. Alles loste sich in Nebel auf. Die Vergangenheit war ausradiert, und dann war sogar die Tatsache des Radierens vergessen, die Luge war zur Wahrheit geworden. Nur einmal in seinem Leben hatte er - post factum, darauf kam es an - den greifbaren, unverkennbaren Beweis einer Falschung gehabt. Er hatte ihn ganze dreifiig Sekunden in seinen Handen gehalten. Es mufite im Jahre 1973 gewesen sein - jedenfalls war es urn die Zeit herum, als er und Katherine sich getrennt hatten. Aber das Datum, worauf es dabei ankam, lag noch sieben oder acht Jahre weiter zuruck. Die Geschichte begann eigentlich um die Mitte der sechziger Jahre, der Zeit der grofien Sauberungsaktionen, in der die ursprunglichen Filhrer der Revolution ein fur allemal beseitigt worden waren. Um das Jahr 1970 war keiner von ihnen mehr ubrig, aufier dem Grofien Bruder selbst. Alle anderen waren inzwischen als Verrater und Konterrevolutionare uberfuhrt worden. Goldstein war geflohen und hielt sich irgendwo verborgen, und von den anderen waren ein paar einfach verschwunden, wahrend die Mehrzahl nach aufsehenerregenden Schauprozessen hingerichtet worden war, bei denen sie Gestandnisse ihrer Verbrechen ablegten. Unter den letzten Uberlebenden waren drei Manner namens Jones, Aaronson und Rutherford. Um das Jahr 1965 herum mufiten auch diese drei verhaftet worden sein. Wie es haufig vorkam, blieben sie ein Jahr oder langer verschwunden, so dafi man nicht wufite, ob sie uberhaupt noch lebten, und waren dann plotzlich wieder aus der Versenkung hervorgeholt worden, um sich in der ublichen Weise selbst anzuschuldigen. Sie hatten sich des Einverstandnisses mit dem Feind schuldig bekannt (auch damals war Eurasien der Feind), der Unterschlagung offentlicher Gelder, des Mordes an verschiedenen alten Parteimitgliedern, einer Verschworung gegen die Fuhrerschaft des Grofien Bruders, die lange vor 88 Ausbruch der Revolution begonnen hatte, und endlich an Sabotagehandlungen, die den Tod von Hunderttausenden von Menschen herbeigefuhrt hatten. Nachdem sie sich dieser Dinge angeklagt hatten, waren sie begnadigt, wieder in die Partei aufgenommen und mit bedeutsam klingenden Posten betraut worden, die in Wahrheit nur Sinekuren waren. Alle drei hatten umfangreiche kriecherische Erklarungen in der Times veroffentlicht, in denen sie die Grunde fur ihren Treuebruch im Einzelnen auseinander setzten und sich zu bessern versprachen. Einige Zeit nach ihrer Freilassung hatte Winston alle drei sogar im Cafe »Kastanienbaum« gesehen. Er entsann sich des gebannten Entsetzens, mit dem er sie aus den Augenwinkeln beobachtet hatte. Sie waren weit alter als er, Uberbleibsel aus einer vergangenen Welt, beinahe die letzten grofien Gestalten aus der heroischen Anfangszeit der Partei. Der Zauber der Untergrundbewegung und des Burgerkrieges umwob sie noch ein wenig. Er hatte das Gefuhl - wenn damals auch schon Tatsachen und Daten zu verschwimmen begannen -, dafi er ihre Namen Jahre vor dem des Grofien Bruders gekannt hatte. Aber zugleich waren sie Geachtete, Feinde, Parias, die mit absoluter Sicherheit in ein oder zwei Jahren der Vernichtung anheim fielen. Kein Mensch, der einmal in die Hande der Gedankenpolizei gefallen war, kam schliefilich heil davon. Sie waren Leichen auf Urlaub. Kein Mensch safi an einem der Tische in ihrer unmittelbaren Nahe. Es war nicht ratsam, auch nur in der Nachbarschaft solcher Leute gesehen zu werden. Sie safien schweigend vor ihren Glasern mit Gin, dem hier, als Spezialitat des Cafes, ein Aroma von Gewurznelken beigesetzt war. Das Aussehen Rutherfords hatte von den dreien den tiefsten Eindruck auf Winston gemacht. Rutherford war fruher ein beruhmter Karikaturist gewesen, dessen schonungslose Zeichnungen vor und nach der Revolution dazu beigetragen hatten, die Massen aufzupeitschen. Selbst jetzt noch erschienen in grofien Abstanden seine Witzzeichnungen in der Times. Sie 89 waren lediglich eine Imitation seiner fruheren Technik und merkwurdig leblos und unuberzeugend. Es war ein ewiges Wiederkauen der alten Themen: Elendswohnungen, verhungernde Kinder, Strafienschlachten, Kapitalisten mit Zylinderhuten - sogar auf den Barrikaden schienen die Kapitalisten noch an ihren Zylinderhuten festzuhalten, ein endloses, hoffnungsloses Bemuhen, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Er war ein unformig grofier Mann mit einer fettigen grauen Mahne, einem pickeligen, gedunsenen Gesicht und dicken Negerlippen. Er mufite einmal riesig stark gewesen sein; jetzt war sein schwerer Korper gebeugt, zerbrochen, aufgeschwemmt und loste sich in seine Bestandteile auf. Er schien vor den Augen des Betrachters auseinander zufallen, wie ein ins Rutschen geratener Sandberg. Es war die stille Stunde um funfzehn Uhr. Winston konnte sich nicht mehr erinnern, wieso er gerade zu dieser Zeit in das Cafe gekommen war. Das Lokal war fast leer. Aus dem Televisor rieselte Blechmusik. Die drei Manner safien fast regungslos in ihrer Ecke, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Unaufgefordert brachte der Kellner neue Glaser mit Gin. Neben ihnen auf dem Tisch stand ein Schachbrett mit aufgestellten Figuren, aber die drei spielten nicht. Und dann ereignete sich, vielleicht im Ganzen eine halbe Minute lang, etwas Merkwurdiges mit den Televisoren. Das eben gespielte Musikstuck anderte sich, nicht allein in der Melodie, auch in der Klangfarbe. Es kam etwas hinein - aber es war schwer zu beschreiben, was es war. Ein seltsam gebrochener, schmetternder, hohnischer Klang: Winston nannte es bei sich einen gelben Klang. Und dann sang eine Stimme aus dem Televisor das alte Liedchen: Under the spreading chestnut tree, I sold you and you sold me, There lie they, and here lie we, Under the spreading chestnut tree... Die drei Manner machten keine Bewegung. Aber als Winston einen heimlichen Blick auf Rutherfords verfallenes Gesicht warf, 90 sah er, dafi dessen Augen voller Tranen standen. Und jetzt bemerkte er zum erstenmal mit einem innerlichen Schaudern, dafi sowohl Aaronson als Rutherford gebrochene Nasenbeine hatten. Kurze Zeit darauf wurden alle drei aufs Neue verhaftet. Es stellte sich heraus, dafi sie vom Augenblick ihrer Entlassung an sich in neue Verschworungen eingelassen hatten. Bei ihrer zweiten Verhandlung bekannten sie sich noch einmal zu ihren alten Verbrechen, nebst einer ganzen Reihe neuer. Sie wurden hingerichtet und ihr Schicksal als Warnung fur spatere Generationen in den Partei-Annalen aufgezeichnet. Etwa funf Jahre danach, im Jahre 1973, als Winston ein Bundel Dokumente aufrollte, die gerade aus der Rohrpostleitung auf seinen Schreibtisch geplumpst waren, stiefi er auf einen Zeitungsausschnitt, der offenbar zwischen die anderen Papiere geraten und dann vergessen worden war. Als er ihn glatt strich, erkannte er sofort seine Bedeutung. Es war eine herausgerissene halbe Seite aus einer etwa zehn Jahre alten Times - die obere Halfte des Blattes, so dafi noch das Datum darauf war - und enthielt ein Bild der Delegierten bei irgendeiner Parteiveranstaltung in New York. Deutlich im Mittelpunkt der Gruppe hervorgehoben standen Jones, Aaronson und Rutherford. Sie waren leicht zu erkennen; aufierdem standen ihre Namen darunter auf dem Begleittext. Der springende Punkt war nun, dafi bei beiden Verhandlungen alle drei Manner gestanden hatten, sich zu diesem Zeitpunkt auf eurasischem Gebiet befunden zu haben. Sie seien von einem geheimen Flughafen in Kanada zu einem Zusammentreffen irgendwo in Sibirien geflogen, hatten mit Mitgliedern des eurasischen Generalstabs Beratungen gepflogen und ihnen wichtige militarische Geheimnisse verraten. Das Datum hatte sich Winstons Gedachtnis eingepragt, weil es zufallig mit dem Sommeranfang zusammenfiel. Aber die ganze Sache mufite noch an zahllosen 91 anderen Stellen aufgezeichnet sein. Es gab nur eine mogliche Schlussfolgerung: die Gestandnisse waren Lugen. Naturlich war das an sich keine neue Entdeckung. Sogar damals hatte Winston keinen Augenblick geglaubt, dafi die bei den Sauberungsaktionen Hingerichteten wirklich der Verbrechen schuldig seien, deren man sie bezichtigte. Hier aber handelte es sich um einen greifbaren Beweis; hier hielt er ein Fragment der ausgetilgten Vergangenheit in Handen, wie einen fossilen Knochen, der in der verkehrten Gesteinsschicht aufgetaucht war und eine geologische Theorie zunichte machte. Wenn das Dokument auf irgendeine Weise der Welt bekannt gemacht und seine Bedeutung erklart werden konnte, genugte es, um die Partei in Atome zu zersprengen. Er hatte ruhig weitergearbeitet. Sobald er gesehen hatte, was das Bild darstellte und was es bedeutete, hatte er es mit einem anderen Blatt Papier zugedeckt. Glucklicherweise war der Zeitungsausschnitt beim Aufrollen mit der Ruckseite dem Blickfeld des Televisors zugekehrt gewesen. Er legte seine Schreibunterlage auf die Knie und schob seinen Stuhl zuriick, um moglichst weit von dem Televisor abzuriicken. Ein ausdrucksloses Gesicht zu bewahren, war nicht schwer, und mit einer entsprechenden Willensanstrengung konnte man sogar seine Atemzuge beherrschen; nicht aber das Pochen des Herzens, und der Televisor war durchaus empfindlich genug, um es aufzufangen. Er liefi seiner Berechnung nach zehn Minuten verstreichen, die ganze Zeit gequalt von der Angst, ein Zufall - ein plotzlich tiber seinen Schreibtisch wehender Zugwind zum Beispiel - konnte ihn verraten. Dann warf er das Bild, ohne es noch einmal aufzudecken, zugleich mit einigen anderen Papierabfallen, in das Gedachtnis-Loch. Eine Minute spater war es wahrscheinlich schon zu Asche zerfallen. Das lag zehn, elf Jahre zuriick. Heute hatte er das Bild vielleicht aufbewahrt. Es war seltsam, dafi die Tatsache, es in Handen gehalten zu haben, fur ihn sogar heute noch von Bedeutung war, obwohl doch das Bild selbst ebenso wie das darauf festgehaltene Slayer69420@familie-kempen.de 92 Ereignis so weit zurucklag. War die Macht der Partei tiber die Vergangenheit weniger grofi, fragte er sich, weil ein Beweisstuck, das nicht mehr existierte, wenigstens einmal existiert hatte? Heute jedoch ware das Bild, selbst wenn man es wieder aus seinen Aschenresten rekonstruieren konnte, wohl kein Beweis mehr. Bereits damals, als er es entdeckte, befand sich Ozeanien nicht mehr im Kriegszustand mit Eurasien, und die drei toten Manner hatten folglich Ozeanien an Agenten von Ostasien verraten haben mussen. Seitdem waren andere Konstellationen eingetreten, zwei oder drei, er konnte sich nicht erinnern, wie viele. Sehr wahrscheinlich waren die Gestandnisse wieder und wieder umgeschrieben worden, bis die ursprunglichen Tatsachen und Daten nicht mehr die geringste Bedeutung hatten. Nicht genug, dafi die Vergangenheit sich veranderte, ihre Veranderung war fortlaufend und unaufhorlich. Mit dem Gefuhl eines Alptraums bedruckte ihn am meisten, dafi er nie ganz begriffen hatte, warum der ganze riesige Schwindel uberhaupt vollzogen wurde. Die unmittelbaren Vorteile einer Falschung der Vergangenheit waren offensichtlich, aber das letzte, ureigentliche Motiv war schleierhaft. Er griff wieder zu seinem Federhalter und schrieb: Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum. Er fragte sich wie schon oft, ob er wahnsinnig geworden war. Vielleicht war ein Wahnsinniger nichts weiter als eine Minderheit, die nur aus einem Menschen bestand. Es hatte eine Zeit gegeben, in der es als Zeichen von Wahnsinn gait, zu glauben, die Erde drehe sich um die Sonne; heute war es Wahnsinn, zu glauben, die Vergangenheit stunde ein fur allemal fest. Er stand vielleicht ganz allein da mit diesem Glauben, wenn er aber allein war, dann war er ein Wahnsinniger. Aber der Gedanke, wahnsinnig zu sein, beunruhigte ihn weniger als die furchtbare Vorstellung, dafi auch er Unrecht haben konnte. Er nahm das Geschichtsbuch fur Kinder zur Hand und betrachtete das Bildnis des Grofien Bruders auf dem Titelblatt. Die hypnotischen Augen starrten in die seinen. Es war, als drucke einen eine zwingende Kraft nieder - etwas, das einem in den 93 Schadel eindrang, das Gehirn bombardierte, einem die eigenen Uberzeugungen austrieb, einen fast dazu brachte, nicht langer dem Zeugnis der eigenen Sinne zu trauen. Zu guter Letzt wurde die Partei verkilnden, dafi zwei und zwei gleich ftinf sei, und man wurde es glauben mussen. Unausweichlich mufite sie fruher oder spater diese Behauptung aufstellen: ihre Lage forderte logisch diese letzte Folgerung. Nicht nur der Wert der Erfahrung, sondern uberhaupt das Vorhandensein einer gegebenen Wirklichkeit wurde von der Philosophic der Partei stillschweigend geleugnet. Die grofite aller Ketzereien war der gesunde Menschenverstand. Und das Furchtbare war nicht, dafi sie einen umbrachten, wenn man anders dachte, sondern dafi sie vielleicht Recht hatten. Denn wie konnen wir schon wissen, ob zwei und zwei wirklich vier ist? Oder ob das Gesetz der Schwerkraft stimmt? Oder ob die Vergangenheit unveranderlich ist? Wenn beides, Vergangenheit und Aufienwelt, nur in der Vorstellung existieren und man die Vorstellung einfach beherrschen kann - was dann? Aber nein! Seine Zuversicht schien sich plotzlich von selbst zu festigen. Ihm war das Gesicht O'Briens in den Sinn gekommen, ohne durch eine offensichtliche Gedankenassoziation heraufbeschworen zu sein. Er wufite mit grofierer Gewissheit als zuvor, dafi O'Brien auf seiner Seite stand. Er schrieb das Tagebuch fur O'Brien - er schrieb es an O'Brien gewissermafien: es war wie ein endloser Brief, den niemand je lesen wurde, der aber an einen bestimmten Menschen gerichtet und von dem Gedanken an ihn belebt war. Die Partei lehrte einen, der Erkenntnis seiner Augen und Ohren nicht zu trauen. Das war ihr entscheidendes, wichtigstes Gebot. Ihm sank der Mut, als er an die riesige Macht dachte, die gegen ihn gerustet stand, die Leichtigkeit, mit der ihm jeder Parteiintelligenzler bei einer Debatte eine Abfuhr erteilen konnte, an die ausgeklugelten Argumente, die er nicht zu verstehen, geschweige denn zu widerlegen vermochte. Und dennoch war er im Recht! Sie hatten Unrecht und er hatte Recht. Das 94 Handgreifliche, das Einfache und das Wahre mufiten verteidigt werden. Binsenwahrheiten sind wahr, daran wollte er festhalten! Die stoffliche Welt ist vorhanden, ihre Gesetze andern sich nicht. Steine sind hart, Wasser ist nafi, jeder Gegenstand, den man loslafit, fallt dem Erdmittelpunkt zu. Mit dem Gefuhl, zu O'Brien zu sprechen und einen wichtigen Grundsatz aufzustellen, schrieb er: Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dafi zwei und zwei gleich vier ist. Sobald das gewahrleistet ist, ergibt sich alles andere von selbst. Achtes Kapitel Irgendwo vom Ende eines Hausflurs drang der Duft gerosteten Kaffees - echten Kaffees, nicht Victory- Kaffees - auf die Strafie. Winston blieb unwillkurlich stehen. Vielleicht zwei Sekunden lang fuhlte er sich in die halbvergessene Welt seiner Kindheit zuriickversetzt. Dann schlug eine Tur ins Schlofi und schien den Duft so unmittelbar und abrupt wie einen Ton abzuschneiden. Er war mehrere Kilometer weit auf hartem Pflaster gelaufen und seine Krampfadern rebellierten. Zum zweitenmal innerhalb von drei Wochen hatte er einen Abend im Gemeinschaftshaus versaumt: eine gewagte Unbesonnenheit, denn man konnte sicher sein, dafi im Gemeinschaftshaus sorgfaltig Buch gefuhrt wurde, wie oft man dort erschien. Im Prinzip hatte ein Parteimitglied keine Freizeit und war, aufier im Bett, niemals allein. Es wurde von ihm erwartet, dafi es, wenn es nicht arbeitete, afi oder schlief, an einer Parteiunterhaltung teilnahm; irgend etwas zu tun, das einen Hang zum Alleinsein verriet, auch nur fur sich einen Spaziergang zu machen, war immer ein wenig gefahrlich. Es gab ein Neusprechwort dafur, das „Selbstleben" hiefi und Individualismus und 95 Schrullenhaftigkeit bezeichnete. An diesem Abend aber hatte ihn beim Verlassen des Ministeriums die milde Aprilluft verlockt. Der Himmel war von einem warmeren Blau, als er es in diesem Jahr bisher gesehen hatte, und plotzlich waren ihm der lange, larmende Abend im Gemeinschaftshaus, die langweiligen, anstrengenden Spiele, die Vortrage, die knarrende, mit Gin geolte Kameradschaft unertraglich vorgekommen. In einer plotzlichen Regung hatte er an der Omnibushaltestelle kehrtgemacht und war in das Labyrinth Londons hineingewandert, erst nach Suden, dann nach Osten, dann wieder nach Norden, sich in unbekannten Strafien verlaufend und gleichgultig, welche Richtung er einschlug. »Wenn es eine Hoffnung gibt«, hatte er in sein Tagebuch geschrieben, »so liegt sie bei den Proles. « Diese Worte wollten ihm nicht aus dem Sinn, sie waren wie die Feststellung einer geheimnisvollen Wahrheit und zugleich einer offensichtlichen Absurditat. Er befand sich irgendwo in dem unubersichtlichen, schmutzfarbenen Elendsviertel nordostlich der fruheren St.-Pancras-Station und schritt eine kopfsteingepflasterte Strafie mit kleinen zweistockigen Hausern entlang, deren windschiefe Turen auf gleicher Hohe mit dem Strafienpflaster lagen und irgendwie sehr uberzeugend an Rattenlocher erinnerten. Da und dort zwischen den Pflastersteinen standen dreckige Wasserpfutzen. Aus den dunklen Hauseingangen und den nach beiden Seiten abzweigenden Gafichen flutete ein erstaunliches Gewimmel von Menschen her und wieder zuruck - uppig aufgebluhte Madchen mit dick bemalten Lippen, junge Burschen, die ihnen nachstellten, und aufgedunsene, schwerfallige Weiber, die einem vor Augen fuhrten, wie eben diese Madchen in zehn Jahren aussehen wurden; aufierdem alte zusammengekrummte Geschopfe, die mit auswarts gerichteten Fufien dahinschlurften, und verwahrloste barfufiige Kinder, die in den Pfutzen spielten und bald darauf, auf die wutenden Schreie ihrer Mutter hin, 96 auseinander stoben. Etwa ein Viertel der Fenster in der Strafie war zerbrochen und mit Brettern verschlagen. Die meisten Menschen schenkten Winston keine Aufmerksamkeit; ein paar musterten ihn mit vorsichtiger Neugier. Von zwei kolofiartigen Weibern, die ihre ziegelroten Unterarme uber der Schurze verschrankt hielten und vor einer Toreinfahrt miteinander tratschten, fing Winston im Naherkommen Gesprachsfetzen auf. »Ja, sag' ich zu ihr, ist recht schon und gut, sag' ich. Aber waren Sie an meiner Stelle gewesen, hatten Sie dasselbe getan, was ich getan hab'. Meckern ist leicht, sag' ich, aber meine Sorgen sind nicht Ihre Sorgen.« »Ach, naturlich«, meinte die andere, »so ist es. Genau so ist es.« Die schrillen Stimmen verstummten plotzlich. Die Frauen musterten ihn in feindseligem Schweigen, als er voruberging. Doch war es nicht eigentlich Feindseligkeit, sondern nur so etwas wie Vorsicht, ein schnelles Wittern beim Wechsel eines unbekannten Tieres. Der blaue Trainingsanzug der Parteimitglieder konnte in einer solchen Strafie kein gewohnter Anblick sein. Im Grunde war es unklug, sich an solchen Orten blicken zu lassen, wenn man nicht nachweislich etwas Dienstliches dort zu tun hatte. Die Streifen konnten einen anhalten, wenn man ihnen zufallig in die Arme lief. »Kann ich Ihren Ausweis sehen, Genosse? Was machen Sie hier? Wann haben Sie Ihren Arbeitsplatz verlassen? Ist das Ihr ublicher Nachhauseweg?« Und so weiter und so weiter. Nicht, dafi es eine Verfugung dagegen gegeben hatte, anders als auf dem gewohnlichen Weg heimzugehen: aber es war, wenn die Gedankenpolizei es erfuhr, schon genug, um die Aufmerksamkeit auf einen zu lenken. Plotzlich war die ganze Strafie in heller Aufregung. Von alien Seiten ertonten Warnungsschreie. Menschen huschten wie Kaninchen in die Hauseingange. Unmittelbar vor Winston sturzte eine junge Frau aus einem Hauseingang heraus, rifi ein winziges, in einer Wasserlache spielendes Kind an sich, wickelte ihre 97 Schurze darum und sprang wieder zuruck, alles in einer einzigen Bewegung. Im gleichen Augenblick lief aus einer Seitengasse ein Mann in einem schwarzen Anzug auf Winston zu und zeigte aufgeregt hinauf zum Himmel. »Ein Dampfer!« schrie er. »Pafi auf, Kumpel! Gleich bumst es. Hau dich hin!« »Dampfer« war der Spitzname, mit dem die Proles aus irgendeinem Grunde die Raketenbomben bezeichneten. Winston warf sich rasch mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Die Proles hatten fast immer recht mit solchen Warnungen. Sie schienen eine Art Instinkt zu besitzen, der sie ein paar Sekunden im Voraus warnte, dafi eine Rakete herannahte, obwohl die Raketengeschosse angeblich schneller waren als der Schall. Winston legte die Arme tiber den Kopf. Ein Krach ertonte, so dafi die Strafiendecke zu bersten schien, und ein Hagelschauer von leichten Gegenstanden prasselte auf Winstons Rucken herab. Als er aufstand, entdeckte er, dafi er mit Glassplittern ubersat war, die von dem nachstgelegenen Fenster stammten. Er ging weiter. Die Bombe hatte, zweihundert Meter weiter die Strafie hinunter, eine Hausergruppe zerstort. Eine schwarze Rauchfahne hing am Himmel, darunter eine Wolke von Mortelstaub, in der sich bereits, rings um die Trummer, eine Menschenmenge sammelte. Vor ihm auf dem Pflaster lag ein kleiner Mortelhaufen, in dessen Mitte er ein hellrotes Rinnsal unterscheiden konnte. Als er naher kam, erkannte er, dafi es eine am Handgelenk abgetrennte Menschenhand war. Abgesehen von dem blutigen Stumpf war die Hand so vollig ausgeblutet, dafi sie einem weifien Gipsabgufi glich. Er schleuderte das Ding mit dem Fufi in den Rinnstein und bog dann nach rechts in eine Seitenstrafie ab, um aus der Menge herauszukommen. In drei oder vier Minuten hatte er die Gegend mit dem Bombenschaden hinter sich gelassen, und das triibseligschmutzige Gewirr belebter Strafien zog sich weiter, als habe sich nichts Besonderes ereignet. Es war fast zwanzig Uhr, und die von den Proles besuchten Kneipen waren gedrangt voll. 98 Aus ihren abgegriffenen, unablassig auf- und zuschlagenden Klappttiren drang ein Geruch nach Urin, Sagemehl und sauerlichem Bier. In einem Winkel hinter einer vorspringenden Hausfront standen drei Manner dicht beieinander; der mittlere hielt eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand, die beiden anderen blickten ihm tiber die Schultern. Noch bevor er nahe genug herangekommen war, um den Ausdruck ihrer Gesichter zu unterscheiden, erkannte Winston schon an der Korperhaltung ihre Spannung. Offenbar lasen sie eine ungemein wichtige Nachricht. Er war noch ein paar Schritte von ihnen entfernt, als die Gruppe plotzlich auseinander fiel, wahrend zwei der Manner in heftigen Wortwechsel gerieten. Einen Augenblick lang wollte es so aussehen, als sollte es zu einer Schlagerei kommen. »Kannst du denn deine Ohren nicht aufmachen, wenn ich dir was sage? Ich sag' dir doch, keine Zahl auf sieben hat jemals gewonnen, seit tiber vierzehn Monaten.« »Aber sicher hat sie gewonnen! « »Nein, keine Spur. Zu Hause hab' ich den ganzen Kram seit tiber zwei Jahren mitgeschrieben. Ich trag' die Ergebnisse immer haargenau ein. Und ich sag' dir, keine Zahl mit sieben am Schlufi . . . « »Und doch hat eine mit sieben gewonnen! Ich kann dir ziemlich genau die Nummer sagen, die letzten Stellen waren vier, null, sieben. Das war im Februar - zweite Februarwoche.« »Lafi dich einpokeln mit deinem Februar! Ich hab' es alles schwarz auf weifi. Und ich sag' dir, keine Zahl..." »Ach, halt's Maul!« sagte der dritte. Sie sprachen tiber die Lotterie. Als er dreifiig Meter weitergegangen war, schaute Winston noch einmal zurtick. Sie stritten mit roten, aufgeregten Gesichtern noch immer. Die Lotterie mit ihren wochentlichen Auszahlungen riesiger Gewinne war das einzige offentliche Ereignis, dem die Proles ernstliche Aufmerksamkeit schenkten. 99 Man durfte annehmen, dafi im Leben von etlichen Millionen Proles die Lotterie den hauptsachlichen, wenn nicht den einzigen Inhalt bildete. Sie war ihre Lust, ihr Steckenpferd, ihr Trost, ihr geistiger Ansporn. Sobald es sich um die Lotterie handelte, schienen sogar Leute, die kaum lesen und schreiben konnten, zu verzwickten Berechnungen und erstaunlichen Gedachtnisleistungen fahig. Eine ganze Kategorie von Menschen verdiente ihren Lebensunterhalt lediglich durch den Verkauf von Systemen, Vorhersagen und Glucksfetischen. Winston hatte selbst nichts mit der Abwicklung der Lotterie zu tun, die dem Ministerium fur Uberflufi unterstand, aber er wufite sehr wohl (in der Partei wufite es jedermann), dafi die Gewinne grofitenteils nur auf dem Papier standen. Nur kleine Betrage wurden wirklich ausbezahlt, wahrend die Gewinner der Haupttreffer frei erfundene Personen waren. Da es zwischen den einzelnen Teilen Ozeaniens keine funktionierenden Verbindungsmoglichkeiten gab, war das unschwer einzurichten. Und doch, wenn es eine Hoffnung gab, so lag sie bei den Proles. Daran mufite man festhalten. In Worten ausgedruckt klang es vernunftig; sah man aber die Menschen an, denen man auf der Strafie begegnete, dann wurde es zu einer Frage des Glaubens. Die Strafie, in die er eingebogen war, fuhrte den Hugel hinunter. Es kam ihm vor, als sei er schon einmal in dieser Gegend gewesen und als musse nicht weit entfernt eine Hauptverkehrsader vorbeigehen. Aus dem Ungewissen vor ihm drang der Larm lauter Stimmen. Die Strafie machte eine Biegung und lief dann in einigen Stufen aus, die zu einer engen Gasse hinunterfuhrten, in der auf ein paar Verkaufsstanden welkes Gemuse feilgeboten wurde. In diesem Augenblick erinnerte sich Winston, wo er war. Die Gasse mundete in eine Hauptstrafie, und nach der nachsten Biegung, keine ftinf Minuten entfernt, kam der Altwarenladen, in dem er das Buch mit den unbeschriebenen Seiten gekauft hatte, das nun sein Tagebuch 100 war. Und in einem kleinen Papierwarengeschaft nicht weit von hier hatte er seinen Federhalter und die Flasche Tinte erstanden. Er blieb einen Augenblick am oberen Ende der Stufen stehen. Auf der anderen Seite der Gasse war eine schabige kleine Kneipe, deren Fenster wie vereist aussahen, wahrend sie in Wirklichkeit nur dick mit Staub uberkrustet waren. Ein uralter Mann, vornuber gebeugt, aber noch rustig, mit einem weifien Schnurrbart, der sich wie die Ruckenflosse eines Stichlings straubte, stiefi die Schwingtur auf und ging hinein. Wahrend Winston beobachtend dastand, ging ihm durch den Sinn, dafi der alte Mann, der wenigstens achtzig Jahre alt sein mufite, bei Ausbruch der Revolution schon in den besten Mannesjahren gestanden hatte. Er und ein paar Leute seiner Generation waren die letzten noch lebenden Bindeglieder zu der verschwundenen Welt des Kapitalismus. In der Partei waren nicht mehr viele Menschen ubrig, deren Weltanschauung vor der Revolution geformt worden war. Die altere Generation war meistenteils bei den grofien Sauberungsaktionen der 1950er und 60er Jahre beseitigt worden, und die paar Uberlebenden waren langst zu volliger geistiger Unterwerfung terrorisiert worden. Wenn es noch einen lebendigen Menschen gab, der imstande war, einem einen wahrheitsgetreuen Bericht von den Verhaltnissen in der ersten Halfte des Jahrhunderts zu geben, so konnte das nur ein Prole sein. Plotzlich fiel Winston wieder die Stelle ein, die er aus dem Geschichtsbuch in sein Tagebuch ubertragen hatte, und ein toller Impuls ergriff von ihm Besitz. Er wiirde in die Kneipe gehen, mit dem alten Mann Bekanntschaft schliefien und ihn ausfragen. Er wiirde zu ihm sagen: »Erzahlen Sie mir von Ihrem Leben, aus Ihrer Kindheit. Wie sah es damals aus? War alles besser als heute? Oder war es vielleicht schlechter?« Rasch, um erst gar keine Angst aufkommen zu lassen, stieg er die Stufen hinunter und uberquerte die schmale Gasse. Es war naturlich einfach Wahnsinn. Wie gewohnlich, gab es kein 101 ausdrilckliches Verbot, mit den Proles zu sprechen und ihre Kneipen aufzusuchen, aber es war ein viel zu ungewohnliches Verhalten, um unbemerkt zu bleiben. Wenn eine Streife erschien, konnte er vielleicht einen Anfall von Unwohlsein vorschutzen, aber es war nicht wahrscheinlich, dafi man ihm glauben wurde. Er stiefi die Tur auf, und ein furchterlicher, kasiger Geruch nach saurem Bier schlug ihm entgegen. Bei seinem Eintritt sank das Stimmengewirr auf etwa eine halbe Lautstarke herab. Hinter seinem Rucken konnte er fuhlen, wie jedermann seinen blauen Trainingsanzug anstarrte. Eine Partie Pfeilwerfen, die am anderen Ende des Lokals im Gange war, kam gute dreifiig Sekunden zum Stillstand. Der alte Mann, dem er nachgegangen war, stand an der Theke und war in einen Wortwechsel mit dem Wirt verwickelt, einem stammigen, hakennasigen jungen Mann mit ungeheuren Unterarmen. Eine Gruppe von Leuten, die mit ihren Glasern in der Hand dastanden, beobachtete die Szene. »Ich hab' Sie hoflich genug gebeten, oder vielleicht nicht?« sagte der alte Mann, wobei er kampflustig seine Schultern reckte. »Und Sie wollen mir weismachen, Sie hatten keine Pinte in der ganzen elenden Bude?« »Wieviel, zum Teufel, ist uberhaupt eine Pinte?« sagte der Wirt, indem er sich, auf die Fingerspitzen gestutzt, weit tiber die Theke beugte. »H6rt euch das an! So was schimpft sich Wirt und weifi nicht einmal, was eine Pinte ist! Eine Pinte ist die Halfte von einem Viertel, und vier Viertel sind eine Gallone. Nachstens mufi ich Ihnen noch das Abe beibringen.« »Noch nie davon gehort«, sagte der Wirt kurz angebunden. »Liter und Halbliter, das ist alles, was wir ausschenken. Dort, vor Ihnen auf dem Bord, stehen die Glaser.« »Ich mochte eine Pinte«, sagte der alte Mann beharrlich. »Sie konnten mir genauso gut eine Pinte einschenken. Wir kannten diese bloden Liter nicht, als ich ein junger Mann war.« »Als Sie ein junger Mann waren, lebten wir alle noch auf den Baumen«, sagte der Wirt mit einem Seitenblick auf die Gaste. 102 Eine Lachsalve brach los, und die durch Winstons Eintritt verursachte Verlegenheit schien uberwunden. Das mit weifien Bartstoppeln ubersate Gesicht des alten Mannes war leicht gerotet. Vor sich hinbrabbelnd wandte er sich von der Theke weg und prallte gegen Winston. Dieser fing ihn sanft am Arm auf. »Darf ich Sie zu einem Glas einladen?« fragte er. »Sie sind ein Gentleman«, sagte der andere und reckte wieder seine Schultern. Er schien Winstons blauen Trainingsanzug nicht bemerkt zu haben. »Eine Pinte!« fugte er angriffslustig an den Schenkkellner hinzu. »Eine Pinte Dunkles.« Der Wirt liefi zwei Halbliter dunkelbraunes Bier in dicke Glaser zischen, die er in einem Eimer unter der Theke ausgespult hatte. Bier war das einzige Getrank, das man in den Proles-Kneipen bekommen konnte. Die Proles sollten keinen Gin trinken, wenn sie ihn sich auch praktisch recht leicht beschaffen konnten. Das Pfeilwerfen war jetzt wieder voll im Gange, und die Menschengruppe an der Theke hatte tiber Lotterielose zu sprechen begonnen. Winstons Anwesenheit war fur eine Weile vergessen. Unter dem Fenster stand ein kleiner Abstelltisch, wo er und der alte Mann, ohne Furcht, belauscht zu werden, plaudern konnten. Es war schrecklich gefahrlich, aber auf alle Falle war kein Televisor in dem Lokal, eine Tatsache, deren sich Winston gleich beim Hereinkommen vergewissert hatte. »Er hatte mir ruhig eine Pinte einschenken konnen«, brummte der alte Mann, wahrend er hinter seinem Glase Platz nahm. »So ist es mir zuwenig. Und ein ganzer Liter ist wieder zuviel. Er schlagt mir auf die Blase. Ganz abgesehen vom Preis.« »Seit Sie ein junger Mann waren, mussen Sie grofie Veranderungen erlebt haben«, sagte Winston, um erst einmal vorzufuhlen. Die blassblauen Augen des alten Mannes wanderten von der Scheibe der Pfeilwerfer zur Theke und von der Theke zu der Tur 103 mit der Aufschrift »Manner«, als ware von den Veranderungen die Rede, die sich in der Wirtsstube vollzogen hatten. »Das Bier war besser«, sagte er schliefilich. »Und billiger! Als ich ein junger Mann war, kostete das Bier - Braunbier pflegten wir es zu nennen - vier Pence die Pinte. Das war freilich vor dem Krieg.« »Welcher Krieg war das?« fragte Winston. »Ein Krieg ist wie der andere«, sagte der alte Mann verschwommen. Er hob sein Glas, und seine Schultern reckten sich wieder. »Auf Ihr Wohl!« Der scharf vorspringende Adamsapfel an seinem mageren Hals machte eine erstaunlich schnelle Bewegung auf und ab, und das Bier war verschwunden. Winston ging an die Theke und kam mit zwei weiteren Halbliterglasern zuruck. Der alte Mann schien seine Bedenken gegen den ganzen Liter vergessen zu haben. »Sie sind sehr viel alter als ich«, sagte Winston. »Sie mussen schon ein erwachsener Mann gewesen sein, ehe ich geboren wurde. Sie konnen sich sicher erinnern, wie es vor der Revolution ausgesehen hat. Menschen in meinem Alter wissen wirklich gar nichts von dieser Zeit. Wir konnen nur in Buchern davon lesen, und was in den Buchern steht, stimmt vielleicht nicht. Ich wufite gerne Ihre Meinung daruber. In den Geschichtsbuchern wird behauptet, dafi das Leben vor der Revolution vollstandig anders gewesen sei als heute. Die schreckliche Unterdruckung, Ungerechtigkeit, Elend - schlimmer als alles, was wir uns vorstellen konnen. Hier in London hatte die grofie Masse des Volkes von der Wiege bis zum Grabe nie genug zu essen. Die Halfte der Menschen besafi nicht einmal Schuhe an den Fufien. Sie arbeiteten zwolf Stunden am Tag, gingen mit neun Jahren von der Schule ab, schliefen zu zehnt in einem Zimmer. Und gleichzeitig gab es einige wenige, nur ein paar Tausend - Kapitalisten wurden sie genannt -, die reich und machtig waren. Ihnen gehorte alles, was man nur besitzen konnte. Sie wohnten in grofien prachtigen Hausern mit dreifiig Dienstboten, fuhren in 104 Automobilen und vierspannigen Wagen umher, tranken Champagner, trugen Zylinderhute...« Der alte Mann wurde auf einmal lebendig. »Zylinder!« rief er aus. »Komisch, dafi Sie das erwahnen. Dasselbe fiel mir erst gestern ein, ich weifi nicht, warum. Ich dachte nur eben, dafi ich seit Jahren keinen Zylinder mehr gesehen hab'. Einfach von der Bildflache verschwunden sind sie. Das letzte Mai, dafi ich einen auf hatte, war beim Begrabnis meiner Schwagerin. Und das war - nun, ich konnte Ihnen das Datum nicht nennen, aber es mufi funfzig Jahre her sein. Naturlich war er nur fur die Gelegenheit ausgeliehen, Sie verstehen.« »Das mit den Zylindern ist nicht sehr wichtig«, sagte Winston geduldig. »Der springende Punkt ist, dafi diese Kapitalisten - zusammen mit ein paar Juristen, Pfarrern und so weiter, die von ihnen lebten - die Herren dieser Erde waren. Alles war fur sie da. Die anderen - das einfache Volk der Arbeiter - waren ihre Sklaven. Sie konnten mit ihnen machen, was sie wollten. Sie konnten sie nach Kanada verschiffen wie das liebe Vieh. Sie konnten mit ihren Tochtern schlafen, wenn es ihnen pafite. Sie konnten die Leute mit einem Ding, das die neunschwanzige Katze hiefi, auspeitschen lassen. Man mufite vor ihnen die Mutze Ziehen. Jeder Kapitalist ging mit einem Trupp Lakaien umher, die . . . « Der alte Mann wurde wiederum lebhafter. »Lakaien!« sagte er. »Das ist auch ein Wort, das ich ewig nicht mehr gehort habe. Lakaien! Das versetzt mich richtig nach damals zuruck, doch, bestimmt. Ich erinnere mich - ach, es ist furchtbar lange her -, da ging ich manchmal am Sonntagnachmittag in den Hydepark, um die Briider ihre Reden schwingen zu horen. Heilsarmee, Katholiken, Juden, Inder - alles war vertreten. Und da war ein Apostel - nee, ich konnte nicht mehr sagen, wie er hiefi, aber ein wirklich mitreifiender Redner, ja, mitreifiend, das war er. Er besorgte es den Burschen nicht schlecht. >Lakaien<, sagte er, >Lakaien der Bourgeoisie! Speichellecker der herrschenden Klasse!< Parasiten! Das war ein anderes 105 Lieblingswort von ihm. Und Hyanen - er hat sie ohne weiteres Hyanen genannt. Er sprach naturlich von der Labour-Partei, verstehen Sie.« Winston hatte das Gefuhl, dafi sie aneinander vorbeiredeten. »Was ich wirklich wissen wollte«, sagte er, »war, ob Sie das Gefuhl haben, dafi jetzt mehr Freiheit herrscht als in jenen Zeiten? Werden Sie mehr wie ein Mensch behandelt? In den alten Zeiten waren die Reichen, die Leute an der Spitze...« »Das Oberhaus!«, warf der alte Mann aus seiner Erinnerung in die Debatte. »Das Oberhaus, wenn Sie so wollen. Was ich nun gerne wissen mochte: Waren diese Leute imstande, einen deshalb als Tieferstehenden zu behandeln, einfach, weil sie reich waren und man selber arm? 1st es zum Beispiel Tatsache, dafi man sie mit >Gnadiger Herr< anreden und die Mutze abnehmen mufite, wenn man an ihnen voruberkam?« Der alte Mann schien angestrengt nachzudenken. Er trank erst ungefahr ein Viertel seines Bieres aus, ehe er antwortete. »Ja«, sagte er dann, »sie sahen es gerne, wenn man vor ihnen an die Mutze griff. Das verriet so was wie Respekt. Mir behagte das personlich auch nicht, aber ich hab's nur zu oft getan. Man mufite eben, wie man wohl sagen wurde.« »Und war es ublich - ich fuhre nur das an, was ich in Geschichtsbuchern gelesen habe -, war es bei diesen Leuten und ihren Bedienten ublich, einen vom Burgersteig einfach herunter in den Rinnstein zu stofien?« »Einer von ihnen hat mich einmal gestofien«, sagte der alte Mann. »Ich erinnere mich noch daran, als ware es gestern gewesen. Es war am Abend nach einer Ruderregatta - die Leute waren immer ganz aufier Rand und Band, am Abend nach einer Ruderregatta -, und ich renne auf der Shaftesbury Avenue in einen jungen Burschen hinein. Der war ein richtig feiner Herr - steifes Hemd, Zylinder, schwarzer Mantel. Er schwankte im Zickzack ubern Gehsteig, und ich bumse aus Versehen gegen ihn. Sagt er: >Konnen Sie nicht aufpassen, wo Sie gehen?< sagt er. Sag' 106 ich: >Glauben Sie, Sie haben das verdammte Trottoir allein gepachtet?< Sagt er: >Ich dreh' dir den Kragen urn, wenn du frech wirst.< Sag' ich: >Sie sind besoffen. Gleich melde ich Sie der Polizei.< Und wollen Sie mir's glauben oder nicht, er legt mir die Hand auf die Brust und gibt mir einen Stofi, dafi ich um ein Haar unter einen Bus geflogen ware. Na, ich war damals noch jung und wollte ihm gerade eine langen, da . . .« Ein Gefuhl der Hilflosigkeit uberkam Winston. Die Erinnerung des alten Mannes war weiter nichts als ein Kehrichthaufen von Einzelheiten. Man hatte ihn den ganzen Tag ausfragen konnen, ohne eine einzige vernunftige Auskunft zu bekommen. Die Geschichtsdarstellungen der Partei konnten zur Halfte wahr sein; ja, sie konnten sogar vollkommen wahr sein. Er machte einen letzten Versuch. »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedruckt«, meinte er. »Was ich sagen wollte, ist folgendes: Sie sind schon lange auf dieser Welt. Sie haben die Halfte Ihres Lebens vor der Revolution gelebt. Im Jahre 1925 zum Beispiel waren Sie schon erwachsen. Wurden Sie nach dem, woran Sie sich noch erinnern konnen, sagen, dafi das Leben 1925 besser oder schlechter war als heute? Wenn Sie wahlen konnten, wurden Sie lieber damals als heute leben wollen? « Der alte Mann blickte nachdenklich auf die Zielscheibe des Wurfspiels. Bedachtiger als zuvor trank er sein Bier aus. Dann sprach er mit einem duldsamen, philosophischen Ausdruck im Gesicht, als habe ihn das Bier milde gestimmt. »Ich weifi, was Sie von mir erwarten. Sie wollen horen, dafi ich lieber wieder jung ware. Die meisten Menschen wurden antworten, wenn man sie fragt, sie waren lieber wieder jung. Man ist bei Kraften und Gesundheit, wenn man jung ist. Wenn man in mein Alter kommt, ist man nie mehr so ganz in Form. Ich habe manchmal bos an meinen kranken Fufien zu leiden, und meine Blase macht mir furchtbar zu schaffen. Sechs- oder siebenmal in der Nacht mufi ich raus. Andererseits sind da 107 wieder grofie Vorteile, wenn man ein alter Mann ist. Man hat nicht mehr dieselben Sorgen. Kein Arger mit den Weibern, das ist schon sehr viel wert. Ich war fast dreifiig Jahre mit keiner Frau mehr zusammen, ob Sie's glauben oder nicht. Hatte kein Verlangen danach, das ist das Beste daran.« Winston lehnte sich gegen den Fenstersims zuruck. Es hatte keinen Zweck, weiterzumachen. Er wollte gerade noch einmal Bier bestellen, als der alte Mann plotzlich aufstand und hastig in das stinkende Pissoir in der Ecke des Lokals schlurfte. Der zusatzliche halbe Liter machte sich bemerkbar. Winston safi noch ein paar Minuten da und starrte in sein leeres Glas. Kaum wurde er sich bewufit, dafi ihn seine Fufie wieder hinaus auf die Strafie trugen. In hochstens zwanzig Jahren, uberlegte er, wurde die grofie und einfache Frage: »War das Leben vor der Revolution besser als heute?« ein fur allemal unbeantwortet bleiben mussen. Im Grunde war sie bereits heute nicht mehr zu beantworten, da die paar verstreuten Uberlebenden der alten Welt nicht imstande waren, das eine Zeitalter mit dem anderen zu vergleichen. Sie erinnerten sich wohl einer Unzahl bedeutungsloser Dinge, an den Streit mit einem Arbeitskollegen, die Suche nach einer verlorenen Fahrradpumpe, den Ausdruck auf dem Gesicht einer langst verstorbenen Schwester, die Staubwirbel an einem windigen Morgen vor siebzig Jahren: aber alle wirklich aufschlufireichen Tatsachen waren ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie waren wie die Ameisen, die wohl kleine, aber keine grofien Gegenstande erkennen konnen. Und wenn es keine Erinnerung mehr gab und alle schriftlichen Berichte gefalscht waren - wenn es soweit war, dann mufite die Behauptung der Partei, die Lebensbedingungen der Menschen verbessert zu haben, als wahr hingenommen werden, weil es keinen Mafistab mehr gab, den man hatte anlegen konnen, und nie mehr einen geben wurde. In diesem Augenblick kam sein Gedankengang plotzlich zum Stillstand. Er blieb stehen und blickte hoch. Er befand sich in einer engen Gasse mit ein paar unbeleuchteten Laden, die 108 zwischen Wohnhausern verstreut lagen. Unmittelbar tiber seinem Kopf hingen drei verfarbte Metallkugeln, die aussahen, als waren sie einmal vergoldet gewesen. Es kam ihm so vor, als kenne er die Stelle. Naturlich! Er stand vor dem Altwarenladen, in dem er das Tagebuch gekauft hatte. Ein jahes Erschrecken durchzuckte ihn. Es war schon hinreichend gewagt gewesen, das Buch uberhaupt zu kaufen, und er hatte sich geschworen, nie wieder in die Nahe des Ladens zu gehen. Und doch hatten ihn in dem Augenblick, als er seinen Gedanken zu schweifen erlaubt hatte, seine Fufie ganz von selbst wieder hierher getragen. Gerade gegen solche selbstmorderischen Impulse hoffte er sich zu wappnen, indem er das Tagebuch begann. Gleichzeitig bemerkte er, dafi der Laden, obwohl es fast einundzwanzig Uhr war, noch immer offengehalten wurde. In dem Gefuhl, drinnen weniger aufzufallen, als wenn er auf dem Gehsteig blieb, trat er durch die Tur ein. Falls gefragt wurde, konnte er glaubhaft versichern, dafi er sich nach Rasierklingen erkundigt habe. Der Ladenbesitzer hatte gerade eine Petroleumlampe angezundet, die einen unsauberen, aber anheimelnden Geruch verbreitete. Er war ein etwa sechzigjahriger Mann, gebrechlich und vornuber gebeugt, mit einer langen, gutmutigen Nase und milden Augen, die von den dicken Brillenglasern ganz verzerrt wurden. Sein Haar war fast weifi, aber seine Augenbrauen waren buschig und noch dunkel. Seine Brille, seine zarten, umstandlichen Bewegungen und seine altmodische schwarze Samtjacke verliehen seiner Erscheinung einen intellektuellen Anstrich, als sei er ein Literat oder vielleicht ein Musiker. »Ich erkannte Sie schon auf der Strafie«, sagte er sofort. »Sie sind der Herr, der das Poesiealbum gekauft hat, nicht wahr? Das war ein herrliches Papier, wirklich herrlich. Sogenanntes Cremepapier, so sagte man fruher. So ein Papier wird nicht mehr hergestellt seit - oh, ich mochte sagen, seit funfzig Jahren.« 109 Er sah Winston tiber seine Brillenglaser hinweg an. »Kann ich Ihnen mit etwas Bestimmtem dienen? Oder wollten Sie sich nur eben mal umsehen?« »Ich kam gerade vorbei«, sagte Winston zogernd. »Wollte nur eben mal hereinschauen. Ich suche nichts Bestimmtes.« »Um so besser«, sagte der andere, »denn ich glaube, ich hatte Sie nicht zufrieden stellen konnen.« Er machte eine entschuldigende Bewegung mit seiner weichen Hand. »Sie sehen ja selbst: der Laden ist leer, mochte man sagen. Unter uns gesagt, der Antiquitatenhandel ist so gut wie erledigt. Keine Nachfrage mehr, und auch kein Angebot. Mobel, Porzellan, Glas - alles geht langsam in die Bruche. Und die Metallgegenstande sind naturlich grofitenteils eingeschmolzen worden. Ich habe seit Jahren keinen Messingleuchter mehr gesehen.« Das enge Ladeninnere war in Wirklichkeit ungemutlich vollgekramt, aber es gab fast keinen Gegenstand von dem geringsten Wert darin. Der freie Raum auf dem Fufiboden war sehr beschrankt, da rings an den Wanden entlang zahllose verstaubte Bilderrahmen aufgeschichtet waren. Im Schaufenster standen Tragbrettchen voll Schrauben und Nageln, abgenutzten Meifieln, Federmessern mit abgebrochenen Klingen, verrosteten Uhren, die wohl niemals wieder gehen wurden, und dem verschiedenartigsten Schund. Nur auf einem Tischchen in einer Ecke lag allerlei netter Krimskrams - lackierte Schnupftabakdosen, Achatbroschen und dergleichen -, Dinge, die so aussahen, als konnte sich etwas Interessantes darunter befinden. Als Winston zu dem Tischchen hinuberschlenderte, fiel sein Blick auf einen runden, glatten Gegenstand, der sanft im Lampenlicht schimmerte, und er nahm ihn in die Hand. Es war ein schweres Stuck Glas, auf der einen Seite abgerundet, auf der anderen flach, also fast eine Halbkugel. Ein besonders weicher Ton, als ware es aus Regenwasser, haftete sowohl der Farbe wie der Beschaffenheit des Glases an. In seinem Innern war, durch die runde Oberflache vergrofiert, ein seltsames, 110 rosafarbenes Gebilde zu sehen, das an eine Rose oder Seeanemone erinnerte. »Was ist das?« fragte Winston entzuckt. »Eine Koralle«, sagte der alte Mann. »Sie mufi aus dem Indischen Ozean stammen. Man pflegte sie gleichsam ins Glas einzubetten. Das wurde vor tiber hundert Jahren so gemacht. Vielleicht sogar schon vor langerer Zeit, nach ihrem Aussehen zu schliefien.« »Es ist ein sehr schoner Gegenstand«, meinte Winston. »Etwas sehr Schones«, sagte der andere anerkennend. »Heutzutage gibt es nicht viele Dinge, von denen man das sagen konnte.« Er hustete. »Nun, sollten Sie es zufallig kaufen wollen, so uberlasse ich es Ihnen fur vier Dollar. Ich kann mich einer Zeit erinnern, wo ein solches Stuck acht Pfund gebracht hatte, und damals waren acht Pfund - nun ich kann es nicht umrechnen, jedenfalls eine Menge Geld. Aber wer hat heutzutage noch etwas ubrig fur echte Antiquitaten - fur die wenigen, die es noch gibt?« Winston bezahlte sofort die vier Dollar und steckte den begehrten Gegenstand in seine Tasche. Was ihn daran fesselte, war nicht so sehr seine Schonheit, sondern ein gewisses Etwas, das ihm anhaftete und darauf hinzudeuten schien, dafi er einem anderen, grundverschiedenen Zeitalter angehorte. Das weiche, regenwasserartige Glas war nicht wie ein gewohnliches Glas, und er hatte so etwas noch nie gesehen. Der Gegenstand war durch seine offenbare Nutzlosigkeit doppelt anziehend, obwohl er erraten konnte, dafi er vermutlich einmal als Briefbeschwerer gedacht war. Er wog sehr schwer in seiner Tasche, aber zum Gliick bauschte er sie nicht sehr auf. Es war auffallend, sogar kompromittierend fur ein Parteimitglied, dergleichen in seinem Besitz zu haben. Alles Alte - und damit alles Schone - war immer ein wenig verdachtig. Der alte Mann war merklich liebenswiirdiger geworden, nachdem er die vier Dollar bekommen hatte. Winston wurde klar, dafi er sich auch mit drei oder sogar zwei zufriedengegeben hatte. »Oben ist noch ein anderes Zimmer, das Sie vielleicht gerne besichtigen mochten«, sagte er. »Es steht nicht viel drin. Nur ein 111 paar Mobelstucke. Wenn wir hinaufgehen, wird eine Lampe als Beleuchtung genii gen! « Er zundete eine andere Lampe an und ging mit gebeugtem Riicken voran die steile, ausgetretene Treppe hinauf, und weiter durch einen winzigen Flur in ein Zimmer, das keinen Ausblick auf die Strafie, sondern auf einen gepflasterten Hof und einen Wald von Schornsteinen hatte. Winston bemerkte, dafi die Mobel noch so aufgestellt waren, als ware das Zimmer bewohnt. Ein Teppichstreifen lag auf dem Fufiboden, ein paar Bilder hingen an den Wanden, und ein tiefer, durchgesessener Lehnstuhl war an den offenen Kamin geruckt. Eine altmodische Standuhr unter einem Glassturz und mit einem Zwolferzifferblatt tickte auf dem Kaminsims. Unter dem Fenster stand, fast ein Viertel des Zimmers einnehmend, ein riesiges Bett, auf dem noch die Matratzen lagen. »Wir wohnten hier, bis meine Frau starb«, sagte der alte Mann, halb um Entschuldigung bittend. »Jetzt verkaufe ich die Mobel eins nach dem anderen. Das hier ist ein prachtvolles Mahagonibett, oder es ware jedenfalls prachtig, wenn man die Wanzen herausbekommen konnte. Aber Sie werden vermutlich finden, dafi es zuviel Platz einnimmt.« Er hielt die Lampe hoch, um den ganzen Raum zu beleuchten, und in dem warmen, gedampften Licht sah das Zimmer merkwurdig einladend aus. Durch Winstons Kopf huschte der Gedanke, dafi es vermutlich ganz leicht sein wurde, das Zimmer fur ein paar Dollar in der Woche zu mieten, wenn man nur die Gefahr auf sich zu nehmen wagte. Es war ein toller, unmoglicher Einfall, den er gleich darauf wieder fallen liefi; aber das Zimmer hatte in ihm so etwas wie Heimweh, eine Art alter Erinnerung, geweckt. Es kam ihm vor, als wiifite er genau, wie man sich fuhlte, wenn man in einem solchen Zimmer im Lehnstuhl neben einem offenen Feuer safi, mit den Fufien gegen das Kamingitter und einem Teekessel auf dem Kaminbord: ganz allein, ganz sicher, ohne jemand, der einen beobachten, ohne eine Stimme, die einen verfolgen konnte kein 112 anderer Laut als das Summen des Kessels und das freundliche Ticken der Uhr. »Und keinen Televisor... «, murmelte er unwillkurlich. »Oh«, sagte der alte Mann, »ich habe nie eins von diesen Dingen besessen. Zu teuer. Ich habe offenbar auch nie ein Bedurfnis danach verspurt. Dort druben in der Ecke sehen Sie ein hubsches Klapptischchen. Sie mufiten allerdings neue Scharniere anbringen lassen, wenn Sie es aufgeklappt benutzen wollen.« In der anderen Ecke stand ein kleines Bucherregal, auf das Winston bereits losgesteuert war. Es enthielt nichts als Schund. Das Auskammen und Vernichten der Bucher war in den Proles- Vierteln mit der gleichen Griindlichkeit wie in alien anderen besorgt worden. Es war hochst unwahrscheinlich, dafi es irgendwo in Ozeanien noch ein Exemplar eines vor 1960 gedruckten Buches gab. Noch immer die Lampe in den Handen, stand der alte Mann vor einem Bild in einem Rosenholzrahmen, das auf der anderen Seite des Kamins hing, dem Bett gegenuber. »Falls Sie zufallig Interesse an alten Stichen haben sollten«, fing er vorsichtig an. Winston trat naher, um das Bild genauer zu betrachten. Es war der Stahlstich eines ovalen Gebaudes mit rechtwinkeligen Fenstern und einem kleinen Turm in der Mitte. Ein Eisengitter lief um das ganze Gebaude, und im Hintergrund war offenbar eine Art Standbild. Winston betrachtete es einige Augenblicke. Es kam ihm irgendwie bekannt vor, wenn er sich auch an das Standbild nicht erinnern konnte. »Der Rahmen ist an der Wand befestigt«, sagte der alte Mann, »aber ich kann ihn losschrauben.« »Ich kenne das Gebaude«, sagte Winston schliefilich. »Es ist heute eine Ruine. Es steht mitten auf der Strafie vor dem Justizpalast.« »Stimmt. Beim Grofien Gerichtshof. Es wurde zerbombt im Jahre - ach, vor vielen Jahren. Es ist einmal eine Kirche gewesen. St. Clement's Dane hiefi sie.« Er lachelte, wie um Verzeihung heischend, als sei er sich bewufit, etwas leicht Lacherliches zu 113 sagen, und fugte hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's!« »Was soil das bedeuten?« fragte Winston. »Ei nun - >Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's<. Das war ein Abzahlreim, den wir sangen, als ich noch ein kleiner Junge war. Wie er weitergeht, erinnere ich mich nicht. Ich weifi nur, dafi es am Schlufi heifit: "Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head." Es war so eine Art Ringelreihen. Die Kinder hielten die Arme hoch, damit man drunter durchgehen konnte, und wenn man zu >Here comes a chopper to chop off your head< kam, liefien sie die Arme sinken, und man war gefangen. Es waren lauter Namen von Kirchen. Alle Londoner Kirchen kamen drin vor - die bekanntesten, meine ich.« Winston fragte sich, aus welchem Jahrhundert die Kirche stammte. Es war immer schwierig, das Zeitalter eines Londoner Gebaudes zu bestimmen. Alles Grofie und Eindrucksvolle wurde, wenn es einigermafien neu aussah, automatisch als ein Neubau der Revolution in Anspruch genommen, wahrend alles, was offenkundig fruheren Datums war, einer dunklen und unbestimmten Epoche zugeschrieben wurde, die man als Mittelalter bezeichnete. Von den Jahrhunderten des Kapitalismus wurde so getan, als hatten sie nichts von irgendwelchem Wert hervorgebracht. Von der Architektur konnte man ebenso wenig Geschichte ablesen wie aus den Buchern. Statuen, Inschriften, Denkmaler, Strafiennamen - alles, was Licht auf die Vergangenheit werfen konnte, war systematisch abgeandert worden. So hatte man diesem Land seine Vergangenheit und damit zugleich seine Identitat geraubt. »Ich wufite gar nicht, dafi es eine Kirche war«, sagte Winston. »Es stehen in Wirklichkeit noch eine ganze Menge Kirchen«, sagte der alte Mann, »wenn sie auch anderen Zwecken zugefuhrt wurden. Wie ging doch jetzt gleich dieser Reim weiter? Ach, ich 114 hab's! >Oranges and lemons, Say the bells of St. Clement's, You owe me three farthings, Say the bells of St. Martins..." Sehen Sie, soweit bringe ich's zusammen. Ein Farthing war eine kleine Kupfermunze, ungefahr wie ein Cent.« »Wo stand St. Martin's?« fragte Winston. »St. Martin's? Es steht noch. Am Victory-Square, neben der Bildergalerie. Ein Gebaude mit einer Art dreieckiger Vorhalle, einem Saulenvorbau und grofien, breiten Stufen, die hinauffuhren.« Winston kannte das Gebaude gut. Es war ein Museum fur die Ausstellung von verschiedenartigem Propagandamaterial: von verkleinerten Modellen von Raketengeschossen, Schwimmenden Festungen, Wachsnachbildungen feindlicher Greueltaten und dergleichen. »St. Martin's in the Fields wurde die Kirche damals immer genannt«, erganzte der alte Mann, »obwohl ich mich an keine Felder in dieser Gegend erinnern kann.« Winston kaufte das Bild nicht. Es ware als Besitztum sogar noch belastender gewesen als der glaserne Briefbeschwerer und unmoglich nach Hause zu tragen, wenn man es nicht aus dem Rahmen herausloste. Aber er blieb noch ein paar Minuten und unterhielt sich mit dem alten Mann, der ubrigens, wie er herausfand, nicht Weeks hiefi, wie man nach der Aufschrift auf dem Ladenschild hatte annehmen konnen, sondern Charrington. Herr Charrington, stellte sich heraus, war ein Witwer von dreiundsechzig und hatte dreifiig Jahre lang in diesem Laden gewohnt. Diese ganze Zeit tiber hatte er die Absicht gehabt, den Namen uber dem Schaufenster zu andern, war aber doch nie dazu gekommen. Wahrend ihrer ganzen Unterhaltung wollte Winston der nur halb erinnerte Kinderreim nicht aus dem Kopf gehen. Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's. You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's! Es war seltsam: wenn man es vor sich hinsagte, hatte man die Illusion, tatsachlich Glocken lauten zu horen, die Glocken eines verschollenen 115 Londons, das doch noch da oder dort, ganz entstellt und vergessen, vorhanden war. Von einem geisterhaften Kirchturm nach dem andern glaubte er das Gelaut zu horen. Dabei hatte er, soviel er sich erinnern konnte, in Wirklichkeit noch nie im Leben Kirchenglocken lauten horen. Er verabschiedete sich von Herrn Charrington und stieg allein die Treppe hinunter, um den alten Mann nicht merken zu lassen, dafi er erst einen forschenden Blick auf die Strafie warf, ehe er aus der Tur trat. Er hatte innerlich bereits beschlossen, nach einer entsprechenden Wartezeit - vielleicht nach einem Monat - das Risiko auf sich zu nehmen und den Laden nochmals zu besuchen. Es war vielleicht nicht gefahrlicher, als einen Gemeinschaftsabend zu schwanzen. Die eigentliche Tollkuhnheit war gewesen, uberhaupt noch einmal hierher zu kommen, nachdem er das Diarium gekauft hatte und nicht wissen konnte, ob man dem Ladeneigentumer trauen durfte. Aber sei's drum. . . ! Ja, er dachte noch einmal, er wurde wiederkommen. Er wurde andere Reste von schonem Tand kaufen. Er wurde den Stich von St. Clement's Dane erstehen, ihn aus dem Rahmen nehmen und unter der Bluse eines Trainingsanzugs versteckt nach Hause tragen. Er wurde auch noch die ubrigen Strophen dieses Kinderreims aus Herrn Charringtons Gedachtnis herauslocken. Sogar der wahnwitzige Plan, das Zimmer im Obergeschofi zu mieten, durchzuckte fur einen Augenblick seinen Kopf. Ftinf Sekunden lang vielleicht machte ihn seine Hochstimmung unvorsichtig, und er trat, ohne auch nur vorher zur Sicherung einen Blick durchs Fenster zu werfen, hinaus auf die Strafie. Er hatte sogar zu einer improvisierten Melodie zu summen angefangen: »Oranges and lemons, Say the bells of St. Clement's, You owe me three farthings, Say the. . .« Plotzlich erstarrte sein Herz zu Eis, und seine Knie wurden wachsweich. Eine Gestalt im blauen Trainingsanzug kam ihm, keine zehn Meter entfernt, auf der Strafie entgegen. Es war das Madchen der Literaturabteilung, das Madchen mit dem dunklen 116 Haar. Die Beleuchtung war schlecht, aber er konnte sie ohne weiteres erkennen. Sie blickte ihm gerade ins Gesicht und ging dann rasch weiter, als habe sie ihn nicht bemerkt. Ein paar Sekunden war Winston wie gelahmt und konnte keinen Fufi vor den anderen setzen. Dann bog er nach rechts ab und schritt rasch aus, ohne im ersten Augenblick zu merken, dafi er in der verkehrten Richtung ging. Eines stand jedenfalls fest. Es gab keinen Zweifel mehr, dafi das Madchen ihm nachspionierte. Sie mufite ihn verfolgt haben, denn es war nicht glaubhaft, dafi sie aus reinem Zufall am selben Abend durch dieselbe obskure Hintergasse kam, kilometerweit von alien Vierteln entfernt, in denen Parteimitglieder wohnten. Es ware ein zu grofier Zufall gewesen. Ob sie wirklich eine Agentin der Gedankenpolizei oder lediglich ein von ubertriebenem Diensteifer inspirierter Amateur- Spitzel war, blieb sich so ziemlich gleich. Es genugte, dafi sie ihn beobachtete. Vermutlich hatte sie ihn auch in die Kneipe hineingehen sehen. Ihm wurde das Gehen schwer. Der glaserne Gegenstand in seiner Tasche schlug bei jedem Schritt an seine Hufte, und er dachte halb und halb daran, ihn herauszuziehen und wegzuwerfen. Das Schlimmste waren seine Leibschmerzen. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefuhl, er wurde sterben, wenn er nicht bald eine Toilette erreichte. Doch in einem solchen Viertel gab es wohl keine offentlichen Bedurfnisanstalten. Dann losten sich die Krampfe und liefien nur einen dumpfen Schmerz zuriick. Die Strafie war eine Sackgasse. Winston blieb stehen und uberlegte ein paar Sekunden unschlussig, was er tun sollte. Dann kehrte er um und ging den Weg zuriick. Im Kehrtmachen fiel ihm ein, dafi das Madchen erst vor drei Minuten an ihm vorbeigekommen war und er sie laufend vermutlich einholen konnte. Er konnte sich an ihre Fersen heften, bis sie eine verlassene Gegend erreicht hatten, und ihr dann mit einem Pflasterstein den Schadel einschlagen. Der Glasgegenstand in seiner Tasche war schwer genug dazu. Aber er liefi diese Idee sofort wieder fallen, denn schon der Gedanke an irgendeine 117 korperliche Anstrengung war ihm unertraglich. Er brachte es einfach nicht fertig, zu laufen und zu einem Schlag auszuholen. Aufierdem war sie jung und kraftig und wurde sich verteidigen. Er dachte auch daran, noch zum Gemeinschaftshaus zu eilen und dort bis zur Sperrstunde zu bleiben, um sich wenigstens ein teilweises Alibi fur den Abend zu verschaffen. Aber auch das war unmoglich. Eine todliche Ermattung hatte sich seiner bemachtigt. Er wollte nichts weiter als nach Hause gehen, sich hinsetzen und ausruhen. Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als er seine Wohnung erreichte. Um dreiundzwanzig Uhr dreifiig wurde der Lichtstrom von der Hauptleitung her abgeschaltet werden. Er ging in die Kuche und gofi fast eine ganze Teetasse voll Victory-Gin hinunter. Dann ging er zu dem Tisch in der Nische, setzte sich und zog das Tagebuch aus der Schublade. Aber er schlug es nicht sofort auf. Aus dem Televisor kreischte eine blecherne Frauenstimme ein kollektivistisches Arbeitslied. Er safi da und starrte, in dem Versuch, die Stimme aus seinem Bewufitsein auszuschalten, den marmorierten Buchdeckel an. Nachts holten sie einen, immer in der Nacht. Das Richtige war, sich umzubringen, ehe sie einen abholten. Zweifellos gab es Menschen, die das taten. Viele Falle von Verschwinden waren in Wirklichkeit Selbstmorde. Aber man brauchte den Mut der Verzweiflung, um sich in einer Welt, in der Feuerwaffen oder ein rasch wirkendes Gift vollkommen unmoglich zu beschaffen waren, selbst zu toten. Er dachte mit Staunen an die biologische Sinnlosigkeit von Schmerz und Angst, an den erbarmlichen Verrat des menschlichen Korpers, der immer genau in dem Augenblick in Schwache verfallt, in dem man von ihm eine besondere Anstrengung benotigt. Er hatte das dunkelhaarige Madchen zum Schweigen bringen konnen, wenn er nur rasch genug gehandelt hatte, aber gerade infolge der Grofie der ihm drohenden Gefahr hatte er die Fahigkeit zum Handeln verloren. Es kam ihm zu Bewufitsein, dafi man in Momenten hochster Gefahr nie gegen 118 einen von aufien kommenden Feind ankampft, sondern immer nur gegen den eigenen Korper. Sogar jetzt, trotz des Gins, machte der dumpfbohrende Schmerz in seinem Bauch ein zusammenhangendes Denken unmoglich. Und in alien scheinbar heldischen oder tragischen Lagen, erkannte er, ist es das gleiche. Auf dem Schlachtfeld, in der Folterkammer, auf einem untergehenden Schiff werden die entscheidenden Dinge, um derentwillen man kampft, immer vergessen, weil der Korper sich vordrangt, bis er die ganze Welt ausfullt. Und selbst wenn man nicht vor Angst gelahmt ist oder nicht vor Schmerz aufschreit, ist das Leben immer ein Kampf, von einem Augenblick zum andern, gegen Hunger oder Kalte oder Schlaflosigkeit, gegen einen verdorbenen Magen oder einen schmerzenden Zahn. Er schlug sein Tagebuch auf. Es war wichtig, jetzt etwas niederzuschreiben. Die Frau im Televisor hatte ein neues Lied angestimmt. Ihre Stimme schien sein Gehirn wie zackige Glassplitter zu durchbohren. Er versuchte an O'Brien zu denken, fur den, an den er sein Tagebuch geschrieben hatte, aber stattdessen begann er daruber nachzudenken, was mit ihm geschehen wiirde, nachdem ihn die Gedankenpolizei abgefuhrt hatte. Es ware ja nicht so schlimm, wenn sie einen gleich umbrachten. Man war darauf gefafit, getotet zu werden. Aber vor dem Tod (niemand sprach von diesen Dingen, und doch wufite sie jeder) kam erst das unvermeidliche Erpressen von Gestandnissen: das Herumkriechen auf dem Boden und das Um-Gnade-Flehen, das Krachen zermalmter Knochen - die eingeschlagenen Zahne und die blutigen Haarbuschel. Warum mufite man das durchmachen, da doch das Ende immer das gleiche war? Warum war es nicht moglich, ein paar Tage oder Wochen aus seinem Leben einfach zu streichen? Niemand entging jemals der Entdeckung, und niemand hatte je verfehlt, ein Bekenntnis abzulegen. Hatte man erst einmal ein Gedankenverbrechen begangen, so war es sicher, dafi man nach 119 einer bestimmten Zeit tot war. Warum mufite einen dann dieses Entsetzliche, das doch nichts anderte, im Schofie der Zukunft erwarten? Er versuchte, mit ein wenig mehr Erfolg als zuvor, sich das Bild O'Briens vorzustellen. »Wir werden uns wiedersehen, wo keine Dunkelheit herrscht«, hatte O'Brien zu ihm gesagt. Er wufite, was das bedeutete, oder glaubte es zu wissen. Der Ort, an dem keine Dunkelheit herrscht, war die ertraumte Zukunft, die man nie erleben wurde, deren man aber durch Vorausschau in geheimnisvoller Weise teilhaftig werden konnte. Aber wahrend die Stimme aus dem Televisor ihm die Ohren voll drohnte, konnte er den Gedankengang nicht weiter verfolgen. Er steckte sich eine Zigarette an. Prompt fiel die Halfte des Tabaks heraus auf seine Zunge, ein bitter schmeckender Staub, der sich nur schwer wieder ausspucken liefi. In Gedanken schwebte ihm das Gesicht des Grofien Bruders vor und verdrangte das O'Briens. Genau wie er es vor ein paar Tagen getan hatte, zog er eine Munze aus der Tasche und betrachtete sie. Das Gesicht starrte zu ihm empor, ernst, ruhig, beschutzend, doch welches Lacheln mochte sich hinter dem dunklen Schnurrbart verbergen? KRIEG BEDEUTET FRIEDEN FREIHEIT 1ST SKLAVEREI UNWISSENHEIT 1ST STARKE Wie Grabgelaute fielen ihm wieder diese Worte ein. . . 120 Zweiter Teil Erstes Kapitel Es war mitten am Vormittag; Winston hatte seine Arbeitsnische verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Da kam eine einzelne Gestalt vom anderen Ende des langen, hellerleuchteten Ganges auf ihn zu. Es war das dunkelhaarige Madchen. Vier Tage waren seit dem Abend verstrichen, als sie ihm vor dem Altwarenladen begegnet war. Wahrend sie naher kam, bemerkte er, dafi sie den rechten Arm in einer Schlinge trug, die man aus der Entfernung nicht erkennen konnte, weil sie von der gleichen Farbe wie ihr Trainingsanzug war. Vermutlich hatte sie sich die Hand gequetscht bei der Bedienung eines der grofien Kaleidoskope, in denen die Grobeinstellung der ersten Fassung von Romanen hergestellt wurde. Das war in der Literaturabteilung ein wohl ziemlich haufiger Arbeitsunfall. Sie waren vielleicht noch vier Meter voneinander entfernt, als das Madchen stolperte und fast ihrer ganzen Lange nach hinfiel. Ein schriller Schmerzensschrei entrang sich ihrer Brust. Sie mufite gerade auf den verletzten Arm gefallen sein. Winston blieb stehen. Das Madchen hatte sich auf den Knien aufgerichtet. Ihr Gesicht war milchweifi geworden, und der Mund hob sich in lebhafterem Rot als vorher von ihrer Blasse ab. Mit einem flehentlichen Ausdruck, der mehr nach Angst als nach Schmerz aussah, blickten ihre Augen in die seinen. Ein seltsames Gefuhl regte sich in Winstons Herzen. Zu seinen Fufien lag ein Feind, der ihm nach dem Leben trachtete; zugleich aber auch ein Mensch, der von Schmerzen gequalt wurde und sich vielleicht einen Knochen gebrochen hatte. Instinktiv war er 121 herbeigeeilt, um ihr zu helfen. In dem Augenblick, als er sie auf den verbundenen Arm fallen sah, war ihm gewesen, als fuhlte er den Schmerz am eigenen Leibe. »Haben Sie sich verletzt?« fragte er. »Es ist nichts. Nur mein Arm. Es wird gleich wieder gut sein.« Sie sprach, als stocke ihr das Herz. Jedenfalls war sie sehr bleich geworden. »Sie haben sich hoffentlich nichts gebrochen?« »Nein, mir fehlt nichts. Es tat einen Augenblick weh, das ist alles.« Sie streckte ihm ihre freie Hand entgegen, und er half ihr auf. Sie hatte wieder etwas Farbe bekommen und schien sich bedeutend besser zu fuhlen. »Es ist nichts«, wiederholte sie kurz. »Ich verspurte nur einen Stich im Handgelenk. Danke, Genosse!« Und damit ging sie so unbeschwert in der gleichen Richtung weiter, als sei tatsachlich nichts geschehen. Der ganze Zwischenfall konnte keine halbe Minute gedauert haben. Seine Gefuhle durch nichts zu verraten, war fur jedermann zu einer Instinkthandlung geworden, und uberdies hatten sie gerade vor einem Televisor gestanden, als die Sache passierte. Trotzdem war es Winston nicht leichtgefallen, einen fluchtigen Ausdruck der Uberraschung zu unterdrucken, denn in den zwei oder drei Sekunden, in denen er ihr aufhalf, hatte das Madchen ihm etwas in die Hand gedruckt. Es stand aufier Frage, dafi sie das absichtlich getan hatte. Es war ein kleiner und flacher Gegenstand. Als er die Toilette betrat, schob er ihn in seine Tasche und befuhlte ihn mit den Fingerspitzen. Es war ein viereckig zusammengefaltetes Stuckchen Papier. Wahrend er vor dem Becken stand, gelang es ihm nach einigem Fingern, den Zettel auseinander zufalten. Offenbar stand eine Nachricht darauf. Einen Augenblick fuhlte er sich versucht, ihn in eine der Kabinen mitzunehmen und auf der Stelle zu lesen. Doch das ware eine unverzeihliche Torheit gewesen, wie er wohl wufite. Es gab kaum einen anderen Ort, an dem man so sicher sein konnte, dauernd durch den Televisor uberwacht zu werden. 122 Er ging an seinen Arbeitsplatz in seine Nische zuruck, warf das Zettelchen nachlassig unter die anderen auf dem Schreibtisch liegenden Papiere, setzte sich die Brille auf und zog den Sprechschreiber zu sich heran. »Funf Minuten«, sagte er zu sich selbst; »mindestens ftinf Minuten.« Sein Herz klopfte erschreckend heftig in seiner Brust. Zum Gliick war die Arbeit, mit der er gerade beschaftigt war, eine reine Routinesache, die Richtigstellung einer langen Zahlenliste, und erforderte keine angestrengte Aufmerksamkeit. Was immer auf dem Papier geschrieben stand, mufite eine Art politische Bedeutung haben. Soweit er es beurteilen konnte, gab es zwei Moglichkeiten. Die eine, weit wahrscheinlichere, bestand darin, dafi das Madchen, ganz wie er gefurchtet hatte, eine Agentin der Gedankenpolizei war. Er wufite zwar nicht, warum die Gedankenpolizei gerade diesen Weg wahlen sollte, einem ihre Weisungen zugehen zu lassen, aber vielleicht hatte sie ihre Grunde dafur. Auf dem Zettelchen konnte eine Drohung stehen, eine Vorladung, die Aufforderung, Selbstmord zu begehen, es konnte auch irgendeine Falle sein. Aber es gab eine andere, noch tollere Moglichkeit, und sie liefi sich nicht verscheuchen, wenn er auch vergebens versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Dafi namlich die Nachricht uberhaupt nicht von der Gedankenpolizei kam, sondern von einer Art Untergrundbewegung. Vielleicht gab es »Die Bruderschaft« doch! Vielleicht gehorte das Madchen ihr an! Kein Zweifel, der Gedanke war absurd, aber er war ihm sofort durch den Kopf geschossen, als er das Stuckchen Papier in seiner Hand spurte. Erst ein paar Minuten spater war ihm die andere, wahrscheinlichere Moglichkeit in den Sinn gekommen. Und sogar jetzt noch - wenn ihm auch sein Verstand sagte, dafi die Botschaft vermutlich den Tod bedeutete -, sogar jetzt konnte er noch immer nicht daran glauben, und er klammerte sich an eine unvernunftige Hoffnung. Sein Herz klopfte, und nur muhsam konnte er ein Zittern seiner Stimme 123 vermeiden, wahrend er seine Zahlen in den Sprechschreiber hineinmur melte . Er rollte den erledigten Stofi Papiere zusammen und steckte ihn in die Rohrposttrommel. Acht Minuten waren verstrichen. Er schob die Brille auf der Nase zurecht, seufzte und zog das nachste Bundel Akten zu sich heran, auf dem das Zettelchen lag. Er strich es glatt. In einer grofien, unbeholfenen Handschrift stand darauf: Ich Hebe Sie. Mehrere Sekunden lang war er zu verblufft, um das belastende Papier in das Gedachtnis-Loch zu werfen. Als er es endlich tat, konnte er - obwohl er sehr gut die Gefahr eines zu lebhaft bekundeten Interesses kannte - nicht der Versuchung widerstehen, es noch einmal zu lesen, nur um sich zu uberzeugen, ob diese Worte wahrhaftig dastunden. Den ubrigen Vormittag fiel ihm das Arbeiten sehr schwer. Schwieriger noch, als seine Aufmerksamkeit auf eine Reihe langwieriger Arbeiten zu konzentrieren, war die Notwendigkeit, seine Aufregung vor dem Televisor verbergen zu mussen. Ihm war, als brenne ein Feuer in ihm. Das Mittagessen in der heifien, oft uberfullten, larmenden Kantine war eine Tortur. Er hatte gehofft, wahrend der Mittagspause ein wenig allein zu sein, aber wie es das Ungluck wollte, liefi sich der blonde Parsons neben ihm auf einen Stuhl plumpsen, wobei seine scharfe Schweifiausdiinstung beinahe den metallenen Eintopfgeruch verdrangte. Er schwatzte unaufhorlich von den Vorbereitungen fur die Hass-Woche. Er war besonders begeistert tiber einen zwei Meter breiten Kopf des Grofien Bruders aus Papiermache, der zu der Veranstaltung von dem Spaher-Fahnlein seiner Tochter angefertigt wurde. Das Lastige war, dafi Winston bei dem Stimmengewirr kaum horen konnte, was Parsons sagte, und ihn dauernd bitten mufite, die eine oder andere seiner belanglosen Bemerkungen zu wiederholen. Nur einmal konnte er einen fliichtigen Blick auf das Madchen werfen, das am anderen Ende des Raumes an einem Tisch mit zwei Kolleginnen safi. Sie schien ihn nicht gesehen zu 124 haben, und er vermied es, nochmals in die gleiche Richtung zu blicken. Der Nachmittag war ertraglicher. Sofort nach dem Essen traf ein hochst kniffliges Stuck Arbeit ein, das mehrere Stunden in Anspruch nahm und es notwendig machte, alles andere beiseite zu legen. Es bestand darin, eine Reihe von zwei Jahre zuruckliegenden Pro duktionszif fern so zu verfalschen, dafi ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, das gerade in Ungnade gefallen war, dadurch in Mifikredit gebracht wurde. Es war eine Arbeit, in der Winston sich besonderes Geschick erworben hatte, und fur iiber zwei Stunden vermochte er das Madchen vollstandig aus seinem Denken auszuschalten. Dann kehrte die Erinnerung an ihr Gesicht zuruck, und mit ihr ein rasendes, schier unertragliches Verlangen, allein zu sein. Ehe er nicht allein sein konnte, war es unmoglich, iiber diese neue Wendung der Dinge nachzudenken. Heute war fur ihn Pflichtabend im Gemeinschaftshaus. Er schlang in der Kantine eine nach nichts schmeckende Mahlzeit hinunter, eilte dann fort zum Gemeinschaftshaus, nahm an dem feierlichen Unfug einer sogenannten »Diskussionsgruppe« teil, spielte zwei Partien Tischtennis, sturzte mehrere Glas Gin hinunter und liefi eine halbe Stunde einen Vortrag iiber das Thema »Engsoz und seine Beziehungen zum Schachspiel« iiber sich ergehen. Innerlich wand er sich vor Langeweile, aber zum ersten Male seit einiger Zeit hatte er nicht das Bedtirfnis versptirt, den Gemeinschaftsabend zu versaumen. Beim Anblick der drei Worte »Ich Hebe Sie« war der Wunsch, am Leben zu bleiben, neu in ihm erwacht, und plotzlich schien es toricht, in Kleinigkeiten sich einer Gefahr auszusetzen. Erst um dreiundzwanzig Uhr, als er daheim war und im Bett lag - in der Dunkelheit, in der man sogar vor dem Televisor sicher war, solange man sich still verhielt -, konnte er ungestort nachdenken. Es gait ein technisches Problem zu losen: wie konnte er wohl mit dem Madchen in Verbindung treten und ein Stelldichein mit ihr verabreden? 125 Die Moglichkeit, dafi sie ihm nur eine Falle stellen wollte, zog er nicht mehr in Betracht. Er wufite auf Grund ihrer unverkennbaren Aufregung, als sie ihm den Zettel ausgehandigt hatte, dafi dem nicht so war. Offensichtlich war sie vor Angst vollig durcheinander gewesen, was durchaus erklarlich war. Auch kam ihm nicht einen Augenblick lang in den Sinn, ihre Annaherungsversuche zuruckzuweisen. Erst vor ftinf Nachten wollte er ihr in Gedanken mit einem Pflasterstein den Schadel einschlagen; aber das hatte nichts zu bedeuten. Er dachte an ihren nackten, jugendlichen Korper, wie er ihn in seinem Traum gesehen hatte. Er hatte geglaubt, sie sei wie alle die anderen, den Kopf vollgestopft mit Ltigen und Hass, der Leib ein einziger Eisklumpen. Eine Art Fieber befiel ihn bei dem Gedanken, er konnte sie verlieren, der junge weifie Leib konnte sich ihm entziehen. Mehr als alles andere furchtete er, sie konnte es sich noch einmal anders uberlegen, wenn er nicht rasch mit ihr in Beziehung trat. Aber die technische Schwierigkeit, sie zu treffen, war enorm. Es war, als wollte man beim Schachspiel einen Zug machen, nachdem man bereits matt gesetzt worden war. Wohin man auch den Blick wandte, wurde man vom Televisor beobachtet. Tatsachlich waren ihm schon in den ersten ftinf Minuten, nachdem er den Zettel gelesen hatte, alle Moglichkeiten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, durch den Kopf geschossen. Jetzt aber, da er zum Nachdenken Mufie hatte, prtifte er sie noch einmal eine nach der anderen, als lege er sich eine Reihe von Instrumenten zurecht. Offensichtlich konnte eine Verstandigung, wie sie heute Morgen stattgefunden hatte, nicht wiederholt werden. Hatte sie in der Registraturabteilung gearbeitet, so ware es verhaltnismafiig leicht gewesen; aber er hatte nur eine sehr ungenaue Vorstellung, in welchem Teil des riesigen Gebaudes die Literaturabteilung lag, und erst recht keinen Vorwand, dorthin zu gehen. Hatte er gewusst, wo sie wohnte und um welche Zeit sie ihren Arbeitsplatz verliefi, dann hatte er es einrichten konnen, ihr 126 supersiggi@sigginet.com irgendwo auf dem Heimweg zu begegnen. Aber der Versuch, ihr vom Btiro bis zum Haus nachzugehen, war nicht ratsam, denn er hatte ein Herumstehen vor dem Ministerium mit sich gebracht, und das ware vermutlich aufgefallen. Einen Brief durch die Post zu schicken, kam auch nicht in Frage. Es war ein offenes Geheimnis, dafi ublicherweise alle Briefe vor der Zustellung geoffnet wurden. Es schrieben praktisch auch nur wenig Leute Briefe. Fur die Mitteilungen, die man sich gelegentlich zu machen hatte, gab es vorgedruckte Postkarten mit einer Anzahl von Satzen, von denen man die nichtzutreffenden durchstrich. Uberdies wufite er ja nicht einmal den Namen des Madchens, geschweige denn ihre Adresse. Schliefilich kam er zu dem Schlufi, dafi der sicherste Ort die Kantine blieb. Wenn er sie allein an einem Tisch irgendwo in der Mitte des Raumes, nicht zu nahe von einem Televisor und inmitten des alles ubertonenden Stimmengewirrs erwischen konnte - und seien diese Vorbedingungen auch nur dreifiig Sekunden lang gegeben -, so konnte es moglich sein, ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Wahrend der folgenden Woche war das Leben wie ein qualender Traum. Gleich am Tage darauf erschien sie erst in der Kantine, als er aufbrechen mufite, weil die Sirene bereits ertonte. Vermutlich war sie einer spateren Schicht zugeteilt worden. Sie gingen ohne einen Seitenblick aneinander vorbei. Am nachsten Tage safi sie zu der iiblichen Zeit in der Kantine, aber zusammen mit drei anderen Madchen und unmittelbar unter einem Televisor. Dann erschien sie drei schreckliche Tage lang uberhaupt nicht mehr. Winston schien an Korper und Geist von einer unertraglichen Ubersensibilitat heimgesucht zu werden, er war wie aus Glas, so dafi jede Bewegung, jeder Laut, jede Beruhrung, jedes Wort, das er aussprechen oder anhoren mufite, zur Qual wurde. Sogar im Schlaf konnte er sich nicht vollig von ihrem Bild freimachen. Wahrend dieser Tage ruhrte er sein Tagebuch nicht an. Am ehesten fand er noch eine Erleichterung in seiner Arbeit, bei der er seinen Kummer manchmal fur voile zehn Minuten vergessen konnte. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was aus 127 dem Madchen geworden war. Er konnte keine Erkundigungen nach ihr anstellen. Sie konnte vaporisiert worden sein, konnte Selbstmord verubt haben oder ans andere Ende von Ozeanien versetzt worden sein: Am schlimmsten und wahrscheinlichsten von allem war die Moglichkeit, dafi sie es sich vielleicht anders uberlegt und beschlossen haben konnte, ihm kunftig aus dem Weg zu gehen. Am folgenden Tag tauchte sie wieder auf. Ihr Arm steckte nicht mehr in der Schlinge, stattdessen hatte sie einen Pflasterverband um ihr Handgelenk. Seine Erleichterung bei ihrem Anblick war so grofi, dafi er nicht umhin konnte, sie ein paar Sekunden lang unverwandt anzublicken. Am Tag darauf ware es ihm um ein Haar gelungen, mit ihr zu sprechen. Als er in die Kantine kam, safi sie ganz allein an einem ziemlich weit von der Wand entfernten Tisch. Es war noch friih und der Raum nicht sehr voll. Die Schlange der Essenfassenden ruckte langsam voran, bis Winston fast am Ausgabetisch stand, dann aber geriet sie fur zwei Minuten ins Stocken, weil vorne jemand sich daruber beschwerte, seine Sacharintablette nicht erhalten zu haben. Noch aber safi das Madchen allein, als Winston sein Tablett ergriff und auf ihren Tisch zusteuerte. Er ging wie zufallig auf sie zu, wahrend seine Augen nach einem Platz am Tisch hinter ihr Ausschau hielten. Sie war vielleicht drei Meter von ihm entfernt. Noch zwei Sekunden, und es wurde soweit sein. Da rief hinter ihm eine Stimme: »Smith!« Er tat, als hore er nicht. »Smith!« wiederholte die Stimme lauter. Es half nichts. Er mufite sich umdrehen. Ein dumm aussehender junger Mann namens Wilsher, den er kannte, forderte ihn mit einem Lacheln auf, sich auf einen freien Platz an seinem Tisch zu setzen. Es war nicht ratsam, die Einladung abzulehnen. Nachdem er einen Bekannten getroffen hatte, konnte er nicht einfach hergehen und sich an einen Tisch mit einem Madchen ohne Begleitung setzen, das war zu auffallend. Er nahm mit einem freundlichen Lacheln Platz. Das dumme Blondgesicht strahlte ihn an, wahrend Winston sich in 128 Gedanken ausmalte, wie er mit einer Spitzhacke darauf losschlug. Ein paar Minuten spater war der Tisch des Madchens besetzt. Aber sie mufite bemerkt haben, wie er auf sie zukam, und vielleicht verstand sie den Wink. Am nachsten Tag trug er Sorge, fruhzeitig zu kommen. Tatsachlich safi sie an einem Tisch an ungefahr der gleichen Stelle, und wieder allein. Unmittelbar vor ihm in der Schlange stand ein kleiner, zappeliger, kaferartiger Mann mit einem flachen Gesicht und winzigen argwohnischen Augen. Als Winston mit seinem Tablett von der Theke wegging, sah er, dafi der kleine Mann geradewegs auf den Tisch des Madchens zusteuerte. Wieder sanken seine Hoffnungen. An einem etwas weiter entfernten Tisch war zwar auch noch ein Platz frei, aber der kleine Mann sah nicht so aus, als ob er sich die Bequemlichkeit des nachsten und am wenigsten besetzten Tisches entgehen lassen wurde. Mit erstarrtem Herzen ging Winston hinter ihm drein. Es hatte nur Zweck, wenn er das Madchen allein sprechen konnte. In diesem Augenblick gab es einen scherbenklirrenden Krach. Der kleine Mann lag auf alien vieren, sein Tablett war ihm aus der Hand geglitten, zwei Bache von Suppe und Kaffee ergossen sich uber den Fufiboden. Er rappelte sich mit einem bosen Blick auf Winston auf, den er offenbar im Verdacht hatte, ihm ein Bein gestellt zu haben. Aber nichts weiter passierte. Ftinf Sekunden spater safi Winston mit pochendem Herzen am Tisch des Madchens. Er sah sie nicht an. Er stellte sein Tablett ab und begann sofort zu essen. Zwar kam alles darauf an, schnell zu sprechen, ehe jemand anders an den Tisch kam, aber eine schreckliche Beklemmung hatte von ihm Besitz ergriffen. Eine Woche war vergangen, seit sie sich ihm zum erstenmal genahert hatte. Vielleicht hatte sie ihren Sinn geandert. Ja, sie mufite ihn geandert haben! Es war unmoglich, dafi diese Geschichte gut ausging; so etwas gab es nicht im wirklichen Leben. Vielleicht hatte er uberhaupt kein Wort uber die Lippen gebracht, wenn er nicht in diesem 129 Augenblick Ampleforth, den Dichter mit den behaarten Ohren, mit einem Tablett in Handen unbeholfen in dem Lokal herumgehen und nach einem Sitzplatz hatte suchen sehen. In seiner etwas unbestimmten Art war Ampleforth Winston zugetan und wurde sicherlich an seinem Tisch Platz nehmen, wenn er ihn erblickte. Es blieb ihm vielleicht nur eine Minute zum Handeln. Beide, Winston und das Madchen, alien eifrig weiter. Was sie hinunterschlangen, war ein dunnes Eintopfgericht, eine Bohnensuppe. Mit einem leisen Murmeln begann Winston zu sprechen. Keiner von beiden blickte auf; ohne Unterbrechung loffelten sie das wassrige Zeug und wechselten zwischendurch mit leiser, gleichformiger Stimme die notigsten Worte. »Wann gehen Sie von der Arbeit weg?« »Achtzehn Uhr dreifiig.« »Wo konnen wir uns treffen?« »Victory-Square, beim Denkmal.« »Dort wimmelt es von Televisoren.« »Das macht nichts, bei dem Gedrange.« »Brauchen wir ein Zeichen?« »Nein. Kommen Sie erst zu mir heruber, wenn Sie mich mitten in der Menschenmenge sehen. Und sprechen Sie nicht mit mir. Bleiben Sie nur in meiner Nahe.« »Wann?« »Neunzehn Uhr.« »Gut.« Ampleforth hatte Winston nicht erspaht und setzte sich an einen anderen Tisch. Doch die beiden sprachen nicht mehr miteinander und vermieden es, soweit das fur zwei am selben Tisch sich Gegenubersitzende moglich war, einander nochmals anzublicken. Sie beendete rasch ihre Mahlzeit und stand auf, wahrend Winston sitzen blieb, um eine Zigarette zu rauchen. Winston fand sich vor der verabredeten Zeit am Victory-Square ein. Er ging um den Sockel der riesigen kannelierten Saule herum, auf deren Spitze das Standbild des Grofien Bruders gen Suden blickte, wo er die eurasischen Flugzeuge (vor ein paar 130 Jahren waren es die ostasiatischen gewesen) in der Schlacht um den Luftflottenstutzpunkt Nr. 1 besiegt hatte. In der Strafie gegenuber stand ein Reiterdenkmal, das Oliver Cromwell darstellen sollte. Ftinf Minuten nach der vereinbarten Zeit war das Madchen immer noch nicht erschienen. Wieder befiel Winston die gleiche furchterliche Angst. Sie wurde nicht kommen, sie hatte es sich anders uberlegt! Langsam ging er die Nordseite des Platzes hinauf und empfand eine Art wehmutiger Freude beim Anblick der St.-Martins-Kirche, deren Glocken einst, als sie noch Glocken hatte, »You owe me three farthings« gelautet hatten. Plotzlich sah er das Madchen an dem Denkmal stehen, scheinbar in die Lektiire eines Plakates vertieft, das spiralformig um die Saule herum lief. Ehe sie nicht von mehr Menschen umgeben war, konnte er sich ihr nicht gefahrlos nahern; rund um das Denkmal waren Televisoren angebracht. Aber in diesem Augenblick ertonte von links her lautes Stimmengewirr und das Rattern schwerer Wagen. Plotzlich schien alles tiber die Strafie zu laufen. Das Madchen bog rasch um die steinernen Lowen am Fufi des Denkmals und lief der Menge nach. Winston folgte ihr. Im Laufen entnahm er einigen Ausrufen, dafi ein Transport eurasischer Gefangener auf der anderen Seite des Platzes unter schwerer Bewachung vorubergefahren wurde. Schon verkeilte eine dichte Menschenmenge die Sudseite des Platzes. Winston, der sich normalerweise aus jedem Gedrange herauszuhalten versuchte, stiefi und drangte sich seinen Weg durch die Menge. Bald stand er auf Armeslange von dem Madchen entfernt, doch war der Weg von einem riesigen Proles und einem fast ebenso riesigen Weibsstuck, vermutlich seiner Frau, versperrt, die zusammen einen schier undurchdringlichen Fleischwall zu bilden schienen. Winston schob sich weiter seitwarts, und mit einem heftigen Vorstofi gelang es ihm, seine Schulter zwischen die beiden zu zwangen. Einen Augenblick war es, als ob seine Weichteile zwischen zwei muskulosen Huften zermalmt werden sollten, dann hatte er sich leicht schwitzend 131 durchgearbeitet. Er stand jetzt Schulter an Schulter neben dem Madchen; beide blickten starr geradeaus. Eine lange Kolonne Lastwagen, auf denen verteilt Wachmannschaften mit wie aus Holz geschnitzten Gesichtern standen, die Maschinenpistolen griffbereit, rollte langsam die Strafie entlang. Drinnen drangten sich eng zusammengepfercht kleine gelbgesichtige Manner in fadenscheinigen graugrunen Uniformen. Ihre traurigen Mongolengesichter blickten vollig teilnahmslos tiber die Seitenwande der Lastwagen. Gelegentlich horte man bei einem Ruck des Wagens ein metallisches Klirren: samtliche Gefangenen waren an den Ftifien gefesselt. Eine Wagenladung trauriger Gesichter nach der anderen rollte vortiber. Winston war sich ihrer bewufit, obwohl er sie nur zeitweilig zu sehen bekam. Die Schulter und der rechte Arm des Madchens waren an ihn geprefit. Ihre Wange war ihm fast so nahe, dafi er ihre Warme sptiren konnte. Genau wie damals in der Kantine hatte sie sofort die Situation in die Hand genommen. Sie begann zu sprechen, fast ohne die Lippen zu bewegen, mit einem blofien Murmeln, das in dem Stimmengewirr und dem Geratter der Lastwagen unterging. »Konnen Sie mich verstehen?« »Ja.« »Konnen Sie sich am Sonntag Nachmittag freimachen?« »Ja.« »Dann horen Sie gut zu. Sie mtissen es genau behalten. Sie fahren zum Paddington-Bahnhof . . . « Mit einer verbluffenden, geradezu militarischen Genauigkeit erklarte sie ihm den Weg, den er einzuschlagen hatte. Eine halbe Stunde Bahnfahrt; wenn er aus dem Bahnhof herauskam, mufite er sich links halten, zwei Kilometer die Strafie entlang; dann kam ein Gattertor ohne Oberteil; ein Weg tiber ein Feld; ein vergraster Pfad; ein Fufiweg zwischen Btischen hindurch; ein abgestorbener, moosbewachsener Baum. Es war, als habe sie die ganze Landkarte im Kopf. »Konnen Sie das alles behalten?« murmelte sie schliefilich. 132 »Ja.« »Sie gehen nach links, dann rechts, dann wieder links. Und das Tor hat oben keine Balken.« »Ja. Urn welche Zeit?« »Gegen funfzehn Uhr. Vielleicht mussen Sie warten. Ich komme auf einem anderen Weg hin. Sind Sie sicher, dafi Sie sich an alles erinnern?« »Ja.« »Dann gehen Sie so rasch wie moglich von mir weg.« Das hatte sie ihm nicht zu sagen brauchen. Aber gerade jetzt konnten sie sich nicht aus der Menge herauswinden. Noch immer fuhren die Lastwagen vorbei, wahrend die Menschen noch immer begierig zuschauten. Am Anfang hatte man ein paar Pfui- und Nieder-Rufe gehort, doch nur von den Parteimitgliedern unter der Menge, und sie hatten bald aufgehort. Inzwischen war die Bevolkerung Ozeaniens zwar auf dem besten Wege ein Brei verschiedenster, entwurzelter Volker zu werden, aber dennoch gafften die Leute die unglucklichen Gestalten auf den Lastwagen an, als hatten sie noch nie ein schlitzaugiges Gesicht gesehen. Dennoch wusste man nicht, was aus den Gefangenen werden wurde, abgesehen von den wenigen, die als Kriegsverbrecher gehangt wurden. Die ubrigen verschwanden ganz einfach, vermutlich in Zwangsarbeitslagern. Die runden Mongolengesichter wurden jetzt von schmutzigen, bartigen, erschopften Gesichtern mehr europaischen Geprages abgelost. Uber stoppelige Backenknochen hinweg blickten Winston Augen an, manchmal mit seltsamer Eindringlichkeit, dann waren sie wieder verschwunden. Die unter Bedeckung fahrende Kolonne ging ihrem Ende zu. Im letzten Lastwagen konnte er einen alteren Mann sehen, dessen Gesicht ein einziges Gestrupp grauer Haare war; er stand aufrecht da, die Hande vor sich verschrankt, als sei er gewohnt, sie in Fesseln zu tragen. Es war hochste Zeit fur Winston und das Madchen, sich zu trennen. Im letzten Augenblick aber, wahrend die Menge sie noch fest eingekeilt 133 hielt, tastete ihre Hand nach der seinigen und gab ihr einen fluchtigen Druck. Obwohl es nicht langer als zehn Sekunden gedauert haben konnte, schien es eine lange Zeit, dafi ihre Hande sich umspannt hielten. Er fand Zeit, jede Einzelheit ihrer Hand in sich aufzunehmen. Er erforschte ihre langen Finger, die schon geformten Nagel, die arbeitsharte Innenflache mit ihrer Reihe von Schwielen, das weiche Fleisch unter dem Handgelenk. Allein durch Befuhlen ihrer Hand hatte er sie wiedererkannt. Gleichzeitig aber fiel ihm ein, dafi er nicht wufite, weiche Farbe ihre Augen hatten. Vermutlich waren sie braun, aber brunette Menschen hatten manchmal blaue Augen. Den Kopf zu drehen und sie anzusehen, ware eine unvorstellbare Torheit gewesen. Ihre Hande hielten sich umklammert, ungesehen in dem dichten Gedrange, wahrend sie unentwegt geradeaus starrten, und statt der Augen des Madchens blickten Winston die Augen des alten Gefangenen traurig aus einem Gewirr grauer Haare an. Zweites Kapitel Winston suchte sich seinen Weg langs des von Licht und Schatten uberspielten Fufipfades; jedes Mai, wenn die Busche sich teilten, trat er in ganze Lachen goldenen Lichts. Zur Linken, unter den Baumen, war der Boden ubersat von blauen Glockenblumen. Die Luft beruhrte die Haut wie ein Kufi. Es war der zweite Tag des Monats Mai. Von irgendwo tiefer im Herzen des Waldes schlug das Gurren der Ringeltauben weich und verschwommen an sein Ohr. Es war noch ein wenig friih. Die Fahrt war ohne Schwierigkeiten vonstatten gegangen; das Madchen war so augenscheinlich wohlbeschlagen, dafi er weniger Angst empfand, als er 134 normalerweise hatte haben mussen. Vermutlich konnte man sich darauf verlassen, dafi sie einen sicheren Ort kannte. Im Allgemeinen durfte man nicht annehmen, auf dem Lande sehr viel sicherer als in London selbst zu sein. Freilich gab es in der Natur keine Televisoren, aber es bestand immer die Gefahr verborgener Mikrophone, die eine Stimme auffangen und so zur Feststellung des Sprechers fuhren konnten; aufierdem war es nicht leicht, eine Vergnugungsreise zu machen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Fur Entfernungen von weniger als hundert Kilometern brauchte man zwar keine besondere Eintragung in seinen Pafi, aber manchmal trieben sich auf den Bahnhofen Streifen herum, die die Papiere jedes aufgegabelten Parteimitglieds pruften und peinliche Fragen stellten. Diesmal aber waren keine Streifen aufgetaucht, und auf dem Weg zum Bahnhof hatte er sich durch vorsichtiges Umblicken uberzeugt, dafi niemand ihn verfolgte. Der Zug war voller Proles gewesen, dank des sommerlichen Wetters in bester Ferienstimmung. Das Abteil der Holzklasse, in dem er gesessen hatte, war bis zum Bersten von einer einzigen riesigen Familie besetzt, die von einer zahnlosen Urgrofimutter bis zu einem kaum geborenen Wickelkind hinausfuhr, um einen Nachmittag bei Verwandten auf dem Land zu verbringen und, wie sie Winston offenherzig erklarten, etwas Schwarzmarkt-Butter zu hamstern. Das Gestrupp lichtete sich, und eine Minute spater kam er an den schmalen Weg, von dem sie gesprochen hatte; es war im Grunde nur eine Fahrte, die das Vieh zwischen den Strauchern ausgetreten hatte. Er besafi keine Uhr, aber es konnte noch nicht funfzehn Uhr sein. Die Glockenblumen standen so dicht, dafi man nicht vermeiden konnte, darauf zu treten. Er kniete nieder und begann ein paar zu pflucken, teils um sich die Zeit zu vertreiben, teils aus der undeutlichen Vorstellung heraus, dafi es ganz nett ware, dem Madchen zur Begrufiung ein paar Blumen anbieten zu konnen. 135 Er hatte schon einen grofien Straufi zusammengebracht und sog den zarten sufilichen Duft ein, als ihn ein Gerausch in seinem Rucken erstarren liefi: das unverkennbare Knacken von Zweigen unter dem Gewicht einer Schuhsohle. Er pfluckte weiter seine Glockenblumen. Es war das Klugste, was er tun konnte. Vielleicht war es das Madchen, vielleicht aber war er doch verfolgt worden. Sich umzublicken war ein Beweis schlechten Gewissens. Er pfluckte Blume auf Blume. Dann legte sich eine Hand auf seine linke Schulter. Er blickte auf. Es war das Madchen. Sie schuttelte den Kopf, offenbar zum Zeichen, dafi er sich still verhalten solle, dann teilte sie die Busche und schlug rasch den schmalen Pfad ein, der in den Wald hineinfuhrte. Offensichtlich hatte sie diesen Weg schon fruher einmal begangen, denn sie wich mit Kennerschaft den morastigen Stellen aus. Winston ging hintendrein, noch immer seinen Blumenstraufi in der Faust. Sein erstes Geftihl war das der Erleichterung, aber als er den kraftigen, schlanken Leib vor sich hergehen sah, mit der scharlachroten Scharpe geschmuckt, die gerade eng genug anlag, um die Rundung ihrer Huften zu betonen, bedruckte ihn ein Minderwertigkeitsgefuhl sehr heftig. Selbst jetzt schien es noch recht wahrscheinlich, dafi sie, wenn sie sich umdrehte und ihn ansah, ihren Entschlufi andern wurde. Die wurzige Luft und das saftige Grtin der Blatter schuchterten ihn ein. Schon auf dem Weg vom Bahnhof hatte er sich im Maiensonnenschein schmutzig und bleich wie eine Kellerpflanze gefuhlt, wie ein rechter Stubenhocker, die Poren von dem Londoner Staub und Rufi verstopft. Es kam ihm zum Bewufitsein, dafi sie ihn bis jetzt noch nie bei hellem Tageslicht unter freiem Himmel gesehen hatte. Sie kamen jetzt zu dem umgesturzten Baum, der von ihr erwahnt worden war. Das Madchen sprang darilber hinweg und teilte mit einigem Krafteaufwand das scheinbar luckenlose Gebusch. Als Winston ihr nachkam, entdeckte er, dafi sie auf einer naturlichen Lichtung standen, einem kleinen, von Tannenbaumchen 136 vollkommen eingeschlossenen Stuck Rasen. Das Madchen blieb stehen und wandte sich urn, »Wir sind da«, sagte sie. Er blickte sie an, mehrere Schritte von ihr entfernt stehen bleibend. Noch wagte er nicht, naher zu kommen. »Ich wollte in dem Unterholz nicht sprechen«, fuhr sie fort, »fiir den Fall, dafi dort ein Mikrophon versteckt ist. Ich glaube es zwar nicht, aber es konnte doch sein. Es besteht immer die Moglichkeit, dafi einer von diesen Schweinen unsere Stimme erkennt. Hier sind wir geborgen.« Er hatte noch immer nicht den Mut, naher an sie heranzutreten. »Ja, sind wir hier geborgen?« wiederholte er toricht. »Doch, schauen Sie die Baume an.« Es waren junge Eschen, die vor einiger Zeit abgeholzt waren und jetzt wieder zu einem Wald dunner Stamme ausgeschlagen hatten, von denen keiner starker war als ein Handgelenk. »Hier ist kein Stamm, der dick genug ware, um ein Mikrophon darin zu verstecken. Aufierdem war ich schon einmal hier.« Sie machten nur Konversation. Er war ihr jetzt naher gekommen. Sie stand sehr gerade aufgerichtet vor ihm, mit einem leise ironischen Lacheln um die Mundwinkel, als uberlege sie, warum er eigentlich so lange brauche, zur Tat zu schreiten. Die Glockenblumen waren wie von selbst zu Boden gefallen. Er ergriff ihre Hand. »Wurden Sie fur moglich halten«, sagte er, »dafi ich bis zu diesem Augenblick nicht gewufit habe, welche Farbe Ihre Augen haben?« Sie waren braun, stellte er fest, von einem ziemlich hellen Braun, mit schwarzen Wimpern. »Und konnen Sie, nachdem Sie gesehen haben, wie ich wirklich ausschaue, meinen Anblick noch ertragen?« »Ja, ohne weiteres.« »Ich bin neununddreifiig Jahre alt. Ich habe eine Frau, die sich nicht scheiden lafit. Aufierdem habe ich Krampfadern. Und ftinf falsche Zahne.« »Das ist mir vollstandig egal«, sagte das Madchen. 137 Im nachsten Augenblick - und es ware schwierig gewesen zu sagen, wie es zugegangen war - lag sie in seinen Armen. Anf angs empfand er nichts als reine Unglaubigkeit. Der jugendliche Korper schmiegte sich an seinen, der dichte Schopf ihres dunklen Haares lag vor seinem Gesicht; und nun hatte sie ihm das Gesicht zugewandt, und er kusste ihren uppigen roten Mund. Sie hatte die Arme um seinen Nacken geschlungen, nannte ihn Schatz, Liebling, Geliebter. Er hatte sie zu sich herab auf die Erde gezogen, sie war ganz Hingabe, er konnte mit ihr machen, was er wollte. Aber in Wahrheit hatte er keine korperliche Empfindung, aufier der engen Verbundenheit. Alles, was er fuhlte, war Staunen und Stolz. Er freute sich tiber das, was geschah, aber empfand kein korperliches Verlangen. War es, weil es so plotzlich kam, weil ihre Jugend und Anmut ihn erschreckten, weil er zu sehr daran gewohnt war, ohne Frauen zu leben - er hatte den Grund nicht nennen konnen. Das Madchen raffte sich auf und zupfte eine Glockenblume aus ihrem Haar. Sie setzte sich, eng an ihn geschmiegt, den Arm um seine Hufte gelegt. »Mach' dir nichts draus, Liebster. Es hat keine Eile. Wir haben den ganzen Nachmittag vor uns. 1st das nicht ein prachtiges Versteck? Ich fand es, als ich mich einmal auf einem Gemeinschaftsausflug verlaufen hatte. Wenn jemand kommen sollte, kann man ihn auf hundert Meter Entfernung horen.« »Wie heifit du?« fragte Winston. »Julia. Ich weifi, wie du heifit. Winston - Winston Smith.« »Wie hast du das herausgefunden?« »Ich glaube, ich bin in solchen Sachen tuchtiger als du, mein Schatz. Sag mir, was hast du an dem Tag von mir gedacht, als ich dir den Zettel zusteckte?« Er fuhlte sich nicht versucht, ihr etwas vorzulugen. Es war sogar eine Art Liebesbeweis, gleich das Schlimmste zuzugeben. »Mir war dein Anblick hochst zuwider«, gestand er. »Ich wollte dich am liebsten vergewaltigen und danach ermorden. Noch vor zwei Wochen dachte ich ernstlich daran, dir mit einem 138 Pflasterstein den Schadel einzuschlagen. Wenn ich dir die voile Wahrheit sagen soil: Ich dachte, du seist bei der Gedankenpolizei.« Das Madchen lachte belustigt und nahm das offenbar als Kompliment fur ihre vorziigliche Tarnung hin. »Bei der Gedankenpolizei! Das kannst du doch nicht wirklich geglaubt haben?« »Na, vielleicht nicht gerade das. Aber deiner ganzen Erscheinung nach - blofi weil du jung und frisch und gesund bist, du verstehst doch - dachte ich, dafi du vermutlich...« »Du hast mich also fur ein gutes Parteimitglied gehalten. Ohne Fehl, in Wort und Tat. Fahnen, Umzuge, Schlagworte, Sport, Gemeinschaftswanderungen - das ganze Zeug. Und du hast geglaubt, dafi ich dich, wenn ich nur die geringste Moglichkeit dazu gehabt hatte, als Gedankenverbrecher denunzieren und umbringen lassen wurde?« »Ja, so etwas Ahnliches. Viele junge Madchen sind so, weifit du.« »Dieses elende Ding ist daran schuld«, sagte sie und riss die rote Scharpe der Jugendliga gegen Sexualitat herunter und schleuderte sie tiber einen Zweig. Dann, als habe sie das Beruhren ihrer Huften an etwas erinnert, suchte sie in den Taschen ihres Trainingsanzugs und brachte ein Tafelchen Schokolade zum Vorschein. Sie brach es in zwei Halften und gab Winston ein Stuck davon. Schon bevor er es genommen hatte, erkannte er am Geruch, dafi es eine sehr ungewohnliche Schokolade war. Dunkel und glanzend, und in Silberpapier eingewickelt. Schokolade war gewohnlich ein stumpfbraunes broseliges Zeug, dessen Geschmack, sofern man ihn uberhaupt beschreiben konnte, dem Rauch eines Mullfeuers glich. Fruher einmal hatte er allerdings Schokolade gekostet, von der gleichen Art wie das Stuck, das sie ihm gab. Der erste Hauch ihres Duftes hatte eine Erinnerung in ihm geweckt, die er nicht festnageln konnte, die aber machtig und beunruhigend war. »Wo hast du das her?« fragte er. 139 »Vom schwarzen Markt«, sagte sie leichthin. »Eigentlich gehore ich zu der Sorte Madchen, bei denen der Schein triigt. Ich bin tuchtig im Sport. Ich war Truppenfuhrerin bei den Spahern. Ich bin dreimal in der Woche ehrenhalber fur die Jugendliga tatig. Ich habe Stunden um Stunden damit verbracht, ihre blodsinnigen Anschlage in ganz London anzukleben. Bei Umzugen trage ich ein Ende der Transparente. Ich sehe immer vergnugt aus und drucke mich vor nichts. Immer mit den Wolfen heulen, ist meine Parole. Es ist die einzige Moglichkeit, ungeschoren zu bleiben.« Das erste Stuckchen Schokolade war auf Winstons Zunge zergangen. Es schmeckte vorzuglich. Aber immer noch rumorte an der Oberflache seines Bewufitseins diese Erinnerung an etwas deutlich Empfundenes und doch nicht genau Umreifibares, wie ein Gegenstand, den man nur mit einem Augenwinkel erfafit. Er schob diese Erinnerung von sich und war sich nur bewufit, dafi sie einem Ereignis gait, das er gerne, doch vergeblich ungeschehen gemacht hatte. »Du bist sehr jung«, sagte er. »Du bist zehn oder funfzehn Jahre junger als ich. Was hat dich nur an einem Mann wie mich anziehen konnen?« »Es war etwas in deinem Gesicht. Ich dachte, ich sollte es wagen. Ich habe einen guten Blick dafur, wer nicht dazugehort. Sobald ich dich sah, wufite ich, dafi du gegen sie bist.« Sie, stellte sich heraus, bedeutete in ihrem Munde die Partei und vor allem die Innere Partei, tiber die sie mit einem unumwunden hohnischen Hass sprach, der Winston ganz unsicher machte, obwohl er wufite, dass sie hier noch am ehesten in Sicherheit waren. Was ihn bei ihr verbluffte, war die Derbheit ihrer Sprache. Von Parteimitgliedern wurde erwartet, dafi sie keine Fluche gebrauchten, und Winston selbst fluchte sehr selten, wenigstens nicht laut. Julia jedoch schien die Partei, und besonders die Innere Partei, nicht erwahnen zu konnen, ohne Worte von der Sorte zu gebrauchen, die man an modrigen Gassenmauern mit Kreide angeschrieben findet. Das war ihm nicht unangenehm. 140 Es war lediglich ein Symptom ihrer Auflehnung gegen die Partei und entsprach ihrer ganzen Art; irgendwie schien es naturlich und gesund, wie das Schnauben eines Pferdes, das den Geruch von schlechtem Heu in die Nustern bekommt. Sie hatten die Lichtung verlassen und wanderten wieder durch den von der Sonne gefleckten Schatten, die Arme umeinander gelegt, sooft der Weg breit genug war, um Seite an Seite zu gehen. Er merkte, wie viel weicher ihre Hufte sich anzufuhlen schien, seitdem die Scharpe fort war. Sie unterhielten sich nicht lauter als im Flusterton. Aufierhalb der Lichtung, sagte Julia, ware es besser, beim Gehen zu schweigen. Nun waren sie an den Rand des Geholzes gekommen. Sie blieb stehen. »Geh nicht aus der Deckung hinaus. Jemand konnte uns beobachten. Wir sind gut aufgehoben, solange wir hinter den Buschen bleiben.« Sie standen im Schatten von Haselnufistrauchern. Das durch die Blatter filternde Sonnenlicht war noch warm auf ihren Gesichtern. Winston blickte auf das druben liegende Feld, und ein seltsames, leises Erschrecken des Wiedererkennens durchzuckte ihn. Er kannte es vom Sehen. Ein altes, abgemahtes Weideland mit einem Fufipfad, der quer hindurchfuhrte, und da und dort ein Maulwurfshugel. In der unregelmafiigen Hecke an der anderen Seite wiegten sich die Zweige der Ulmen gerade noch wahrnehmbar in der leichten Brise, und ihre Blatter flirrten leise in dichten Buscheln wie Frauenhaar. Sicherlich mufite irgendwo in der Nahe, aber aufier Sichtweite, ein Bach mit grunen Gumpen sein, in dem sich Weififische tummelten. »Gibt es hier nicht einen Bach in der Nahe?« fliisterte er. »Stimmt, ein Bach ist da. Er fliefit am Rande des nachsten Feldes. Es sind Fische darin, grofie, fette Kerle. Man kann sie in den Gumpen unter den Weiden schwimmen sehen, wie sie mit ihren Flossen rudern.« »Es ist beinahe wie das Goldene Land«, murmelte er. »Welches Goldene Land?« 141 »Kein bestimmtes. Eine Landschaft, die ich manchmal im Traum gesehen habe.« »Schau!« flusterte Julia. Eine Drossel hatte sich keine ftinf Meter entfernt von ihnen auf einem Ast fast in ihrer Augenhohe niedergelassen. Vielleicht hatte sie die beiden nicht bemerkt. Sie war in der Sonne, wahrend die beiden im Schatten standen. Sie spreizte die Flugel, legte sie sorgfaltig wieder zurecht, duckte einen Augenblick den Kopf, als machte sie der Sonne eine Verbeugung, und begann dann ihren Jubelgesang hinauszuschmettern. In der Nachmittagsstille war die Kraft der Stimme geradezu verbluffend. Winston und Julia standen bezaubert Arm in Arm. Der Gesang ging weiter, Minute auf Minute, mit erstaunlichen Variationen, ohne sich ein einziges Mai zu wiederholen, fast als wollte der Vogel ihnen seine Virtuositat beweisen. Manchmal verstummte er fur ein paar Sekunden, spreizte von neuem sein Gefieder und faltete es wieder zusammen; dann blahte er seine gesprenkelte Brust und stimmte von neuem sein Lied an. Winston beobachtete ihn mit heimlicher Bewunderung. Wem zuliebe, fur welchen Zweck, sang dieser Vogel? Kein Weibchen, kein Nebenbuhler beobachtete ihn. Was veranlafite ihn, sich am Rande des einsamen Waldchens niederzulassen und seine Musik ins Nichts zu schmettern? Er fragte sich, ob vielleicht doch irgendwo in der Nahe ein Mikrophon verborgen war. Er und Julia hatten nur im Fliisterton gesprochen, ihre Worte wurde es nicht auffangen, sondern nur den Gesang der Drossel. Vielleicht lauschte am anderen Ende des Apparates ein kleiner, kaferartiger Mann aufmerksam - lauschte gerade auf das hier. Aber langsam vertrieb die Flut der Musik alle Grubeleien aus seinem Denken. Es war, als ergosse sie sich wie eine fliissige Masse tiber ihn und verschmolze mit dem durch das Blattwerk sickernden Sonnenlicht. Er horte zu denken auf und uberliefi sich ganz seinen Empfindungen. Der Madchenleib in seinem Arm fuhlte sich weich und warm an. Er zog sie an sich, so dafi sie 142 Brust an Brust lagen; ihr Korper schien mit dem seinen zu verschmelzen. Wo immer seine Hand hintastete, war alles weich und nachgiebig wie Wasser. Ihre Lippen fanden sich; es war ganz anders als die harten, festen Kusse, die sie vorher getauscht hatten. Als ihre Gesichter wieder voneinander abliefien, seufzten beide tief. Der Vogel erschrak und flog mit einem Fliigelschwirren davon. Winston legte die Lippen an ihr Ohr. »Komm!« flusterte er. »Nicht hier«, flusterte sie zuruck. »Gehen wir wieder in die Lichtung zuruck. Dort ist es sicherer.« Rasch bahnten sie sich, wahrend die Zweige hin und wieder knackten, ihren Weg zu der Lichtung zuruck. Sobald sie in dem von Tannenbaumchen umgebenen Rund angelangt waren, drehte sie sich um und sah ihn an. Beide atmeten heftig, aber das Lacheln um ihre Mundwinkel war wieder erschienen. Sie stand da und sah ihn einen Augenblick an, dann tastete sie nach dem Reifiverschlufi des Trainingsanzuges. Und wahrhaftig - es war fast wie ein Traum! Fast ebenso schnell wie in seiner Phantasie hatte sie sich die Kleider vom Leibe gerissen und schleuderte sie beiseite, mit der gleichen herrlichen Bewegung, als ob damit eine ganze Zivilisation weggewischt zu werden schien. Ihr Korper schimmerte weifi in der Sonne. Doch einen Augenblick lang blickte er nicht auf ihren Korper; seine Augen waren von dem sommersprossigen Gesicht mit seinem leisen, kecken Lacheln gefangen. Er kniete vor ihr nieder und nahm ihre Hande in seine. »Hast du das schon fruher getan?« »Naturlich. Schon hundertmal - oder jedenfalls sehr oft.« »Mit Parteiangehorigen?« »Ja, immer mit Parteiangehorigen.« »Mit Leuten aus der Inneren Partei?« »Nein, nicht mit diesen Schweinen. Trotzdem gibt es naturlich viele, die das mochten, wenn sich ihnen nur halbwegs eine Moglichkeit bieten wurde. Sie sind nicht so heilig, wie sie tun.« Sein Herz jubelte. Sie hatte es schon so oft getan; er wunschte sich, es ware hundert- oder tausendmal gewesen. Alles, was auf 143 Verderbtheit hinwies, erfullte ihn immer wieder mit einer wilden Hoffnung. Wer weifi, vielleicht war die Partei unter ihrer Oberflache faul und angekrankelt, vielleicht war ihr Kult von Tuchtigkeit und Selbstkasteiung einfach ein Schwindel, hinter dem sich das Laster verbarg. Was hatte er darum gegeben, die ganze Bande mit Lepra oder Syphilis anzustecken! Alles, was zur Verrottung beitrug, was schwachte, unterminierte! Er zog sie zu sich herunter, so dafi sie von Angesicht zu Angesicht knieten. »H6r zu. Je mehr von ihnen du gehabt hast, desto mehr liebe ich dich. Begreifst du das?« »Vollkommen.« »Ich hasse die Unschuld, ich hasse das Bravsein! Ich will nicht, dafi es noch irgendwo eine Tugend gibt. Ich will, dafi alle Leute bis ins Mark verderbt sind.« »Nun, dann durfte ich die Richtige fur dich sein, Liebling. Ich bin bis ins Mark verderbt.« »Tust du es gerne? Ich meine, nicht nur mit mir: sondern einfach die Sache an sich?« »Ich finde es herrlich.« Das wollte er vor allem horen. Nicht nur die Liebe zu einem Menschen, sondern der animalische Trieb, die einfache, blinde Begierde: Das war die Kraft, die die Partei in Stucke sprengen wurde. Er zog sie ins Gras, zwischen die herabgefallenen Glockenblumen. Diesmal stand keine Hemmung im Wege. Dann verlangsamte sich das Auf und Ab ihrer Brust zu normalem Rhythmus, und in seliger Hilflosigkeit sanken sie auseinander. Die Sonne schien heifier geworden. Sie waren beide schlafrig. Er streckte die Hand nach dem abgeworfenen Trainingsanzug aus und deckte sie, so gut es ging, damit zu. Fast gleich darauf schlummerten sie ein und lagen etwa eine halbe Stunde lang im Schlaf. Winston erwachte zuerst. Er setzte sich auf und betrachtete das sommersprossige Gesicht, das noch friedlich schlafend auf ihren Handteller gebettet dalag. Von ihrem Mund abgesehen, konnte man Julia eigentlich nicht schon nennen. Um die Augen herum 144 waren ein oder zwei Krahenfufie, wenn man genau hinsah. Das kurze dunkle Haar war ungewohnlich dicht und weich. Es fiel ihm ein, dafi er noch immer nicht ihren Nachnamen und ihre Adresse wufite. Der junge, kraftige Korper, der jetzt im Schlaf so hilflos dalag, weckte in ihm ein mitleidiges Beschutzergefuhl. Aber die unbewufite Zartlichkeit, die er unter dem Haselnufistrauch, beim Lied der Drossel empfunden hatte, wollte sich nicht wieder genauso einstellen. Er schob den Trainingsanzug beiseite und betrachtete nachdenklich ihren weifien, weichen Leib. Friiher, mufite er denken, sah ein Mann den Leib eines Madchens an und fand ihn begehrenswert, und damit Schlufi! Aber heutzutage gab es so etwas wie eine reine Liebe oder reine Lust uberhaupt nicht mehr. Keine Gefuhlsregung war ungebrochen, denn alles war mit Angst und Hass durchsetzt. Ihre Umarmung war ein Kampf gewesen, der Hohepunkt ein Sieg. Es war ein gegen die Partei gefuhrter Schlag. Ein politischer Akt. Drittes Kapitel »Wir konnen noch einmal hierher kommen«, meinte Julia. »Im Allgemeinen darf man es riskieren, ein Versteck zweimal zu benutzen. Aber naturlich nicht in den nachsten ein oder zwei Monaten.« Sobald sie aufgewacht war, hatte sich ihr Benehmen geandert. Sie wurde flink und sachlich, zog ihre Kleider an, schlang sich die scharlachrote Scharpe um die Huften und begann die Einzelheiten fur die Riickfahrt zu besprechen. Ihr das zu uberlassen, erschien einem ganz naturlich. Sie besafi offenbar eine praktische Geschicklichkeit, die Winston fehlte, und anscheinend auch eine umfassende Kenntnis der 145 landlichen Umgebung Londons, die sie auf zahllosen Gemeinschaftswanderungen gesammelt hatte. Der Weg, den sie ihm fur die Ruckkehr empfahl, war ein ganz anderer als der, auf dem er hergekommen war, und liefi ihn an einer anderen Bahnstation herauskommen. »Fahre nie auf dem gleichen Weg nach Hause, auf dem du hergekommen bist«, riet sie ihm, als verkunde sie einen wichtigen, allgemein gultigen Lehrsatz. Sie wurde als erste aufbrechen, und Winston sollte eine halbe Stunde warten, ehe er ihr nachkam. Sie hatte ihm einen Ort genannt, an dem sie sich vier Tage spater abends nach der Arbeit treffen konnten. Es war eine Strafie in einem der armeren Viertel, in der es einen sogenannten Freien Markt gab, auf dem gewohnlich Larm und Gedrange herrschte. Sie wurde sich dort zwischen den Verkaufsstanden herumtreiben und so tun, als suche sie nach Schnursenkeln oder Nahgarn. Wenn sie die Luft fur rein hielt, wurde sie sich bei seinem Kommen die Nase schnauzen; andernfalls sollte er, als kenne er sie nicht, an ihr vorubergehen. Doch mit ein wenig Gliick wurde es im Gedrange gefahrlos sein, eine Viertelstunde miteinander zu sprechen und eine neue Verabredung zu treffen. »Und jetzt mufi ich gehen«, sagte sie, sobald er die ihm gegebenen Weisungen memoriert hatte. »Ich mufi um 19.30 Uhr zuruck sein. Ich mufi zwei Stunden fur die Jugendliga gegen Sexualitat opfern - Handzettel verteilen oder so was Ahnliches. 1st es nicht eine Schande? Burste mich mal ab, ja, sei so gut! Hab' ich auch keine Zweige im Haar? Bist du auch sicher? Dann leb wohl, Liebling, auf Wiedersehen!« Sie warf sich in seine Arme, kusste ihn leidenschaftlich und bahnte sich einen Augenblick spater ihren Weg durch das Tannengestrupp, worauf sie ganz lautlos im Wald verschwand. Noch immer hatte er weder ihren Namen noch ihre Adresse in Erfahrung gebracht. Aber das machte nichts, denn es war sowieso undenkbar, dafi sie sich jemals unter einem Dach 146 begegnen oder eine schriftliche Mitteilung miteinander austauschen wurden. Es ergab sich jedoch, dafi sie nie zu der Waldlichtung zuruckkehrten. Im Laufe des Mais fanden sie nur noch ein einziges Mai Gelegenheit zu einem intimen Beisammensein. Das war in einem anderen Versteck, das Julia kannte, dem Glockenturm einer Kirchenruine, die in einer fast vollig verlassenen Gegend lag, wo vor dreifiig Jahren eine Atombombe niedergegangen war. Aber der Weg dorthin war sehr gefahrlich. Die ubrige Zeit konnten sie sich nur auf der Strafie treffen, jeden Abend an einer anderen Stelle und nie fur langer als fur eine halbe Stunde. Auf der Strafie war es gewohnlich moglich, miteinander zu sprechen, wenn man ein bestimmtes Verfahren einhielt. Wahrend sie durch das Gedrange gingen, niemals dicht nebeneinander und ohne jemals einander anzusehen, fuhrten sie eine merkwurdige, bruchstuckweise Unterhaltung, die wie die Strahlen eines Leuchtturms aufzuckte und erlosch, beim Auftauchen einer Parteiuniform oder eines Televisors jah ins Stocken geriet, dann Minuten spater mitten in einem Satz wiederaufgenommen und ebenso plotzlich unterbrochen wurde, wenn sie an der vereinbarten Stelle auseinander gingen, um am nachsten Tag fast ohne Uberleitung weitergefuhrt zu werden. Julia schien ganz an diese Art Unterhaltung gewohnt zu sein, die sie das »Abzahlungssystem« nannte. Sie war auch erstaunlich geschickt darin, ganz ohne Lippenbewegung zu sprechen. Nur ein einziges Mai wahrend eines Monats abendlicher Zusammenkunfte sollte es ihnen gelingen, einen Kufi zu tauschen. Sie gingen gerade wortlos durch eine Nebenstrafie (Julia sprach niemals in Nebenstrafien), als ein betaubender Krach ertonte, die Erde barst und der Himmel sich verfinsterte; Winston fand sich zerschunden und erschrocken auf dem Boden liegen. Eine Raketenbombe mufite in nachster Nahe niedergegangen sein. Plotzlich sah er nur wenige Zentimeter entfernt das Gesicht Julias, totenblass, weifi wie Kalk. 147 Sogar ihre Lippen waren vollkommen weifi. Sie war tot! Erst als er sie an sich prefite, entdeckte er, dafi er ein lebenswarmes Gesicht ktifite und nur eine puderartige, broselige Staubschicht seinen Lippen im Weg war. Ihre Gesichter waren dicht mit Mortel tiberzogen. An manchen Abenden kamen sie an ihren Treffpunkt und mufiten ohne ein Zeichen hintereinander hergehen, weil gerade eine Streife um die Ecke gebogen kam oder ein Helikopter tiber ihnen schwebte. Aber auch wenn es weniger gefahrlich gewesen ware, bestanden noch genug Schwierigkeiten, die Zeit fur ein Rendezvous zu ertibrigen. Winstons Arbeitswoche hatte sechzig Stunden, und Julias war sogar noch langer; ihre freien Tage schwankten je nach der Dringlichkeit der Arbeit und deckten sich selten. Julia jedenfalls hatte kaum einen Abend ganz fur sich. Sie verwandte erstaunlich viel Zeit auf den Besuch von Vortragen und die Teilnahme von Demonstrationen, teilte Flugschriften fur die Jugendliga gegen Sexualitat aus, nahte Fahnen fur die Hass- Woche, sammelte fur den Sparfeldzug und dergleichen mehr. So etwas machte sich bezahlt, meinte sie; es war die beste Tarnung. Wenn man die kleinen Gesetze einhielt, konnte man gegen die grofien verstofien. Sie veranlasste Winston sogar, noch einen seiner freien Abende zu opfern, indem er sich als Heifer bei der Munitionsstuckarbeit verpflichtete, die von den eifrigen Parteimitgliedern freiwillig verrichtet wurde. So verbrachte Winston an einem Abend jeder Woche vier furchterlich langweilige Stunden mit dem Zusammenschrauben von Metallstuckchen, die vermutlich Bestandteile von Bombenzundern waren - in einer zugigen, schlecht beleuchteten Werkstatt, wo das Hammern sich trostlos mit der Musik aus den Televisoren vermischte. Als sie sich in dem Glockenstuhl des Kirchturms trafen, erganzten sie die Lticken ihrer bruchstuckweisen Unterhaltungen. Es war ein gluhendheifier Nachmittag. Die Luft in dem kleinen, viereckigen Raum tiber den Glocken war drtickend und erstickend und roch durchdringend nach 148 Taubenmist. Sie safien stundenlang auf dem staubigen, mit schmutzigem Reisig bedeckten Fufiboden und plauderten; von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf und warf einen Blick durch die Schiefischarten, um sich zu uberzeugen, dafi niemand kam. Julia war sechsundzwanzig Jahre alt. Sie wohnte in einem Heim mit dreifiig anderen jungen Madchen zusammen. (»Immer in dem Weibergestank! Wie ich die Frauen hasse!«) Und sie war, wie er vermutet hatte, an den Romanschreibemaschinen in der Literaturabteilung beschaftigt. Sie liebte ihre Arbeit, die in der Hauptsache in der Handhabung und Bedienung eines starken, aber sehr komplizierten Elektromotors bestand. Sie war nicht besonders intelligent, aber manuell geschickt und gut mit dem Maschinellen vertraut. Sie konnte den ganzen Arbeitsgang der Zusammenstellung eines Romans beschreiben, angefangen von den durch das Planungskomitee herausgegebenen Richtlinien bis zu den letzten, von der Umschreibe-Gruppe aufgesetzten Glanzlichtern. Aber sie hatte kein Interesse an dem Endprodukt. »Ich mache mir nicht viel aus Buchern«, sagte sie. Sie waren ein Artikel, der hergestellt werden mufite, wie Marmelade oder Schuhbander. Sie hatte keinerlei Erinnerung an die Zeit vor den sechziger Jahren; der einzige Mensch in ihrem Umkreis, der haufig von der Zeit vor der Revolution gesprochen hatte, war ein Grofivater, der verschwunden war, als sie acht Jahre alt wurde. In der Schule war sie Anfuhrerin der Hockey-Mannschaft gewesen und hatte zwei Jahre hintereinander den Leichtathletikpreis gewonnen. Sie war Truppfuhrerin bei den Spahern und Hilfssekretarin bei der Kinderliga gewesen, bevor sie in die Jugendliga gegen Sexualitat eintrat. Ihr Fuhrungszeugnis war immer vorzuglich gewesen. Sie war sogar dazu ausersehen worden - und das war ein untrugliches Zeugnis fur eine gute Fuhrung -, in der Unterabteilung der Literatur-Abteilung zu arbeiten, die billige pornographische Erzeugnisse zum Verkauf bei den Proles herstellte. Dort war sie ein Jahr geblieben und hatte in Zellophan gewickelte Broschuren 149 mit Titeln wie »Liebe und Hiebe« oder »Eine Nacht in einem Madchenpensionat« produzieren helfen, die heimlich von Jugendlichen aus dem Proletariat gekauft wurden, armen Ahnungslosen, die damit etwas gesetzlich streng Verbotenes und im geheimen Hergestelltes zu erstehen glaubten. »Was sind das fur Bucher?« fragte Winston neugierig. »Ach, wiister Schund. Sie sind eigentlich sehr langweilig. Es gibt nur sechs mogliche Verwicklungen in der Handlung, die immer nur ein bisschen abgeandert werden. Ich war naturlich nur an den Kaleidoskopen beschaftigt. Nie bei der Umschreibe-Gruppe. Ich bin nicht literarisch genug, mein Lieber - nicht einmal dazu wurde es reichen.« Mit Erstaunen erfuhr er, dafi in der Pornoabteilung aufier dem Leiter der Abteilung nur Madchen beschaftigt wurden. Man ging davon aus, dafi die Manner, die sich erotisch nicht so leicht beherrschen konnten wie Frauen, grofiere Gefahr liefen, durch den Schmutz, mit dem sie sich abgeben mussten, verdorben zu werden. »Sie nehmen dort nicht einmal gern verheiratete Frauen an«, fugte Julia hinzu. »Bei Madchen wird immer vorausgesetzt, dafi sie rein sind. Na, ich bin es jedenfalls nicht.« Sie hatte als Sechzehnjahrige ihre erste Liebesaffare mit einem sechzig Jahre alten Parteimitglied gehabt, einem Mann, der spater Selbstmord beging, um der Verhaftung zu entgehen. »Und das war ein Gluck«, fugte Julia hinzu, »sonst hatten sie meinen Namen von ihm herausbekommen, wenn er gestanden hatte. « Ihm waren zahlreiche andere gefolgt. In ihren Augen stellte sich das Leben sehr einfach dar. Man wollte es sich selbst so angenehm wie moglich machen; »sie«, das heifit die Partei, wollte einen daran hindern; also ubertrat man die Gesetze, wo man nur konnte. Julia schien es ebenso naturlich zu finden, dafi »sie« einem alles Vergnugen rauben wollte, wie dafi man selbst versuchte, sich nicht erwischen zu lassen. Sie hasste die Partei und sprach das in 150 den derbsten Worten aus, aber sie tibte generell keine Kritik an ihr. Von den Punkten abgesehen, wo ihr eigenes Leben damit in Konflikt kam, hatte sie keinerlei Interesse an den Doktrinen der Partei. Winston bemerkte, dafi sie niemals Neusprechworte benutzte, aufier den wenigen, die in die Umgangssprache eingegangen waren. Sie hatte nie etwas von der »Bruderschaft« gehort und lehnte es auch ab, an ihr Vorhandensein zu glauben. Jede Art organisierter Auflehnung gegen die Partei, die ja notwendigerweise fehlschlagen mufite, hielt sie fur dumm. Gegen die Gesetze zu verstofien und dabei selbst am Leben zu bleiben - darauf kam es an. Er fragte sich mit einem unbestimmten Gefuhl, wie viele Menschen ihres Typus es wohl unter der jungeren Generation geben mochte - Menschen, die in die Welt der Revolution hineingewachsen waren und nichts anderes kannten, die die Partei als etwas so Unabanderliches wie den Himmel zu ihren Hauptern hinnahmen, ohne sich gegen ihre Autoritat aufzulehnen, sondern ihr einfach auswichen, wie ein Hase hakenschlagend einem Hunde zu entkommen sucht. Sie sprachen nicht uber die Moglichkeit einer Heirat. Sie lag zu fern, um sich uberhaupt damit zu beschaftigen. Man konnte sich keinen Prufungsausschufi vorstellen, der eine solche Verbindung jemals genehmigen wurde, selbst wenn Winston seine Frau Katherine irgendwie hatte loswerden konnen. Es war zwecklos, sich das auch nur auszumalen. »Wie war eigentlich deine Frau?« fragte Julia. »Sie war - kennst du das Neusprechwort gutdenkvoll? Es bedeutet: von Natur aus orthodox, unfahig, einen Unvorschriftsmafiigen Gedanken auch nur zu fassen.« »Nein, ich kannte das Wort nicht. Aber diese Sorte Menschen kenne ich nur zu gut.« Er begann ihr die Geschichte seiner Ehe zu erzahlen, aber seltsamerweise schien sie das Wesentliche davon bereits zu kennen. Sie beschrieb ihm, als habe sie es selber miterlebt oder gefuhlt, wie Katherines Korper erstarrte, sobald er sie nur 151 bertihrte, und wie sie ihn selbst dann noch mit ihrer ganzen Kraft von sich wegzustofien schien, wenn ihre Arme eng um ihn geschlungen waren. Es bereitete ihm keine Schwierigkeit, mit Julia tiber solche Dinge zu sprechen: Katherine war jedenfalls langst keine schmerzliche Erinnerung mehr, sondern nur noch eine unangenehme. »Ich hatte es noch aushallen konnen, wenn nicht eine Sache gewesen ware«, sagte er. Und er erzahlte ihr von der frigiden kleinen Zeremonie, die ihn Katherine gezwungen hatte, allwochentlich in der gleichen Nacht auszuftihren. »Es war ihr greulich, aber nichts in der Welt hatte sie dazu bringen konnen, es bleiben zu lassen. Sie nannte es immer - aber das erratst du nie.« »Unsere Pflicht gegenuber der Partei«, sagte Julia prompt. »Woher weifit du das?« »Ich war schliefilich auch in der Schule, mein Lieber. Aufklarungsunterricht fur junge Madchen tiber sechzehn, einmal im Monat. In der Jugendbewegung desgleichen. Sie trichtern einem das Jahre hindurch ein. Und ich kann wohl behaupten, dafi sie in vielen Fallen Erfolg damit haben. Aber man weifi es nattirlich nie; die Menschen sind so scheinheilig.« Und sie begann sich weiter tiber das Thema auszulassen. Bei Julia drehte sich alles um ihre eigene Sinnlichkeit. Sobald diese irgendwie im Spiel war, konnte sie aufierordentlich scharfsinnig sein. Im Gegensatz zu Winston war ihr ein Licht tiber den eigentlichen Zweck der strengen Parteidoktrin in sexuellen Dingen aufgegangen. Sie wurde aufrechterhalten, nicht nur weil die Sexualitat sich eine Welt ftir sich zu schaffen verstand, die aufierhalb der Kontrolle der Partei lag, so dafi sie nach Moglichkeit unterdrtickt werden mufite, sondern vor alien Dingen, weil die sexuelle Enthaltsamkeit zur Hysterie ftihrte und damit ein erstrebenswertes Ziel erreicht wurde, denn diese Hysterie konnte in Kriegsbegeisterung und Ftihrerverehrung umgewandelt werden. Julia drtickte das folgendermafien aus: 152 »Beim Liebesspiel verbraucht man Energie, und hinterher ftih.lt man sich glticklich und pfeift auf alles andere. Das konnen sie nicht ertragen. Sie wollen, dafi man standig zum Platzen mit Energie geladen ist. Dies ganze Auf- und Abmarschieren, Hurra- Brtillen und Fahnenschwenken ist weiter nichts als sauer gewordene Sinnlichkeit. Wenn man innerlich glticklich ist, kann man weder tiber den Grofien Bruder noch den Drei-Jahres-Plan, die Zwei-Minuten-Hass-Sendung und den ganzen tibrigen Schwindel in Begeisterung geraten!« Das war sehr richtig, dachte Winston. Es bestand ein unmittelbarer, enger Zusammenhang zwischen Enthaltsamkeit und politischer Strengglaubigkeit. Hatte man sonst Furcht, Hass und fanatischen Glauben, wie sie die Partei bei ihren Mitgliedern voraussetzte, in der richtigen Weifiglut erhalten konnen, wenn man nicht einen machtigen Urtrieb auf Flaschen zog, um ihn als Treibstoff zu benutzen? Der Sexualtrieb war ftir die Partei gefahrlich, und sie hatte gelernt, ihn in ihren Dienst zu spannen. Ahnlich war man mit dem Familiensinn verfahren. Die Familie konnte zwar nicht vollig abgeschafft werden, ja, man ermutigte die Leute sogar, in einer fast altmodischen Weise an ihren Kindern zu hangen. Die Kinder dagegen wurden systematisch gegen ihre Eltern aufgehetzt; man brachte ihnen bei, sie zu bespitzeln und jeden ihrer Verstofie gegen die Disziplin zu melden. Das Familienleben war in Wirklichkeit zu einer Erweiterung der Gedankenpolizei geworden, zu einem Mittel, um jedermann Tag und Nacht von intim vertrauten Angebern bespitzeln zu lassen. Er mufite wieder an Katherine denken. Sie hatte ihn fraglos bei der Gedankenpolizei denunziert, wenn sie nicht zu dumm gewesen ware, um an seinen Ansichten etwas Unorthodoxes zu bemerken. Was sie ihm in diesem Augenblick ins Gedachtnis zurtickrief, war die erstickende Schwtile des Nachmittags, die ihm den Schweifi auf die Stirn getrieben hatte. Er begann Julia zu erzahlen, was sich vor elf Jahren an einem ahnlichen drtickend heifien Sommertag ereignet hatte. 153 Es hatte sich drei oder vier Monate nach ihrer Heirat zugetragen. Katherine und er hatten sich auf einer Gemeinschaftswanderung im Herzen von Kent verlaufen. Sie waren nur ein paar Minuten hinter den anderen zuruckgeblieben, hatten dann aber eine falsche Richtung eingeschlagen und fanden sich plotzlich am Rand einer aufgelassenen Kalkgrube stehen. Der Boden sturzte jah zu einer Tiefe von zehn oder zwanzig Meter ab; unten lagen grofie Felsentrummer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, den sie nach dem Weg hatten fragen konnen. Sobald Katherine merkte, dafi sie den Weg verloren hatten, wurde sie sehr unruhig. Auch nur fur einen Augenblick vom larmenden Haufen der anderen Ausflugler getrennt zu sein, gab ihr das Gefuhl, ein Unrecht zu begehen. Sie wollte auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurucklaufen und in der anderen Richtung ihr Gluck versuchen. Aber in diesem Augenblick entdeckte Winston ein paar Stauden Pfennigkraut, die in den Vorsprungen des Gesteins unter ihnen Wurzel geschlagen hatten. Eine von den Stauden war zweifarbig, sie trug offenbar violette und ziegelrote Bliiten am selben Stamm. Er hatte noch nie vorher etwas Derartiges gesehen und rief Katherine herbei, um sich das anzusehen. »Schau, Katherine. Schau mal diese Blumen. Diese Staude da, fast unten auf dem Grund. Sie hat zwei verschiedene Farben, siehst du es?« Sie hatte sich bereits zum Gehen gewandt, kam aber ziemlich verdriefilich fur einen Augenblick zuruck. Sie beugte sich sogar tiber den Rand der Grube, um zu sehen, worauf er deutete. Er stand ein wenig hinter ihr und hielt sie, um ihr Halt zu geben, am Gurtel fest. In diesem Augenblick kam ihm plotzlich zum Bewusstsein, wie vollkommen allein sie waren. Nirgends eine Menschenseele, kein Blatt regte sich, nicht einmal ein Vogel war zu sehen. An einem solchen Ort war die Gefahr eines irgendwo verborgenen Mikrophons sehr gering, und selbst wenn es installiert ware, wurde es nur ein Gerausch verzeichnen. Es war um die heifieste, schlafrigste Nachmittagsstunde. Die Sonne 154 brannte auf sie herunter, der Schweifi kitzelte sein Gesicht. Da war ihm der Gedanke gekommen. . . »Warum hast du ihr nicht einen tuchtigen Stofi versetzt?« sagte Julia. »Ich hatte es getan.« »Ja, Liebling, du schon. Ich hatte es auch getan, wenn ich derselbe Mensch gewesen ware wie heute. Das heifit, vielleicht hatte ich es getan - ich bin mir nicht sicher.« »Tut es dir leid, dafi du es nicht getan hast?« »Ja. Im Grunde bedaure ich es.« Sie safien Seite an Seite auf dem staubigen Fufiboden. Er zog sie an sich. Ihr Kopf lag auf seiner Schulter, der angenehme Duft ihres Haares uberstaubte den Geruch nach Taubenmist. Sie war sehr jung, dachte er, sie erwartete noch etwas vom Leben, sie begriff nicht, dafi es nichts hilft, einen unbequemen Menschen in einen Abgrund zu stofien. »In Wirklichkeit hatte es nichts geandert«, sagte er. »Warum bedauerst du dann, es nicht getan zu haben?« »Nur weil mir das Handeln lieber geworden ist als das Herumsitzen mit Handen im Schofi. Doch bei dem Spiel, das wir spielen, konnen wir nicht gewinnen. Die eine Art von Fehlschlagen ist besser als die andere, das ist alles.« Er fuhlte ein Zucken des Widerspruchs in ihren Schultern. Sie widersprach ihm immer, wenn er etwas Derartiges sagte. Sie wollte es nicht als ein Naturgesetz hinnehmen, dafi der einzelne immer unterliegt. Einesteils war ihr bewusst, dafi sie zum Untergang verurteilt war, dafi fruher oder spater die Gedankenpolizei sie verhaften und toten wurde, doch mit einem anderen Teil ihres Denkens hielt sie es irgendwie fur moglich, eine geheime Welt aufzubauen, in der man leben konnte, wie es einem gefiel. Dazu brauchte man nur Gluck, Schlauheit und Dreistigkeit. Sie begriff nicht, dafi es so etwas wie Gluck nicht gab, dafi der einzige Sieg in der fernen Zukunft lag, lange nachdem man gestorben war, dafi man von dem Augenblick an, in dem man der Partei den Kampf ansagte, besser daran tat, sich als Leiche zu betrachten. 155 »Wir sind die Toten«, sagte er. »Wir sind doch noch nicht tot«, meinte Julia nuchtern. »Noch nicht korperlich. Aber in sechs Monaten, einem Jahr - moglicherweise ftinf Jahren. Ich habe Angst vor dem Tod. Du bist noch jung, also furchtest du ihn vermutlich noch mehr als ich. Begreiflicherweise werden wir ihn so lange wie moglich hinausschieben. Aber es ist nur ein sehr geringer Unterschied. Solange wir Menschen Menschen sind, bleiben sich Tod und Leben gleich.« »Ach, Unsinn! Mit wem mochtest du lieber ins Bett gehen, mit mir oder einem Skelett? Bist du nicht froh, dafi du lebst? Fuhlst du nicht gerne: Das bin ich, das ist meine Hand, das ist mein Bein, ich bin wirklich, bin greifbar, ich lebe! Liebst du das nicht?« Sie warf sich herum und presste ihren Busen gegen ihn. Er konnte ihre reifen, festen Bruste durch ihren Trainingsanzug hindurch spuren. Ihr Korper schien etwas von seiner Jugendfrische und Lebenskraft an ihn abzugeben. »Doch, das liebe ich«, sagte er. »Dann hor auf, vom Sterben zu reden. Und jetzt pafi auf, Liebster, wir mussen unser nachstes Wiedersehen vereinbaren. Wir konnen ebenso gut wieder zu der Stelle im Wald gehen. Wir haben lange genug pausiert. Aber diesmal mufit du auf einem anderen Weg hingehen. Ich habe mir alles ausgedacht. Du fahrst mit dem Zug - aber schau her, ich werde es dir aufzeichnen.« Und in ihrer praktischen Art scharrte sie den Staub zu einem kleinen Quadrat zusammen und begann mit einem Zweig aus einem der Taubennester eine Landkarte auf den Boden zu zeichnen. 156 Viertes Kapitel Winston blickte sich in dem schabigen kleinen Zimmer tiber Mr. Charringtons Laden urn. Neben dem Fenster war das riesige Bett mit zerrissenen Wolldecken und einem unbezogenen Kopfkissen aufgemacht. Die altmodische Uhr mit dem Zwolferzifferblatt tickte auf dem Kaminsims. In der Ecke, auf dem Klapptischchen, schimmerte der Glasbriefbeschwerer, den er bei seinem letzten Besuch gekauft hatte, sanft aus dem Halbdunkel hervor. Auf dem Kaminvorsatz standen ein zerbeulter Blechpetroleumkocher, ein Kessel und zwei Tassen, die Mr. Charrington zur Verfugung gestellt hatte. Winston zundete den Kocher an und setzte Wasser auf. Er hatte einen Briefumschlag voll Victory-Kaffee und ein paar Sacharintabletten mitgebracht. Die Zeiger zeigten auf zwanzig nach sieben: demnach war es also in Wirklichkeit 19.20 Uhr. Um 19.30 Uhr wollte sie kommen. Verruckt, verriickt, hammerte sein Herz unaufhorlich: Es war eine bewufite, unverantwortliche, selbstmorderische Verrucktheit. Von alien Verbrechen, die ein Parteimitglied begehen konnte, war keines so unmoglich geheimzuhalten wie dieses. Genaugenommen war ihm der Gedanke zum erstenmal wie eine Vision durch den Sinn gegangen, als er den Briefbeschwerer sich in der Platte des Klapptisches spiegeln sah. Wie vorausgesehen, hatte Mr. Charrington keine Schwierigkeiten beim Vermieten des Zimmers gemacht. Er war offensichtlich erfreut tiber die paar Dollar, die ihm das einbringen wtirde. Auch nahm er keinen Anstofi daran, noch wurde er unangenehm vertraulich, als sich herausstellte, dafi Winston das Zimmer ftir ein Liebesabenteuer benotigte. Stattdessen blickte er unbestimmt vor sich hin und sprach in allgemeinen Wendungen mit einer so zurtickhaltenden Miene, dafi man das Geftihl hatte, er sei tiberhaupt so gut wie unsichtbar geworden. 157 Unter sich zu sein, meinte er, sei etwas sehr Schatzenswertes. Jeder Mensch sollte ein Platzchen haben, wo er gelegentlich zu zweit allein sein konne. Und wenn der Betreffende ein solches Platzchen gefunden habe, so sei es nur eine ganz gewohnliche Anstandspflicht jedes anderen, sein Wissen daruber fur sich zu behalten. Er fugte sogar hinzu - und dabei schien er sich vollends in nichts aufzulosen - , dafi das Haus zwei Eingange habe, von denen einer durch den Hinterhof hinaus auf ein Seitengafichen fuhre. Draufien vor dem Fenster sang jemand. Winston lugte unter dem Schutz des Musselinvorhangs hinaus. Die Junisonne stand noch hoch am Himmel, und drunten auf dem besonnten Hof stapfte ein Monstrum von Frau, wuchtig wie eine romanische Saule, mit stammigen roten Unterarmen und einer um ihre Taille gebundenen Sackleinwandschurze, zwischen einem Waschfass und einer Wascheleine hin und her, auf der sie eine Reihe viereckiger weifier Dinger aufhangte, die Winston als Kinderwindeln erkannte. So oft ihr Mund nicht durch Wascheklammern verschlossen war, sang sie mit machtiger, tiefer Altstimme: »Es war nur ein tiefer Traum, Ging wie ein Apriltag vorbei-ei, Aber sein Blick war leerer Schaum, Brach mir das Herz entzwei-ei!« Das Lied wurde wahrend der letzten Wochen von ganz London getrallert. Es war einer von zahlreichen ahnlichen Schlagern, die fur die Proles von einer Unterabteilung der Fachgruppe Musik herausgegeben wurden. Der Wortlaut dieser Lieder wurde ohne jedes menschliche Zutun von einem sogenannten »Versificator« zusammengestellt. Aber die Frau sang so melodios, dafi aus dem furchterlichen Blodsinn beinahe ein hubsches Liedchen wurde. Er konnte den Gesang der Frau und das Scharren ihrer Schuhe auf den Steinplatten horen, die Rufe der Kinder auf der Strafie und irgendwo in weiter Feme das leise Drohnen des Verkehrs; und doch schien ihm das Zimmer merkwurdig still, weil es keinen Televisor enthielt. Verruckt, verruckt, dachte er von neuem. Es war unvorstellbar, dafi sie diesen Treffpunkt langer als ein paar Wochen benutzen 158 konnten, ohne ertappt zu werden. Aber die Versuchung, einen Unterschlupf zu haben, der wirklich ihnen gehorte, unter einem festen Dach und leicht erreichbar, war fur sie beide zu grofi gewesen. Nach ihrem letzten Treffen im Glockenturm liefi sich eine Zeitlang kein Stelldichein ermoglichen. Die Zahl der Arbeitsstunden war im Hinblick auf die kommende Hass-Woche radikal heraufgesetzt worden. Sie fand erst in mehr als einem Monat statt, aber die damit verbundenen umfangreichen und vielfaltigen Vorbereitungen burdeten jedermann Sonderarbeit auf. Endlich gelang es den beiden, sich am selben Tag einen freien Nachmittag zu verschaffen. Sie waren ubereingekommen, wieder zu der Waldlichtung zu gehen. Am Abend vorher trafen sie sich kurz auf der Strafie. Wie gewohnlich sah Winston Julia kaum an, als sie in der Menge aufeinander zusteuerten, aber nach dem kurzen Blick, den er ihr zuwarf, kam es ihm so vor, als sei sie bleicher als gewohnlich. »Es ist nichts damit«, murmelte sie, sobald sie es fur ungefahrlich hielt, zu sprechen. »Mit morgen, meine ich.« »Wieso?« »Morgen Nachmittag. Ich kann nicht kommen.« »Warum nicht?« »Das ubliche. Es ist diesmal zu frtih losgegangen.« Einen Augenblick lang packte ihn heftiger Arger. Wahrend der Monate ihrer Bekanntschaft hatte sich seine Einstellung zu ihr geandert. Anfangs hatte nur wenig echte Sinnlichkeit mitgespielt. Ihr erstes intimes Beisammensein war fur ihn lediglich eine Willensanstrengung gewesen. Aber nach dem zweiten Mai war es anders geworden. Der Duft ihres Haares, der Geschmack ihres Mundes, die Beruhrung ihrer Haut schienen ihn ganz und gar, ja selbst die ihn umgebende Atmosphare durchdrungen zu haben. Sie war fur ihn ein korperliches Bedurfnis geworden, etwas, das er nicht nur brauchte, sondern worauf er ein Recht zu haben meinte. Als sie nun sagte, sie konne nicht kommen, hatte er das Gefuhl, von ihr betrogen zu werden. Aber gerade in diesem Augenblick wurden 159 sie im Gedrange aneinander geprefit, und ihre Hande fanden sich wie zufallig. Sie versetzte seinen Fingerspitzen einen raschen Druck, der nicht um Begehren, sondern um Liebe bat. Ihm wurde bewufit, dafi eine solche Enttauschung beim Zusammenleben mit einer Frau eine normale, immer wiederkehrende Erscheinung sein mufite. Und plotzlich empfand er eine tiefe Zartlichkeit, wie er sie vorher nicht fur sie gefuhlt hatte. Er wunschte, sie waren ein altes, seit zehn Jahren verheiratetes Ehepaar. Er wunschte, er ginge mit ihr wie eben jetzt durch die Strafien, aber often und ohne Angst, um sich dabei uber alltagliche Dinge zu unterhalten und alles Mogliche fur den Haushalt einzukaufen. Vor allem aber wunschte er. sie hatten ein Fleckchen Erde, wo sie allein miteinander sein konnten, ohne die Verpflichtung zu fuhlen, bei jedem Zusammensein gleich ins Bett gehen zu mussen. Nicht gerade in diesem Augenblick, aber irgendwann im Laute des folgenden Tages war ihm der Gedanke gekommen. Mr. Charringtons Zimmer zu mieten. Als er Julia diesen Vorschlag machte, hatte sie mit unerwarteter Bereitwilligkeit zugestimmt. Sie wufiten beide, dafi es ein Wahnsinn war. Es war, als taten sie beide absichtlich einen Schritt naher an ihr Grab heran. Wahrend er wartend auf dem Bettrand safi, dachte er von neuem an die Kellergewolbe des Liebesministeriums. Es war merkwurdig, wie einem dies unausweichliche Schicksal immer wieder zum Bewufitsein kam. Da lag es nun auf der Lauer als sichere Vorbestimmung, ein Vorspiel des Todes, auf das man mit neunundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit rechnen konnte. Man konnte ihm nicht entrinnen, aber man konnte es vielleicht hinausschieben: und doch legte man es stattdessen immer wieder darauf an, durch eine bewusst gewollte Handlung den Aufschub zu verkurzen. In diesem Augenblick vernahm man einen raschen Schritt auf der Treppe. Julia kam ins Zimmer gesturzt. Sie trug eine Werkzeugtasche aus derbem braunen Segeltuch, mit der er sie manchmal im Ministerium hatte hin und her laufen sehen. Er 160 sprang auf, um sie in seine Arme zu schliefien, aber sie befreite sich ziemlich hastig, zum Teil wohl, weil sie noch immer die Werkzeugtasche hielt. »Nur eine Sekunde«, sagte sie. »Lafi dir nur eben zeigen, was ich mitgebracht habe. Hast du was von diesem schauerlichen Victory-Kaffee mitgebracht? Das dachte ich mir. Du kannst ihn wegschmeifien, denn wir brauchen ihn nicht. Da, schau her.« Sie liefi sich auf die Knie nieder, klappte die Tasche auf und warf ein paar Schraubenschlussel heraus, die obenauf lagen. Darunter kam eine Anzahl sauberlich in Papier gewickelter Packchen zum Vorschein. Das erste Packchen, das sie Winston reichte, fuhlte sich merkwurdig und doch irgendwie bekannt an. Es war mit einer schweren, feinkornigen Masse angefullt, die bei der Beruhrung jedem Druck nachgab. »Doch nicht etwa Zucker?« fragte er. »Echter Zucker. Kein Sacharin, sondern Zucker. Und hier ist ein Laib Brot - richtiges Weifibrot, nicht unser elender Dreck - und ein Topfchen Marmelade. Und da ist eine Dose Milch - aber jetzt pass auf! Darauf bin ich wirklich stolz. Ich mufite es in ein Stuck Sackleinwand einwickeln, weil...« Aber sie brauchte ihm nicht zu sagen, warum sie es eingewickelt hatte. Der Duft erfullte bereits das Zimmer, ein reicher, wurziger Duft, der wie ein Hauch aus seiner Kindheit war, dem man aber auch heute noch begegnete, wenn er manchmal durch eine Gasse zog, ehe irgendeine Tur ins Schlofi fiel, oder in einer verkehrsreichen Strafie in der Luft hing, einem einen Augenblick in die Nase stieg und sich dann wieder verfluchtigte. »Kaffee«, murmelte er, »echter Kaffee.« »Es ist Kaffee fur die Innere Partei. Ich habe ein ganzes Kilo davon mit«, sagte sie. »Wie bist du zu all diesen Dingen gekommen?« »Es sind alles Sachen fur die Innere Partei. Es gibt nichts, was diese Schweine nicht haben; einfach nichts. Aber naturlich klauen die Kellner, die Dienstboten und die Angestellten, und . . . schau her, ich habe auch ein Packchen Tee.« 161 Winston hatte sich eben niedergehockt. Er rifi eine Ecke des Packchens auf. »Echter Tee! Keine Brombeerblatter!« »Es gab in letzter Zeit haufenweise Tee. Sie haben Indien erobert oder so etwas Ahnliches«, sagte sie beilaufig. »Aber hor zu, Liebster. Tu mir den Gefallen und dreh dich drei Minuten um. Geh und setz dich auf die andere Seite vom Bett. Tritt nicht zu nah ans Fenster. Und dreh dich nicht um, ehe ich dir's nicht sage.« Winston starrte versunken durch den Musselinvorhang hindurch. Unten im Hof ging die Frau mit den geroteten Armen noch immer zwischen dem Waschzuber und der Wascheleine hin und her. Sie nahm gerade wieder zwei Klammern aus dem Mund und sang mit gefuhlvoller Stimme: »Man sagt, die Zeit heile alles, Es heifit, man kann alles vergessen, Aber vom Schmerz meines Falles, Von dem bleib' ich ewig besessen!« Sie schien das ganze torichte Lied auswendig zu konnen. Ihre Stimme schwebte sehr melodisch mit dem lauen Sommerluftchen daher, von einer Art glucklicher Melancholie erfullt. Man hatte das Gefuhl, es hatte der Frau nichts ausgemacht, wenn der Juniabend nie ein Ende gehabt und der Waschevorrat unerschopflich gewesen ware, und wenn sie tausend Jahre so weitermachen konnte: Kinderwindeln aufhangen und kitschige Lieder dabei singen. Dabei fiel ihm ein, dafi er merkwurdigerweise nie ein Parteimitglied allein und spontan hatte singen horen. Es hatte sogar ein wenig unorthodox, wie eine gefahrliche Schrullenhaftigkeit gewirkt, so als ob man Selbstgesprache fuhrte. Vielleicht mufiten die Menschen erst nahe am Verhungern sein, um fur sich allein singen zu konnen. »Jetzt darfst du dich umdrehen«, sagte Julia. Er drehte sich um und hatte sie eine Sekunde lang fast nicht erkannt. Eigentlich hatte er erwartet, sie nackt vor sich zu sehen. Aber sie war nicht nackt. Ihre Verwandlung war viel erstaunlicher. Sie hatte sich geschminkt. Sie mufite in einen Laden in den Prolesvierteln geschlupft sein und eine ganze Ausrustung von Toilettenartikeln gekauft haben. 162 Ihre Lippen waren tiefrot, ihre Wangen bedeckte ein Hauch von Rouge, ihre Nase war gepudert; sogar unter die Augen war irgendetwas getupft, das sie glanzender erscheinen liefi. Es war nicht sehr geschickt gemacht, aber Winstons Anspruche in diesen Dingen waren keineswegs hochgeschraubt. Er hatte nie zuvor ein weibliches Parteimitglied geschminkt gesehen oder es sich auch nur geschminkt vorstellen konnen. Julias Erscheinung hatte sich in verbluffender Weise verschont. Mit nur wenigen Farbstrichen an den richtigen Stellen war sie nicht nur sehr viel hubscher, sondern vor allem viel weiblicher geworden. Ihr kurzes Haar und der knabenhafte Trainingsanzug erhohten nur die Wirkung. Als er sie in seine Arme schlofi, stieg ihm eine Welle synthetischen Veilchendufts in die Nase. Er erinnerte sich an das Halbdunkel einer Wohnkuche im Erdgeschofi und an die schwarze Mundhohle einer Frau. Genau das gleiche Parfum hatte sie benutzt; aber im Augenblick schien das nichts auszumachen. »Parfum auch!« rief er aus. »Ja, Liebster, auch Parfum. Und weifit du, was ich als nachstes mache? Ich versuche, irgendwo einen richtigen Frauenrock aufzutreiben, und ziehe ihn mir anstatt dieser scheufilichen Hosen an. Ich werde seidene Strumpfe tragen und Schuhe mit hohen Absatzen! In diesem Zimmer will ich eine Frau sein, keine Genossin.« Sie streiften ihre Kleider ab und stiegen in das riesige Mahagonibett. Er zog sich zum erstenmal in ihrer Gegenwart ganz aus. Bisher hatte er sich zu sehr seines bleichen, mageren Korpers mit den an den Waden hervortretenden Krampfadern und dem entfarbten Fleck uber seinem Fufiknochel geschamt. Das Bett hatte kein Laken, aber die Wolldecke, auf der sie lagen, war dtinn und weich, und die Grofie und Federung des Bettes erstaunte sie beide. »Es wimmelt sicher von Wanzen, aber wen kummert das schon?« sagte Julia. Man sah heutzutage nirgendwo Doppelbetten, aufier in den Wohnungen der Proles. Winston hatte in seiner Knabenzeit 163 gelegentlich in einem geschlafen; Julia hatte noch nie zuvor in einem gelegen, soweit sie sich erinnern konnte. Sie sanken gleich fur eine Weile in Schlummer. Als Winston aufwachte, waren die Zeiger der Uhr bis fast auf neun vorgeruckt. Er ruhrte sich nicht, denn Julia schlief noch, ihren Kopf in die Biegung seines Armes gebettet. Der grofite Teil der Schminke hatte sich auf sein Gesicht und das Kissen ubertragen, aber ein zarter roter Fleck betonte noch immer die Schonheit ihrer Wange. Ein goldgelber Strahl der untergehenden Sonne glitt tiber das Bettende und fiel auf den Kocher, auf dem das Wasser lebhaft sprudelte. Drunten im Hof hatte die Frau zu singen aufgehort, aber gedampfte Kinderrufe drangen von der Strafie herein. Er fragte sich verschwommen, ob es wohl in der verponten Vergangenheit ein normales Erlebnis gewesen war, als Mann und Frau so in der Kuhle des Sommerabends unbekleidet im Bett zu liegen, der Liebe zu fronen, wenn man Lust dazu verspurte, zu sprechen, was einem gerade einfiel, nicht zum Aufstehen gezwungen zu sein, sondern einfach dazuliegen und den friedvollen Gerauschen von draufien zu lauschen. Konnte es einmal eine Zeit gegeben haben, wo das selbstverstandlich schien? Julia erwachte, rieb sich die Augen und richtete sich auf den Ellenbogen auf, um nach dem Petroleumkocher zu sehen. »Das halbe Wasser ist verkocht«, sagte sie. »Ich stehe gleich auf und mache Kaffee. Wir haben noch eine Stunde Zeit. Wann wird in eurem Block das Licht ausgeschaltet?« »Um dreiundzwanzig Uhr dreifiig.« »Im Heim um dreiundzwanzig Uhr. Aber man mufi schon f ruher zu Hause sein, weil...Huch! Mach, dafi du wegkommst, du Biest!« Sie machte plotzlich eine Drehung im Bett, hob einen Schuh vom Boden auf und warf ihn wuchtig mit einer jungenhaften Armbewegung in die Ecke, mit der gleichen Bewegung, mit der er sie an jenem Vormittag wahrend der Zwei-Minuten-Hass- Sendung das Worterbuch nach Goldstein hatte schleudern sehen. 164 »Was ist los?« fragte er erstaunt. »Eine Ratte. Ich sah, wie sie ihre ekelhafte Schnauze hinter der Holzleiste hervorstreckte. Dort druben ist ein Loch. Jedenfalls habe ich ihr einen tuchtigen Schrecken eingejagt.« »Ratten!« murmelte Winston. »In diesem Zimmer!« »Sie treiben sich uberall herum«, sagte Julia gleichgultig, wahrend sie sich wieder hinlegte. »Im Heim haben wir sogar welche in der Kuche. In manchen Teilen Londons wimmelt es von ihnen. Wusstest du, dafi sie an kleine Kinder herangehen? Doch, bestimmt, das tun sie. In manchen von diesen Strafien wagen die Frauen ihre Kinder nicht zwei Minuten allein zu lassen. Die grofien braunen machen das. Und das Scheufilichste ist, dafi die Biester...« »H6r auf!« sagte Winston, die Augen fest geschlossen. »Liebster! Du bist ja ganz blafi geworden. Was fehlt dir? Wird dir von ihnen schlecht?« »Von alien Scheufilichkeiten der Welt sind Ratten... « Sie prefite sich eng an ihn und umschlang ihn mit ihren Gliedern, wie um ihn mit der Warme ihres Korpers zu beruhigen. Er offnete die Augen nicht gleich wieder. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefuhl gehabt, von neuem in den Angsttraum versetzt zu werden, der ihn sein ganzes Leben hindurch von Zeit zu Zeit verfolgt hatte. Es war immer so ziemlich dasselbe. Er stand vor einer Mauer aus Dunkelheit, jenseits der etwas Unertragliches lauerte, etwas, das zu schrecklich war, um seinen Anblick noch ertraglich sein zu lassen. Im Traum war dabei sein tiefstes Gefuhl immer, dafi er sich etwas vormachte, dafi er in Wirklichkeit genau wufite, was hinter der dunklen Mauer war. Mit einer unerhorten Anstrengung, als reifie er sich ein Stuck aus dem eigenen Gehirn, hatte er das Verborgene sogar ans Licht zerren konnen. Er wachte immer auf, ohne zu erfahren, was es eigentlich war: aber irgendwie hing es damit zusammen, wovon Julia gesprochen hatte, als er sie unterbrach. »Verzeih«, sagte er, »es ist nichts. Ich kann nun einmal Ratten nicht ausstehen, das ist alles.« 165 »Mach dir keine Sorgen, Liebster, wir werden die elenden Biester hier nicht hereinlassen. Ich werde das Loch mit etwas Sackleinen zustopfen, bevor wir gehen. Und wenn wir das nachste Mai herkommen, bring ich Gips mit und schmiere es ordentlich zu.« Schon war der dunkle Augenblick der Panik halb vergessen. Etwas beschamt tiber sich selbst setzte er sich auf, gegen das Kopfteil des Bettes gestutzt. Julia stand auf, zog ihren Trainingsanzug an und machte den Kaffee. Der aus dem Topf aufsteigende Duft war so stark und betaubend, dafi sie die Fenster schlossen, damit niemand draufien es merken und vielleicht neugierig werden konnte. Doch fast noch besser als der Geschmack des Kaffees war die seidige Weiche, die ihm der Zucker verlieh, etwas, das Winston nach Jahren des Sacharins nahezu vergessen hatte. Eine Hand in der Tasche, in der anderen ein Marmeladebrot, ging Julia im Zimmer umher, betrachtete gleichgultig das Buchergestell, zeigte ihm, wie man den Klapptisch am besten reparieren konnte, liefi sich in den abgenutzten Lehnstuhl fallen, um zu sehen, ob er bequem war, und untersuchte mit einem nachsichtigen Lacheln die komische zwolfziffrige Uhr. Sie brachte den glasernen Briefbeschwerer heruber ans Bett, um ihn bei besserem Licht betrachten zu konnen. Er nahm ihn ihr aus der Hand, wie immer fasziniert von der gedampften, regenwasserartigen Beschaffenheit des Glases. »Wozu ist das deiner Ansicht nach?« fragte Julia. »Ich glaube, es hat kein >Wozu< - ich meine, ich glaube nicht, dafi es jemals einem Zweck gedient hat. Das mag ich so gerne daran. Es ist ein Stuckchen Geschichte, das sie zu verfalschen vergessen haben. Es ist, wenn man sie zu lesen versteht, eine Botschaft aus der Zeit vor hundert Jahren. « »Und dieses Bild dort druben« - sie deutete mit dem Kopf nach dem Stich an der gegenuberliegenden Wand -, »ist das auch hundert Jahre alt?« 166 »Noch mehr. Zweihundert wurde ich sagen. Man weifi es nicht. Man kann heutzutage unmoglich das Alter irgendeiner Sache festhalten.« Sie ging hinuber, um es naher zu betrachten. »Da hat das Biest seine Nase herausgestreckt«, sagte sie dabei und versetzte gerade unter dem Bild der Holzleiste einen Tritt. »Was ist das fur ein Gebaude? Ich habe es schon irgendwo gesehen.« »Eine Kirche - jedenfalls war es fruher eine. St. Clement's Dane hiefi sie.« Die Verszeile, die Mr. Charrington ihn gelehrt hatte, fiel ihm wieder ein, und er fugte halb sehnsuchtig hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's!« Zu seinem Erstaunen erganzte sie den Reim: »You owe me three farthings, Say the bells of St. Martin's, When will you pay me? Say the bells of Old Bailey... Ich weifi nicht, wie es danach weitergeht. Aber jedenfalls erinnere ich mich, wie es schliefit: >Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head!<« Es war wie die zwei Stichworte eines Erkennungszeichens. Aber es mufite nach »the bells of Old Bailey« noch ein anderer Vers kommen. Vielleicht konnte man ihn aus Mr. Charringtons Erinnerung ausgraben, wenn er gerade in der richtigen Stimmung war. »Wer hat dir das beigebracht?« fragte er. »Mein Grofivater. Er sagte es mir immer vor, als ich ein kleines Madchen war. Er wurde vaporisiert, als ich acht Jahre alt war - jedenfalls verschwand er spurlos. Ich wurde gern wissen, was eine Zitrone ist«, fugte sie sprunghaft hinzu. »Orangen habe ich gesehen. Es sind so runde gelbe Fruchte mit einer dicken Schale.« »Ich kann mich auch noch auf Zitronen besinnen«, sagte Winston. »Sie waren in den funfziger Jahren etwas ganz Gewohnliches. Sie waren so sauer, dafi schon allein beim Riechen der Mund zusammengezogen wurde. « »Ich wette, hinter diesem Bild sind Wanzen«, sagte Julia. »Ich werde es gelegentlich herunternehmen und tuchtig saubermachen. Ich glaube, es ist langsam Zeit zum Aufbrechen. 167 Ich mufi anfangen, mir diese Schminke abzuwaschen. Wie schade! Hinterher werde ich dir den Lippenstift vom Gesicht abwischen.« Winston blieb noch ein paar Minuten langer liegen. Im Zimmer wurde es immer dunkler. Er drehte sich dem Lichte zu und starrte auf den glasernen Briefbeschwerer. Das unerschopflich Interessante daran war nicht so sehr das Stuck Koralle als das Innere des Glases selbst. Es hatte eine solche Tiefe, dabei war es fast so durchsichtig wie Luft. Es war, als ware die Oberflache des Glases die Himmelskuppel, die eine winzige Welt mit ihrer ganzen Atmosphare einschloss. Er hatte das Gefuhl, als konnte er in sie hineintreten, ja, als lebe er in Wirklichkeit darin, zusammen mit dem Mahagonibett und dem Klapptisch, der Uhr, dem Stahlstich und dem Briefbeschwerer selbst. So glich der Briefbeschwerer dem Zimmer, in dem er sich befand, und die Koralle seinem Leben und dem Julias, das im Herzen des Kristalls gleichsam wie fur die Ewigkeit im Panzer lag. Fxinftes Kapitel Syme war plotzlich verschwunden. Eines Morgens fehlte er bei der Arbeit: ein paar gedankenlose Leute sprachen tiber sein Fortbleiben doch am nachsten Tag erwahnte ihn niemand mehr. Drei Tage spater ging Winston in die Vorhalle seiner Abteilung, um auf dem Anschlagbrett etwas nachzusehen. Einer der Anschlage bestand aus einer gedruckten Liste des Schachkomitees, dem Syme angehort hatte. Sie sah fast genauso aus wie vorher - keine Zeile war durchgestrichen -, aber sie war um einen Namen kiirzer geworden. Das genugte. Syme hatte aufgehort zu existieren oder richtiger: Er hatte nie existiert. 168 Das Wetter war von einer Backofenhitze. Im Labyrinth des Ministeriums zwar behielten die fensterlosen Raume ihre automatisch geregelte Normaltemperatur bei, draufien aber versengte einem das Pflaster beinahe die Schuhsohlen, und wahrend der Hauptverkehrsstunden war in der Untergrundbahn die Stickluft grauenhaft. Die Vorbereitungen fur die Hass-Woche waren in vollem Gange, und die Belegschaften aller Ministerien machten Uberstunden. Umztige, Versammlungen, Paraden, Vortrage, Ausstellungen, Filmvorftihrungen, Fernsehprogramme - alles das mufite vorbereitet, Tribunen mufiten erbaut, Bilder zur offentlichen Verbrennung hergestellt, Parolen gepragt, Lieder verfasst, Geruchte in Umlauf gesetzt und Fotografien gefalscht werden. Julias Gruppe in der Literaturabteilung war von der Romanproduktion abgezogen worden und arbeitete mit Hochdruck an der Fertigstellung einer Serie von Flugschriften. Winston verwandte neben seiner sonstigen Arbeit taglich viele Stunden darauf, im Archiv aufbewahrte fruhere Nummern der Times nachzuprufen und Angaben darin abzuandern und zurechtzufrisieren, die in Reden zitiert werden sollten. Spat in der Nacht, wahrend Scharen larmender Proles die Strafien bevolkerten, hing eine merkwurdige fieberhafte Stimmung tiber der Stadt. Raketenbomben krachten offer als je zuvor, und manchmal erfolgten in weiter Feme riesige Explosionen, die sich niemand erklaren konnte und tiber die wilde Gertichte im Umlauf waren. Das neue Lied, das zum Hauptschlager der Hass-Woche bestimmt war (es hiefi schlechthin »Der Hassgesang«), war bereits fertig und wurde unablassig aus den Televisoren geschmettert. Es hatte einen wilden, klaffenden Rhythmus, der nicht eigentlich als Musik bezeichnet werden konnte, sondern nur wie Trommelschlage klang. Von Hunderten von Stimmen zum Gleichschritt marschierender Ftifie gebrtillt, klang es wahrhaft erschreckend. 169 Doch die Proles hatten Gefallen daran gefunden, und auf den mitternachtlichen Strafien machte es dem noch immer popularen »Man sagt, die Zeit heile alles« starke Konkurrenz. Die Parsonskinder bliesen es zu alien Tag- und Nachtzeiten bis zum Auswachsen auf einem Kamm und einem Blatt Toilettenpapier. Winstons Abende waren ausgefullter denn je. Von Parsons zusammengetrommelte Freiwilligentrupps schmuckten die Strafie fur die Hass-Woche, nahten Fahnen, malten Plakate, richteten Fahnenstangen auf den Dachern auf und spannten unter Lebensgefahr Seile fur Spruchbander und Wimpel tiber die Strafie. Parsons brustete sich, allein am Victory-Block wurden vierhundert Meter Fahnentuch flattern. Er war ganz in seinem Element und gliicklich wie ein Fisch im Wasser. Die Hitze und die korperliche Arbeit hatten ihm einen Vorwand geliefert, des Abends wieder zur Tracht der kurzen Hose und des offenen Hemdes zuruckzukehren. Er war uberall gleichzeitig, zog, schob, sagte, hammerte, legte mit Hand an und ermunterte jedermann mit kleinen Witzchen und kameradschaftlichen Ermahnungen, wahrend aus jeder Falte seines Korpers der scharfe Geruch eines scheinbar unerschopflichen Schweifivorrats stromte. Ein neues Plakat war plotzlich in London aufgetaucht. Es hatte keinen Begleittext, sondern stellte nur die drei oder vier Meter hohe, erschreckende Gestalt eines eurasischen Soldaten dar, der mit ausdruckslosem Mongolengesicht und riesigen Stiefeln, eine Maschinenpistole im Anschlag, auf den Beschauer zumarschierte. Die Mundung des perspektivisch verkurzten Laufes schien, aus welchem Gesichtswinkel man das Plakat auch betrachtete, immer geradewegs auf den Beschauer gerichtet. Das Plakat war an jeder freien Mauer angeklebt, so dafi es sogar die Bilder des Grofien Bruders an Zahl ubertraf. Die Proles, die gewohnlich der Politik gleichgultig gegenuberstanden, wurden dadurch in einen ihrer periodischen Ausbruche von Kriegseuphorie versetzt. Die Raketenbomben hatten, als wollten sie hinter der allgemeinen Stimmungsmache nicht zuruckstehen, 170 mehr Menschen als sonst getotet. Eine fiel auf ein vollbesetztes Kino im Stadtteil Stephney, wobei mehrere hundert Opfer unter den Trummern verbrannten. Die gesamte Bevolkerung der Umgegend nahm an der umstandlichen, grundlich organisierten Beisetzung teil, die Stunden dauerte und eine wahre Protestkundgebung war. Eine andere Bombe fiel auf ein unbebautes Terrain, das als Spielplatz diente, und rifi mehrere Dutzend Kinder in Stucke. Erneute Protestkundgebungen fanden statt, ein Bildnis Goldsteins wurde symbolisch verbrannt, viele hundert Plakate mit dem eurasischen Soldaten wurden spontan abgerissen und in die Flammen geworfen, und eine Anzahl Laden wurde in dem Tumult geplundert. Dann verbreitete sich ein Gerucht, dafi Spione die Salven der Raketenbomben mit Hilfe von Radiowellen lenkten, worauf das Haus eines alten Ehepaars, dem man politische Nonkonformitat nachsagte, in Brand gesteckt wurde und die beiden in den Flammen umkamen. Jetzt, seit Winston einen sicheren Unterschlupf, fast ein Zuhause hatte, schien es kaum noch eine so grofie Unbequemlichkeit, dafi sie sich nur selten und immer nur fur ein paar Stunden treffen konnten. Wichtig war allein, dafi es das Zimmer tiber dem Altwarenladen uberhaupt gab. Zu wissen, dafi es unversehrt auf sie wartete, war fast so gut, wie sich darin aufzuhalten. Das Zimmer war eine Welt fur sich, ein Schlupfwinkel der Vergangenheit, in dem sich langst ausgestorbene Tiere tummeln konnten. Mr. Charrington, dachte Winston, war auch so ein ausgestorbenes Tier. Bevor er ins obere Stockwerk hinaufging, blieb Winston gewohnlich stehen, um ein paar Minuten mit Mr. Charrington zu plaudern. Der alte Mann schien selten oder nie aus dem Haus zu gehen und andererseits so gut wie keine Kunden zu haben. Er fuhrte ein gespenstisches Leben zwischen dem winzigen, dunklen Laden und einer noch winzigeren, nach dem Hof hinaus gelegenen Kuche, wo er seine Mahlzeiten zubereitete und wo es unter anderem ein unglaublich altes Grammophon mit einem riesigen 171 Schalltrichter gab. Er schien sich tiber die Gelegenheit zu einer Unterhaltung zu freuen. Wenn er zwischen seinen wertlosen Trodlerwaren mit seiner langen Nase, der dicken Brille und den gebeugten Schultern in seiner Samtjacke umherging, sah er eher wie ein Sammler als wie ein Handler aus. Mit einer etwas matten Leidenschaft fingerte er an diesem oder jenem Stuck seines alten Krimskrams herum - einem Flaschenstopsel aus Porzellan, dem bemalten Deckel einer zerbrochenen Schnupftabaksdose, einem unechten Medallion mit der Haarlocke eines langst verstorbenen Kindes -, ohne Winston jemals zum Kauf, sondern nur zur Bewunderung aufzufordern. Wenn man mit ihm sprach, war es, als lausche man dem Zirpen einer ausgeleierten Spieldose. Er hatte aus den Winkeln seines Gedachtnisses noch ein paar Zeilen aus vergessenen Reimen hervorgeholt. »Mir kam nur eben der Gedanke, es konnte Sie vielleicht interessieren«, pflegte er mit einem um Verzeihung heischenden, kurzen Lachen zu sagen, wenn er eine neue Verszeile aufsagte. Aber er konnte sich nie an mehr als an ein Zeilenpaar mit einem Reim erinnern. Winston und Julia wufiten - und in gewisser Weise verliefi sie dieses Bewufitsein nie -, dafi ihr Treiben hier nicht lange dauern konnte. Es gab Zeiten, in denen die tiber ihnen hangende Todesdrohung so greifbar schien wie das Bett, auf dem sie lagen, dann klammerten sie sich mit einer verzweifelten Sinnlichkeit aneinander, wie eine verdammte Seele nach dem letzten Strohhalm der Lust greift, wenn in ftinf Minuten ihr letztes Sttindlein schlagt. Aber es gab auch Zeiten, in denen sie sich nicht nur in Sicherheit wiegten, sondern sich auch ganz der Illusion hingaben, dafi ihr Zustand von Dauer sei. Solange sie sich in diesem Zimmer aufhielten, konnte ihnen - so ftihlten beide - nichts Schlimmes widerfahren. Der Anmarschweg war zwar schwierig und gefahrlich, aber das Zimmer selbst war eine Freistatt. Es war ftir Winston, als ob er in das Innere seines Briefbeschwerers geblickt hatte, mit dem Geftihl, es sei moglich, in diese glaserne Welt 172 einzudringen und dann, wenn man erst einmal darin war, der Zeit Einhalt zu gebieten. Oft uberliefien sie sich Wunschtraumen von einer Flucht. Ihr Gluck wurde ewig wahren, und sie wurden ganz einfach fur den Rest des ihnen zugemessenen Lebens einander weiter lieben wie bisher. Oder Katherine wurde sterben und ihnen wurde durch vorsichtiges Manovrieren gelingen, sich zu heiraten. Oder sie wurden gemeinsam Selbstmord begehen; oder von der Bildflache verschwinden, ihr Aufieres bis zur Unkenntlichkeit verandern, im Dialekt der Proles sprechen lernen, in einer Fabrik arbeiten und ihr Leben unentdeckt in irgendeiner Hintergasse zu Ende leben. All das war, wie sie sehr wohl wufiten, barer Unsinn. In Wirklichkeit gab es kein Entrinnen. Sogar den einzig durchfuhrbaren Plan, namlich Selbstmord zu veruben, beabsichtigten sie nicht wirklich auszufuhren. Von Tag zu Tag und von Woche zu Woche weiterzumachen, eine Gegenwart zu geniefien, die keine Zukunft hatte, schien ein unuberwindlicher Instinkt zu fordern, genauso wie die Lungen eines Menschen immer weiter atmen, solange noch Luft da ist. Manchmal sprachen sie davon, sich offen gegen die Partei aufzulehnen, ohne jedoch eine Ahnung zu haben, wie der erste Schritt dabei aussehen sollte. Sogar wenn es die legendare »Briiderschaft« in Wirklichkeit gab, blieb doch die Schwierigkeit, den Weg zu ihr zu finden. Er erzahlte ihr von dem seltsamen Einverstandnis, das zwischen ihm und O'Brien herrschte oder vielmehr zu herrschen schien, und von dem Verlangen, das er manchmal verspurte, ganz einfach vor O'Brien hinzutreten, ihm zu gestehen, dafi er ein Feind der Partei sei, und ihn um seine Hilfe zu bitten. Merkwurdigerweise kam das Julia nicht als ein vorschneller Schritt vor. Sie pflegte die Menschen nach ihrem Gesicht zu beurteilen, und es schien ihr naturlich, dafi Winston auf Grund eines einzigen Blickwechsels O'Brien fur vertrauenswurdig hielt. Aufierdem nahm sie als sicher an, dafi jeder - oder doch fast jeder 173 - die Partei insgeheim hasste und gegen die Gesetze verstiefi, sobald er glaubte, das ungestraft tun zu konnen. Aber sie bezweifelte entschieden, dafi es eine weitverzweigte, organisierte Gegenbewegung gab oder geben konnte. Die Geschichten von Goldstein und seiner Untergrundbewegung, meinte sie, waren volliger Unsinn, den die Partei zu ihren Zwecken erfunden hatte und von dem man nur so tun mufite, als glaubte man ihn. Unzahlige Male hatte sie bei Parteiversammlungen und spontanen Kundgebungen mit vollem Stimmenaufwand die Hinrichtung von Menschen gefordert, deren Namen sie nie zu vor gehort hatte und an deren angebliche Verbrechen sie nicht im Entferntesten glaubte. Wenn Schauprozesse stattfanden, hatte sie ihren Platz unter der Abordnung der Jugendliga eingenommen, die von morgens bis abends vor dem Gerichtsgebaude Stellung bezog und in Abstanden in den Ruf ausbrach: »Tod den Verratern!« Wahrend der Zwei-Minuten-Hass-Sendung tat sie sich immer vor alien anderen darin hervor, Verwunschungen gegen Goldstein auszustofien. Trotzdem hatte sie nur ganz unklare Vorstellungen davon, wer Goldstein uberhaupt war und welche Doktrin er angeblich vertrat. Sie war nach der Revolution aufgewachsen und zu jung, um sich noch an die ideologischen Kampfe der funfziger und sechziger Jahre zu erinnern. So etwas wie eine unabhangige politische Bewegung ging tiber ihr Vorstellungsvermogen hinaus: Die Partei blieb ein fur allemal unbesiegbar. Sie wurde immer da sein, und alles wilrde immer so bleiben, wie es war. Man konnte sich nur durch geheimen Ungehorsam dagegen auflehnen oder hochstens durch einzelne Terrorakte - indem man jemand umbrachte oder etwas in die Luft sprengte. In mancher Beziehung sah sie viel klarer als Winston und war weit weniger fur Parteipropaganda empfanglich. Als er einmal zufallig in irgendeinem Zusammenhang die Rede auf den Krieg gegen Eurasien brachte, verbluffte sie ihn, indem sie ganz 174 beilaufig sagte, ihrer Meinung nach gebe es diesen Krieg uberhaupt nicht. Die taglich in London einschlagenden Raketenbomben wurden vermutlich von der Regierung Ozeaniens selbst abgefeuert, »nur um die Leute in Furcht und Schrecken zu halten«. Das war ein Gedanke, der ihm buchstablich noch nie in den Sinn gekommen war. Sie weckte auch so etwas wie Neid in ihm durch ihre Bemerkung, sie habe alle Muhe, wahrend der Zwei-Minuten- Hass-Sendung nicht lachend herauszuplatzen. Sie stellte aber die Parteidoktrin nur in Frage, wenn sie irgendwie ihr eigenes Leben beruhrte. Oft nahm sie die amtliche Phantasiedarstellung einfach deshalb bereitwillig hin, weil ihr der Unterschied zwischen Wahrheit und Luge ganz unwichtig schien. Sie glaubte zum Beispiel, wie man es ihr in der Schule beigebracht hatte, dafi die Partei das Flugzeug erfunden habe. (Wahrend seiner eigenen Schulzeit Ende der funfziger Jahre, erinnerte sich Winston, hatte die Partei nur Anspruch auf die Erfindung des Helikopters erhoben; eine Generation spater wurde sie auch noch die Dampfmaschine als ihre Erfindung beanspruchen.) Und als er ihr erzahlte, es habe schon vor seiner Geburt und lange vor der Revolution Flugzeuge gegeben, war ihr diese Tatsache vollig uninteressant. Was lag im Grunde schon daran, wer das Flugzeug erfunden hatte? Fast noch grofier war die Enttauschung fur ihn, als er auf Grund einer zufalligen Bemerkung feststellte, dafi sie sich nicht erinnerte, dafi Ozeanien vor vier Jahren Krieg mit Ostasien und Frieden mit Eurasien gehabt hatte. Sie betrachtete zwar den ganzen Krieg als fingiert, hatte aber offenbar uberhaupt nicht bemerkt, dafi der Name des Feindes sich geandert hatte. »Ich dachte, wir hatten immer mit Eurasien Krieg gehabt«, sagte sie leichthin. Es erschreckte ihn ein wenig. Die Erfindung des Flugzeugs datierte lange vor ihrer Geburt, aber die Verlagerung des Krieges hatte erst vor vier Jahren stattgefunden, geraume Zeit nachdem 175 sie erwachsen war. Er rechnete ihr das etwa eine Viertelstunde lang vor. Zum Schlufi gelang es ihm, ihr Erinnerungsvermogen soweit zu wecken, bis sie sich undeutlich entsann, dafi einmal Ostasien und nicht Eurasien der Feind gewesen war. Aber diese Feststellung kam ihr noch immer unwichtig vor. »Was liegt schon daran?« sagte sie ungeduldig. »Immer ist es ein bloder Krieg nach dem anderen, und man weifi, dafi die Berichte sowieso alle erlogen sind.« Manchmal sprach er mit ihr tiber die Registraturabteilung und die schamlosen Falschungen, die er dort beging. Solche Dinge schienen sie nicht zu entsetzen. Sie ftihlte bei der Vorstellung, wie Lugen zu Wahrheit wurden, nicht den Abgrund, der sich damit vor ihren Fufien auftat. Er erzahlte ihr die Geschichte von Jones, Aaronson und Rutherford und dem bedeutungsvollen Zeitungsausschnitt, den er in Handen gehalten hatte. Sie machte keinen grofien Eindruck auf sie. Zuerst entging ihr sogar der springende Punkt der ganzen Geschichte. »Waren es Freunde von dir?« fragte sie. »Nein, ich habe sie nie gekannt. Sie waren Mitglieder der Inneren Partei. Ubrigens viel altere Manner als ich. Sie gehorten noch der alten Zeit an, der Zeit vor der Revolution. Ich kannte sie kaum vom Sehen.« »Warum machst du dir dann Gedanken daruber? Die ganze Zeit werden doch Menschen umgebracht, oder nicht?« Er versuchte, es ihr begreiflich zu machen. »Hier handelt es sich um einen besonderen Fall. Es handelt sich nicht nur darum, dafi irgendeiner umgebracht wurde. Bist du dir bewufit, dafi die Vergangenheit, vom gestrigen Tage angefangen, tatsachlich ausgeloscht ist? Wenn sie noch irgendwo fortbesteht, so nur in ein paar leblosen Gegenstanden, die den Mund nicht auftun konnen, wie dieses Stuck Glas dort. Buchstablich wissen wir bereits so gut wie nichts von der Revolution und den Jahren vor der Revolution. Jede Aufzeichnung wurde vernichtet oder verfalscht, jedes Buch uberholt, jedes Bild ubermalt, jedes Denkmal, jede Strafie und 176 jedes Gebaude umbenannt, jedes Datum geandert. Und dieses Verfahren geht von Tag zu Tag und von Minute zu Minute weiter. Die geschichtliche Entwicklung hat aufgehort. Es gibt nur noch eine unabsehbare Gegenwart, in der die Partei immer Recht behalt. Freilich weifi ich, dafi die Vergangenheit gefalscht ist, aber ich konnte es niemals beweisen, sogar in den Fallen, wo ich die Falschung selbst vorgenommen habe. Nachdem die Sache einmal getan ist, bleibt nie ein Beweisstuck zuruck. Der einzige Beweis lebt in meinem Geist, und ich habe nicht die geringste Gewifiheit, dafi auch nur ein einziger Mensch auf der Welt die gleiche Erinnerung hat. Nur in diesem einen Fall habe ich einen wirklichen handgreiflichen Beweis nach dem Geschehnis besessen, und zwar zwei Jahre danach.« »Und wozu war das gut?« »Zu nichts, denn ich warf ihn ein paar Minuten spater fort. Passierte es mir heut, wurde ich ihn aufbewahren.« »Ich nicht«, meinte Julia. »Ich bin zwar durchaus bereit, ein Risiko einzugehen, aber nur wenn es sich lohnt, nicht fur einen Ausschnitt aus einer alten Zeitung. Was hattest du schon damit anfangen konnen, selbst wenn du es behalten hattest?« »Vielleicht nicht viel. Aber es war ein Beweisstuck. Es hatte vielleicht da und dort einige Zweifel geweckt, falls ich gewagt hatte, es jemandem zu zeigen. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, dafi wir zu unseren Lebzeiten etwas andern konnen, so kann man sich doch denken, dafi da und dort kleine Widerstandsgruppen entstehen - kleine Gruppen von ein paar Menschen, die sich zusammenschliefien und die dann langsam grofier werden und sogar ein paar Aufzeichnungen hinterlassen, so dafi die nachste Generation da weitermachen kann, wo wir aufgehort haben.« »Die nachste Generation geht mich nichts an, mein Lieber. Mich interessieren nur wir.« »Du bist eine Revolutionarin von der Taille abwarts«, sagte Winston. 177 Sie fand das ungemein witzig und warf ihm entzuckt die Arme um den Nacken. Die Spitzfindigkeiten der Parteidoktrin interessierten sie nicht im Geringsten. Wenn er von den Grundgesetzen des Engsoz, dem Doppeldenk, der Wandelbarkeit der Vergangenheit, der Leugnung einer objektiven Wirklichkeit sprach und Neusprechworte zu verwenden begann, wurde sie gelangweilt und verwirrt und sagte, sie kummere sich nie um solche Dinge. Man wisse doch, dafi das alles Unsinn sei, warum sich also den Kopf damit beschweren? Sie wufite, warm man »Hurra« und wann man »Nieder« schreien mufite, und das sei alles, was man brauche. Wenn er darauf bestand, weiter uber diese Themen zu sprechen, hatte sie die aufreizende Gewohnheit, jedesmal einzuschlafen. Sie gehorte zu den Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit und in jeder Lage schlafen konnen. Wahrend er so mit ihr sprach, wurde er sich bewufit, wie leicht es war, sich den Anschein der Strengglaubigkeit zu geben und dabei nicht die leiseste Ahnung zu haben, was Strengglaubigkeit uberhaupt bedeutete. In gewisser Weise liefien sich diejenigen am leichtesten von der Parteidoktrin uberzeugen, die ganz aufierstande waren, sie zu verstehen. Diese Menschen konnte man leicht dazu bringen, die offenkundigsten Vergewaltigungen der Wirklichkeit hinzunehmen, da sie nie ganz die Ungeheuerlichkeit des von ihnen Geforderten begriffen und uberhaupt nicht genugend an politischen Fragen interessiert waren, um zu merken, was gespielt wurde. Dank ihrer Unfahigkeit, zu begreifen, blieben sie ganz unbeschadet. Sie schluckten einfach alles, und das Geschluckte schadete ihnen nichts weiter und liefi nichts zuruck, genau wie ein Getreidekorn unverdaut durch den Magen eines Vogels hindurchgeht. 178 Sechstes Kapitel Endlich war es soweit. Die erwartete Botschaft war gekommen. Sein ganzes Leben lang, schien es ihm, hatte er darauf gewartet. Er ging den langen Gang im Ministerium hinunter und war beinahe gerade an der Stelle angekommen, an der Julia ihm den Zettel in die Hand gedruckt hatte, als er merkte, dafi jemand von grofierer Statur unmittelbar hinter ihm herging. Der Betreffende, wer immer es sein mochte, liefi ein leises Hiisteln horen, offenbar als Einleitung zu einem Gesprach. Winston blieb unvermittelt stehen. Es war O'Brien. Endlich standen sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenuber, und sein erster Impuls war davonzulaufen. Sein Herz klopfte heftig. Er hatte kein Wort hervorbringen konnen. O'Brien jedoch war ruhig weitergegangen, er legte einen Augenblick freundlich die Hand auf Winstons Arm, so dafi sie jetzt nebeneinander hergingen. Er begann mit der eigentumlich ernsten Liebenswurdigkeit zu sprechen, die ihn von der Mehrzahl der Inneren Parteimitglieder unterschied. »Ich hatte schon immer auf eine Moglichkeit gehofft, mit Ihnen zu sprechen«, sagte er. »Ich las kiirzlich einen Ihrer Neusprechartikel in der Times. Sie haben ein lebhaftes wissenschaftliches Interesse fur Neusprech, wie ich wohl annehmen darf?« Winston hatte sich wieder einigermafien in der Gewalt. »Nicht so sehr ein wissenschaftliches«, sagte er. »Ich bin nur ein Amateur. Es ist nicht mein Fach. Ich hatte nie etwas mit der eigentlichen Gestaltung der Sprache zu tun.« »Aber Sie schreiben sehr gewahlt«, sagte O'Brien. »Das ist nicht nur meine Meinung. Ich sprach unlangst mit einem Ihrer Freunde daruber, der zweifellos ein Fachmann ist. Sein Name ist mir im Augenblick entf alien. « 179 Wieder gab es Winston einen schmerzlichen Stich im Herzen. Unmoglich konnte es sich hier um etwas anderes handeln als um eine Anspielung auf Syme. Aber Syme war nicht nur tot, er war vollkommen beseitigt worden, eine Unperson. Jede deutliche Anspielung auf ihn ware lebensgefahrlich gewesen. O'Briens Bemerkung mufite offensichtlich als Zeichen, als ein Stichwort gemeint gewesen sein. Indem sie so gemeinsam ein kleines Gedankenverbrechen begingen, hatte er sie beide zu Komplizen gemacht. Sie waren langsam weiter den Gang hinuntergeschlendert, jetzt aber blieb O'Brien stehen. Mit der merkwurdigen, entwaffnenden Freundlichkeit ruckte er seine Brille zurecht. Dann fuhr er fort: »Was ich eigentlich sagen wollte, war, dafi ich in Ihrem Artikel auf zwei Worte gestofien bin, die aufier Kurs gesetzt worden sind, doch erst seit ganz kurzer Zeit. Haben Sie die zehnte Ausgabe des Neusprech- Worterbuches gesehen?« »Nein«, antwortete Winston. »Ich dachte, sie ist noch nicht erschienen. Wir in der Registratur benutzen noch immer die neunte.« »Die zehnte Ausgabe soil meines Wissens auch erst in einigen Monaten erscheinen. Aber ein paar Exemplare wurden bereits verteilt. Ich besitze selbst eines. Es interessiert Sie vielleicht, es einmal anzusehen?« »Sehr sogar«, sagte Winston und erkannte sofort, worauf das hinauswollte. »Manche Neuerungen sind hochst genial. Zum Beispiel die Verminderung der Zeitworter - das wird Ihnen, glaube ich, besonders gefallen. Passen Sie auf, soil ich einen Boten mit dem Worterbuch zu Ihnen schicken? Aber ich furchte, ich vergesse das wieder. Vielleicht konnten Sie es zu einer Ihnen passenden Zeit in meiner Wohnung abholen? Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Adresse.« Sie standen vor einem Televisor. Etwas zerstreut tastete O'Brien zwei seiner Taschen ab und zog dann ein kleines ledergebundenes Notizbuch und einen goldenen Tintenstift 180 hervor. Unmittelbar unter dem Televisor, so dafi jeder Beobachter am anderen Ende des Apparates sehen konnte, was er schrieb, kritzelte er eine Adresse, rifi das Blatt heraus und uberreichte es Winston. »Ich bin an den Abenden gewohnlich zu Hause«, sagte er. »Wenn nicht, gibt Ihnen mein Diener das Worterbuch.« Er war gegangen, wahrend Winston stehen blieb, das Blatt Papier in den Handen, das diesmal nicht versteckt zu werden brauchte. Trotzdem pragte er sich sorgfaltig das darauf Geschriebene ein und warf es ein paar Stunden spater mit lauter anderen Papieren in das Gedachtnis-Loch. Sie hatten sich allerhochstens zwei Minuten miteinander unterhalten. Es gab nur eine Interpretation fur diese Begegnung. Sie war in die Wege geleitet worden, um Winston die Adresse O'Briens wissen zu lassen. Das war notwendig, denn nur durch direktes Befragen konnte man herausfinden, wo jemand wohnte. Es gab keine Adressbucher irgendwelcher Art. »Sollten Sie mich einmal sprechen wollen, so bin ich dort zu finden«, hatte O'Brien zu ihm gesagt. Vielleicht war sogar irgendwo in dem Worterbuch eine Mitteilung versteckt. Aber eines war jedenfalls gewifi. Es gab die Verschworung, von der er getraumt hatte, und er war mit ihren Auslaufern in Beruhrung gekommen. Er wufite, dafi er fruher oder spater O'Briens Aufforderung nachkommen wurde. Jedenfalls hatte eine vor Jahren begonnene Entwicklung nunmehr Gestalt angenommen. Der erste Schritt war ein geheimer, ungewollter Gedanke gewesen, der zweite der Beginn des Tagebuchs. Er war von Gedanken zu Worten geschritten, und jetzt von Worten zu Taten. Die letzte Episode wurde sich im Liebesministerium abspielen. Er hatte sich damit abgefunden. Das Ende lag schon im Anfang beschlossen. Aber es war etwas Erschreckendes, oder, genauer gesagt, es war wie ein Vorgeschmack des Todes - so als ware man schon etwas weniger lebendig. Sogar wahrend er mit O'Brien sprach, hatte seinen Korper ein eisiger Schauer iiberrieselt, als ihm die Bedeutung der 181 Worte zum Bewusstsein gekommen war. Er hatte das Gefuhl, in ein dumpfes Grab hinabzusteigen; und es wurde ihm dadurch nicht viel leichter gemacht, dafi er schon immer gewufit hatte, das Grab sei da und warte auf ihn. Siebentes Kapitel Winston war mit tranennassen Augen aufgewacht. Julia schmiegte sich schlaftrunken an ihn und murmelte etwas wie: »Was ist los?« »Ich habe getraumt...«, begann er und stockte. Es war zu verworren, um es in Worte zu kleiden. Da war einerseits der eigentliche Traum, damit aber war eine Erinnerung verknupft, die ihm in den paar Sekunden nach dem Erwachen nicht aus dem Kopf gehen wollte. Er legte sich mit geschlossenen Augen zuruck, noch immer in der Atmosphare des Traumes befangen. Es war ein weitlaufiger, leuchtender Traum, in dem sein ganzes Leben vor ihm ausgebreitet zu sein schien, wie eine Landschaft an einem Sommerabend nach dem Regen. Alles hatte sich im Innern des glasernen Briefbeschwerers abgespielt, aber die Oberflache des Glases war die Himmelskuppel, und innerhalb der Kuppel war alles von klarem sanften Licht durchflutet, in dem man in endlose Fernen blicken konnte. Im Traum war auch die Armbewegung vorgekommen - ja, sie spielte in gewissem Sinne die Hauptrolle darin - , die seine Mutter und dreifiig Jahre spater die Frau in der Wochenschau gemacht hatte, die Armbewegung, mit der sie den kleinen Jungen vor den Kugeln zu schutzen versuchte, ehe die Helikopter sie beide in Fetzen schossen. 182 »Weifit du«, sagte er, »dafi ich bis zu diesem Augenblick geglaubt habe, meine Mutter ermordet zu haben?« »Warum hast du sie ermordet?« sagte Julia, noch aus dem Schlaf heraus. »Ich habe sie nicht ermordet. Nicht wirklich.« In dem Traum hatte er sich an das fluchtige Bild seiner Mutter erinnert, wie er sie zuletzt gesehen hatte, und wahrend der paar Augenblicke des Erwachens waren ihm alle die kleinen damit zusammenhangenden Begleitumstande wieder eingefallen. Es war eine Erinnerung, die er viele Jahre sorgfaltig aus seinem Bewufitsein verbannt haben mufite. Er konnte das Datum nicht genau bestimmen, aber er mufite damals schon zehn, zwolf Jahre alt gewesen sein. Sein Vater war zu einem fruheren Zeitpunkt verschwunden; wie viel fruher, konnte er sich nicht mehr erinnern. Deutlicher entsann er sich der ungeordneten, unsicheren Lebensumstande der damaligen Zeit: der immer wiederkehrenden Paniken bei Luftangriffen und der Flucht in die Untergrundbahnhofe, der uberall herumliegenden Schutt- und Trummerhaufen, der an den Strafienecken angeschlagenen unverstandlichen Proklamationen, der Umziige von Jugendlichen, die alle mit gleichfarbigen Hemden bekleidet waren, der riesigen Menschenschlangen vor den Backerladen, des abgehackten Knatterns der Maschinengewehre in der Feme - vor allem aber der Tatsache, dafi es niemals genug zu essen gab. Er entsann sich der langen Nachmittage, die er mit anderen Jungen damit verbracht hatte, die Mulltonnen und Abfallhalden zu durchsuchen, um Kohlstrunke, Kartoffelschalen und manchmal sogar vertrocknete Brotkrusten herauszuklauben, von denen sie sorgfaltig die Kohlenasche abschabten. Und auch, wie sie auf das Vorbeikommen von Lastautos gewartet hatten, die gewisse Fernfahrten machten und von denen man wufite, dafi sie Viehfutter geladen hatten; manchmal fielen, wenn sie an schlechten Stellen tiber die Strafienlocher holperten, ein paar Olkuchenbrocken herunter. 183 Als sein Vater verschwand, war seiner Mutter weder Erstaunen noch Kummer anzumerken, es ging lediglich eine plotzliche Verwandlung mit ihr vor. Sie schien vollig erloschen. Sogar fur Winston war es offensichtlich, dafi sie auf ein Ereignis gefafit war, das nach ihrer Meinung unausweichlich kommen mufite. Sie tat alles Notwendige - kochte, wusch, nahte, machte die Betten, fegte den Fufiboden, staubte den Kaminsims ab - immer sehr langsam und unter Vermeidung jeder uberflussigen Bewegung, wie eine zum Leben erwachte Gliederpuppe. Ihr grofier wohlgestalteter Korper schien ganz naturlich in Ruhestellung zu fallen. Stundenlang safi sie beinahe regungslos auf dem Bett und streichelte seine kleine Schwester, ein winziges, krankliches, sehr stilles Kind von zwei oder drei Jahren, mit einem vor Magerkeit affenahnlichen Gesicht. Nur manchmal schlofi sie Winston in ihre Arme und prefite ihn lange Zeit wortlos an sich. Er merkte trotz seiner Jugend und seiner Selbstsucht, dafi dies etwas mit dem nie ausgesprochenen Ereignis zu tun hatte, das friiher oder spater eintreten mufite. Er erinnerte sich an das Zimmer, in dem sie wohnten, einen dunklen, dumpfigen Raum, der zur Halfte von einem Bett mit einer hellen Steppdecke ausgefullt schien. In der Wandnische waren ein Gaskocher und daruber ein Brett, auf dem Nahrungsmittel lagen, und draufien auf dem Flur gab es ein Ausgussbecken aus braunem Steingut, das mehrere Mieter gemeinsam benutzten. Er sah noch den statuenhaften Korper seiner Mutter vor sich, wie er sich tiber den Kocher beugte, um etwas in einem Kochtopf umzuruhren. Vor allem erinnerte er sich an seinen standigen Hunger und die erbitterten selbstsuchtigen Kampfe bei den Mahlzeiten. Er pflegte seine Mutter immer wieder vorwurfsvoll zu fragen, warum es denn nicht mehr zu essen gab, er schrie sie an (er erinnerte sich sogar noch an den Klang seiner Stimme, die vorzeitig zu mutieren begann und sich manchmal merkwurdig uberschlug) oder versuchte es mit einem weinerlichen Tonfall, um mehr als den ihm zustehenden Anteil zu erhalten. Seine 184 Mutter war gerne bereit, ihm mehr als seinen Anteil zu geben. Sie fand es selbstverstandlich, dafi »der Junge« die grofite Portion bekommen sollte; aber soviel sie ihm auch gab, er verlangte unabanderlich nach mehr. Bei jeder Mahlzeit flehte sie ihn an, nicht egoistisch zu sein und daran zu denken, dafi sein Schwesterchen krank sei und auch etwas zu essen brauche, aber es half nichts. Er schrie zornig, wenn sie ihm nichts mehr austeilte, er versuchte, ihr die Schussel und den Loffel aus der Hand zu reifien, er holte sich einzelne Bissen vom Teller seiner Schwester. Er wufite, dafi er die beiden anderen damit zum Verhungern verurteilte, aber es war nichts dagegen zu machen; er hatte sogar das Gefuhl, er habe ein Recht dazu. Der nagende Hunger in seiner Magengrube schien ihm eine hinreichende Rechtfertigung. Und wenn seine Mutter nicht aufpafite, stahl er zwischen den Mahlzeiten von den armseligen Lebensmittelvorraten auf dem Wandbrett. Eines Tages wurde eine Schokoladeration verteilt. Seit Wochen oder Monaten hatte es keine Zuteilung mehr gegeben. Sie erhielten zu dritt ein Tafelchen im Gewicht von zwei Unzen (damals rechnete man noch nach Unzen), das offensichtlich in drei gleiche Teile geteilt werden sollte. Plotzlich horte sich Winston, als vernehme er die Stimme eines fremden Menschen, mit schallender Stimme fordern, man solle ihm das ganze Stuck geben. Seine Mutter ermahnte ihn, nicht so habgierig zu sein. Ein langes, nicht enden wollendes Hin und Her mit Geschrei, Gejammer, Tranen, Vorwurfen und Feilschen war die Folge. Seine winzige Schwester, die sich genau wie ein kleines Affchen mit beiden Armchen an seine Mutter klammerte, safi dabei und sah ihn tiber deren Schulter hinweg mit grofien traurigen Augen an. Schliefilich brach seine Mutter drei Viertel von der Schokolade ab, gab sie Winston und das letzte Viertel seiner Schwester. Das Kind nahm es und sah es mit mudern Blick an; vielleicht wufite es gar nicht, was es war. Winston stand dabei und beobachtete es einen Augenblick. Dann rifi er mit einem plotzlichen raschen 185 Sprung seiner Schwester die Schokolade aus der Hand und suchte die Tur zu erreichen. »Winston! Winston!« rief ihm seine Mutter nach. »Komm her! Gib deiner Schwester die Schokolade zuruck!« Er blieb stehen, kam aber nicht zuruck. Die angstlichen Augen der Mutter waren auf sein Gesicht gerichtet. Sogar in diesem Moment noch dachte sie an das bewufite Ereignis, das bald eintreten mufite und das ihm ratselhaft war. Da seine Schwester gemerkt hatte, dafi man ihr etwas weggenommen hatte, war sie in ein schwaches Wehklagen ausgebrochen. Seine Mutter legte den Arm um das Kind und prefite sein Gesicht an ihre Brust. Etwas an dieser Gebarde sagte ihm, dafi seine Schwester bald sterben musse. Er machte kehrt und rannte die Treppe hinunter, in der Hand die sich auflosende +49323 54646799 Schokolade. Er sollte seine Mutter nie wiedersehen. Nachdem er die Schokolade verschlungen hatte, schamte er sich ein wenig vor sich selber und trieb sich mehrere Stunden auf der Strafie herum, bis ihn der Hunger heimtrieb. Als er nach Hause kam, war seine Mutter verschwunden. Das war zu jener Zeit bereits Normalzustand geworden. Aufier seiner Mutter und Schwester fehlte nichts im Zimmer. Sie hatten keine Kleider mitgenommen, nicht einmal den Mantel seiner Mutter. Bis zum heutigen Tag hatte er keine Gewifiheit, ob seine Mutter tot war. Es war durchaus moglich, dafi sie nur in ein Zwangsarbeitslager verschickt worden war. Was seine Schwester anbetraf, so konnte sie, wie Winston selbst, in ein Heim fur elternlose Kinder (Auff anglager zur Ertuchtigung wurden sie genannt) gesteckt worden sein, die als eine Folge des Burgerkriegs entstanden waren; vielleicht war sie auch zusammen mit der Mutter in ein Arbeitslager verschickt oder einfach irgendwo sich selbst und dem Tod uberlassen worden. Sein Traum stand noch ganz frisch in seinem Gedachtnis, vor allem die einhullende, schutzende Armbewegung, in der die tiefere Bedeutung enthalten zu sein schien. Es fiel ihm ein anderer Traum ein, den er vor zwei Monaten gehabt hatte. Darin 186 hatte seine Mutter genau wie hier mit dem fest an sie geklammerten Kind auf dem armseligen Bett mit der weifien Decke, tief unter ihm, und mit jedem Augenblick noch tiefer versinkend, in einem untergehenden Schiff gesessen und ihn unverwandt durch das immer dunkler werdende Wasser angeblickt. Er erzahlte Julia die Geschichte von dem Verschwinden seiner Mutter. Ohne die Augen aufzumachen, walzte sie sich in eine bequemere Lage. »Vermutlich warst du damals ein widerliches kleines Miststuck«, sagte sie ausdruckslos. »Alle Kinder sind Miststucke.« »Ja, aber der springende Punkt an der Geschichte... « An ihren Atemzugen war zu merken, dafi sie wieder im Begriff war einzuschlafen. Er hatte gerne weiter von seiner Mutter gesprochen. Nach allem, was er von ihr behalten konnte, nahm er nicht an, dafi sie eine ungewohnliche, geschweige denn eine besonders intelligente Frau gewesen war. Und doch war an ihr etwas Edles, eine Art von Lauterkeit, ganz einfach, weil sie sich selber treu geblieben war. Ihre Gefuhle kamen tief aus ihrem Inneren und konnten nicht von aufien her verandert werden. Es ware ihr nie in den Sinn gekommen, eine Handlung fur bedeutungslos zu halten, weil sie keinen praktischen Zweck hatte. Wenn man jemanden liebte, so liebte man ihn, und wenn man ihm schon nichts anderes zu geben hatte, so schenkte man ihm seine Liebe. Als das letzte Stuckchen Schokolade fort war, hatte seine Mutter das Kind in ihre Arme geschlossen. Das hatte keinen Zweck, anderte nichts, schaffte nicht mehr Schokolade herbei, konnte weder den Tod des Kindes noch ihren eigenen verhindern. Aber ihr schien es das Naturliche, so zu handeln. Die Fluchtlingsfrau in dem Boot hatte auch den kleinen Jungen mit ihren Armen gegen den Kugelregen abgeschirmt, was nicht mehr ausrichten konnte als ein Blatt Papier. Die Partei aber suchte einem mit teuflischer Gewalt einzureden, blofie Regungen des Gefuhls seien ohne Bedeutung, wahrend sie 187 einen gleichzeitig aller, materiellen Freuden des Lebens beraubte. War man erst einmal in ihren Klauen, so bestand buchstablich kein Unterschied mehr, ob man etwas fiihlte oder nicht fuhlte, was man tat oder was man unterliefi. Was auch geschehen war, eines Tages verschwand man von der Bildflache, und weder von dem einzelnen Menschen noch von dem, was er getan, war jemals wieder etwas zu horen. Man wurde einfach aus der Geschichte gestrichen. Zwei Generationen fruher ware das dem Menschen nicht so ungeheuer wichtig vorgekommen, denn damals versuchten sie nicht, die Geschichte zu andern. Sie liefien sich durch selbstauferlegte Sittengesetze lenken, die von ihnen nicht in Frage gestellt wurden. Wichtig waren nur menschliche Beziehungen: eine vollkommen zweckfreie Tat, eine Umarmung, eine Trane, ein zu einem Sterbenden gesprochenes Trostwort konnten an sich wertvoll sein. Die Proles, kam ihm plotzlich zum Bewufitsein, hatten sich diesen Zustand bewahrt. Sie waren nicht einer Partei oder einem Land oder einer Idee ergeben, sondern sich selber treu. Zum erstenmal in seinem Leben verachtete er die Proles nicht, dachte an sie nicht lediglich als an eine dumpfe Kraft, die eines Tages erwachen und die Welt erneuern wurde. Die Proles waren menschlich geblieben. Sie waren nicht innerlich verhartet. Sie hatten sich die primitiven Gefuhle erhalten, die er mit bewufitem Bemuhen wiedererlernen mufite. Und bei diesen Uberlegungen fiel ihm ohne erkennbaren Zusammenhang ein, wie er vor ein paar Wochen eine abgerissene Hand auf dem Pflaster liegen gesehen und sie mit einem Fufitritt in den Rinnstein geschleudert hatte, als ware sie ein Kohlstrunk gewesen. »Die Proles sind Menschen«, sagte er laut. »Wir sind keine Menschen.« »Warum nicht?« fragte Julia, die wieder aufgewacht war. Er dachte eine Weile nach. »Ist dir je bewufit geworden«, sagte er, »dafi es fur uns das Beste ware, einfach von hier wegzugehen, bevor es zu spat ist, und wir einander nie mehr wiederzusehen?« 188 »Ja, Lieber, ich habe manchmal daran gedacht. Aber trotzdem tue ich es nicht.« »Wir hatten bis jetzt Gliick, aber es kann nicht mehr lange so weitergehen. Du bist Jung. Du siehst vorschriftsmafiig und harmlos aus. Wenn du Menschen wie mir aus dem Wege gehst, bleibst du vielleicht noch funfzig Jahre am Leben.« »Nein. Ich habe mir alles uberlegt. Was du tust, das tue ich auch. Und sieh bitte nicht zu schwarz. Ich bin recht geschickt darin, am Leben zu bleiben.« »Wir konnen vielleicht noch weitere sechs Monate - vielleicht noch ein Jahr - beisammen bleiben, man kann es nicht wissen. Zum Schlufi werden wir mit Gewissheit getrennt. Bist du dir bewufit, wie schrecklich allein wir sein werden? Wenn sie uns erst einmal in den Klauen haben, gibt es nichts, buchstablich nichts, was wir fureinander tun konnten. Wenn ich ein Gestandnis ablege, erschiefien sie dich, und wenn ich mich zu gestehen weigere, erschiefien sie dich genauso. Nichts, was ich mir zu tun oder zu sagen oder zu verschweigen vornehmen kann, kann deinen Tod auch nur um ftinf Minuten hinausschieben. Wir werden nicht einmal voneinander wissen, ob wir noch leben oder schon tot sind. Wir werden vollkommen machtlos sein. Wenn auch selbst das nicht den geringsten Unterschied ausmacht, so kommt es doch einzig und allein darauf an, dafi wir einander nicht verraten.« »Wenn du damit das Gestandnis meinst«, sagte sie, »so werden wir es nur allzu bald ablegen. Alle gestehen sie. Man kann nichts dagegen machen. Sie foltern einen.« »Ich meine nicht: gestehen. Ein Gestandnis ist kein Verrat. Was man sagt oder tut, ist nicht wichtig: es kommt darauf an, was man fuhlt. Wenn sie mich soweit brachten, dich nicht mehr zu lieben - das ware wirklicher Verrat.« Sie uberlegte. »Das bringen sie nicht fertig«, sagte sie schliefilich. »Das ist das einzige, was sie nicht konnen. Sie konnen dich zwingen, alles zu sagen - alles -, aber sie konnen dich nicht 189 zwingen, es zu glauben. Sie haben keine Macht tiber dein Inneres.« »Nein«, gab er ein wenig hoffnungsvoller zu, »nein, das ist wirklich wahr. Sie haben keine Macht tiber dein Inneres. Wenn du ftihlen kannst, dafi es sich lohnt, ein Mensch zu bleiben, sogar wenn damit praktisch nichts erreicht wird, hast du ihnen doch ein Schnippchen geschlagen.« Er dachte an den Televisor mit seinem nimmer ruhenden Ohr. Sie konnten einen Tag und Nacht bespitzeln, aber wenn man auf seiner Hut war, konnte man sie tiberlisten. Bei all ihrer Schlauheit hatten sie doch nicht das Geheimnis gelost, die Gedanken eines anderen aufzusptiren. Vielleicht war es anders, wenn man ihnen tatsachlich in die Hande gefallen war. Man wufite nicht, was innerhalb des Liebesministeriums vor sich ging, aber man konnte es erraten: Folterungen, Drohungen, hochempfindliche Apparate, um die Reaktion der Nerven zu registrieren, langsames Mtirbemachen durch Schlafentzug, Einzelhaft und Dauerverhore. Tatsachen jedenfalls konnte man nicht geheim halten. Sie konnten durch Nachforschungen festgestellt, konnten durch Foltern aus einem herausgeprefit werden. Wenn es aber darum ging, nicht etwa am lieben, sondern ein Mensch zu bleiben, welchen Unterschied machte das dann letzten Endes aus? Sie konnten die Geftihle eines Menschen nicht andern; ja, man konnte sie nicht einmal selbst andern, sogar wenn man es wollte. Sie konnten bis zur letzten Einzelheit alles aufdecken, was man getan, gesagt oder gedacht hatte. Aber die innerste Kammer des Herzens, deren Regungen sogar ftir einen selbst ein Geheimnis waren, blieb unbezwinglich. 190 Achtes Kapitel Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan! Das Zimmer, in dem sie standen, war langlich und sanft beleuchtet. Der Televisor war zu einem leisen Gemurmel gedampft; die Uppigkeit des dunkelblauen Teppichs erweckte in einem den Eindruck, als trete man auf Samt. Am anderen Ende des Raumes safi O'Brien an einem Tisch unter einer grtin abgeschirmten Lampe, mit einer Menge Papiere zu beiden Seiten vor sich. Er hatte nicht einmal aufgeblickt, als der Diener Julia und Winston hereinfuhrte. Winstons Herz klopfte so heftig, dafi er zweifelte, ob er wurde sprechen konnen. Sie hatten es getan, sie hatten es endlich getan - war alles, was er denken konnte. Es war ein waghalsiges Unternehmen gewesen, auch nur herzukommen, und reiner Wahnsinn, gemeinsam zu kommen, wenn sie auch getrennte Wege eingeschlagen und sich erst vor O'Briens Haustur getr often hatten. Aber allein schon an einen solchen Ort zu gehen, erforderte den Mut der Verzweiflung. Nur bei hochst seltenen Gelegenheiten konnte man einen Blick in die Wohnungen der Inneren-Partei-Mitglieder werfen oder auch nur einen Fufi in das Stadtviertel setzen, in dem sie wohnten. Die ganze Atmosphare des riesigen Wohnblocks, die Pracht und die Ausmafie von allem, die ungewohnten Geruche nach gutem Essen und gutem Tabak, die gerauschlosen und unglaublich rasch auf und ab gleitenden Aufzuge - alles das war einschuchternd. Obwohl er einen triftigen Vorwand fur sein Kommen hatte, wurde er bei jedem Schritt von der Furcht verfolgt, ein uniformierter Wachposten konnte plotzlich um die Ecke biegen, seinen Ausweis verlangen und ihn hinausweisen. O'Briens Bedienter hatte jedoch die beiden ohne weitere Umstande hereingelassen. Er war ein kleiner, dunkelhaariger Mann in weifier Jacke, mit einem rautenformigen, vollkommen ausdruckslosen Gesicht, das einem Chinesen hatte gehoren 191 konnen. Der Korridor, durch den er sie fuhrte, war mit einem weichen Laufer belegt, die Wande waren cremefarben tapeziert und weifi getafelt, alles glanzte vor makelloser Sauberkeit. Auch das war einschuchternd. Winston konnte sich nicht erinnern, jemals einen Flur gesehen zu haben, dessen Wande nicht durch die Beruhrung menschlicher Korper verschmutzt waren. O'Brien hielt einen Zettel in Handen und schien ihn aufmerksam zu studieren. Sein massiges Gesicht, das heruntergebeugt war, so dafi man die Nasenlinie nicht sehen konnte, sah zugleich furchteinflofiend und klug aus. Vielleicht zwanzig Sekunden lang safi er unbeweglich da. Dann zog er den Sprechschreiber zu sich heran und machte in dem hybriden Jargon der Ministerien eine Durchsage: »Punkt eins Komma ftinf Komma sieben vollweise gebilligt Stop Vorschlag von Punkt sechs doppelplus lacherlich betreffs Denkverbrechen streicht Stop unsofort plusvoll Unterlagen abwartweise Maschinerie oben Stop Ende.« Er erhob sich bedachtig von seinem Stuhl und kam tiber den lautlosen Teppich auf sie zu. Ein wenig von der Beamtenatmosphare schien mit den Neusprechworten von ihm abgefallen zu sein, aber sein Gesichtsausdruck war finsterer als gewohnlich, so als ware es ihm nicht erwunscht, gestort zu werden. Zu der Furcht, die bereits von Winston Besitz ergriffen hatte, kam plotzlich noch so etwas wie ganz gewohnliche Verlegenheit hinzu. Es schien ihm durchaus moglich, dafi er ganz einfach einen dummen Irrtum begangen hatte. Denn weichen Beweis hatte er in Wirklichkeit, dafi O'Brien ein politischer Verschworer war? Nur einen getauschten Blick und eine einzige zweideutige Bemerkung: daruber hinaus lediglich seine eigenen, auf einen Traum gestutzten Hoffnungen. Er konnte nicht einmal zu dem Vorwand Zuflucht nehmen, gekommen zu sein, um das Worterbuch zu entlehnen, denn in diesem Fall war es unmoglich, Julias Anwesenheit zu erklaren. Als O'Brien am Televisor vorbeikam, schien ihm etwas einzufallen. Er blieb stehen, machte einen Schritt zur Seite und 192 drehte an einem an der Wand angebrachten Knopf. Man horte ein kurzes Knacken. Die Stimme war verstummt. Julia stiefi einen kurzen Laut, eine Art uberraschtes Quieken aus. Trotz aller seiner Angste war Winston zu verblufft, um den Mund halten zu konnen. »Sie konnen ihn ja abstellen!« sagte er. »Ja«, sagte O'Brien, »wir konnen ihn abstellen. Wir haben dieses Vorrecht.« Er stand jetzt vor ihnen. Seine machtige Erscheinung uberragte die beiden, und der Ausdruck seines Gesichts war noch immer undurchdringlich. Er wartete, ein wenig streng, dafi Winston sprechen sollte, aber was sollte dieser schon sagen? Sogar jetzt noch war es undenkbar, dafi der andere nur ein vielbeschaftigter Mann war, der sich argerlich fragte, warum man ihn gestort hatte. Niemand sprach. Nachdem der Televisor abgestellt war, schien in dem Zimmer eine todliche Stille zu herrschen. Mit erdruckender Langsamkeit verstrichen die Sekunden. Krampfhaft hielt Winston seinen Blick weiter in den O'Briens gerichtet. Dann verzog sich das grimmige Gesicht plotzlich zu dem, was man den Anflug eines Lachelns hatte nennen konnen. Mit seiner charakteristischen Bewegung ruckte O'Brien seine Brille auf der Nase zurecht. »Soll ich es sagen oder wollen Sie?« sagte er. »Ich will es aussprechen«, sagte Winston sofort. »Das Ding dort ist auch wirklich abgestellt?« »Ja, alles ist abgeschaltet. Wir sind allein.« »Wir sind hier hergekommen, weil...« Er hielt inne, da er sich zum erstenmal der Unklarheit seiner Beweggrunde bewufit wurde. Da er nicht wirklich wufite, in welcher Form er Unterstutzung von O'Brien erwartete, war es nicht leicht zu sagen, warum er hergekommen war. Er fuhr fort, wobei er sich bewufit war, dafi seine Worte sowohl schwach als auch bombastisch klingen mufiten: »Wir glauben, dafi es eine Verschworung, eine Art Geheimorganisation, die gegen die Partei tatig ist, gibt und dafi Sie damit zu tun haben. 193 Wir wollen ihr beitreten und fur sie arbeiten. Wir sind Feinde der Partei. Wir glauben nicht an die Doktrin von Engsoz. Wir sind Gedankenverbrecher. Wir sind auch Ehefrevler. Wir sagen Ihnen das, weil wir uns Ihnen ganz auf Gnade oder Ungnade ausliefern wollen. Wenn Sie wunschen, dafi wir uns noch auf irgendeine andere Art und Weise belasten, sind wir auch dazu bereit.« Er stockte und warf einen Blick tiber seine Schulter aus dem Gefuhl heraus, die Tur habe sich geoffnet. Richtig, der kleine, gelbgesichtige Diener war, ohne anzuklopfen, hereingekommen. Winston sah, dafi er ein Tablett mit einer Karaffe und Glasern trug. »Martin ist einer von den unsrigen«, sagte O'Brien gelassen. »Bringen Sie die Glaser hierher, Martin. Stellen Sie sie auf den runden Tisch. Haben wir genugend Stiihle? Dann konnen wir uns ebenso gut setzen und gemutlich reden. Holen Sie sich auch einen Stuhl fur sich selbst, Martin. Hier handelt es sich um Geschaftliches. Betrachten Sie sich die nachsten zehn Minuten nicht als Diener. « Der kleine Mann setzte sich und machte es sich einigermafien bequem, aber doch in einer bedientenhaften Art, der Art eines Kammerdieners, dem ein Vorrecht eingeraumt wird. Winston betrachtete ihn von der Seite. Es kam ihm zum Bewufitsein, dafi das ganze Leben dieses Mannes Schauspielerei war und er es als gefahrlich empfand, auch nur einen Augenblick aus der Rolle zu fallen. O'Brien ergriff die Karaffe am Halse und fullte die Glaser mit einer dunkelroten Fliissigkeit. 03553 213133 Sie weckte in Winston dunkle Erinnerungen an etwas vor langer Zeit an einer Hauswand oder einer Reklameflache Gesehenes - eine riesige, aus elektrischen Gliihbirnen zusammengesetzte Flasche, die sich zu neigen und aufzurichten und ihren Inhalt in ein Glas zu leeren schien. Von oben gesehen, sah das Getrank fast schwarz aus, aber in der Karaffe schimmerte es rot wie ein Rubin. Es hatte einen sauersufien Geruch. Er sah, wie Julia ihr Glas ergriff und mit offen eingestandener Neugier daran schnupperte. 194 »Man nennt es Wein«, erklarte O'Brien mit einem leisen Lacheln. »Sie haben sicherlich schon davon in Buchern gelesen. Nicht viel davon sickert bis zur Aufieren Partei durch, furchte ich.« Sein Gesicht wurde wieder ernst, und er hob sein Glas: »Ich glaube, es ist wohl angebracht, dafi wir damit beginnen, miteinander anzustofien. Auf das Wohl unseres Retters: Hoch lebe Immanuel Goldstein!« Winston hob sein Glas mit einer gewissen Ungeduld. Wein war etwas, von dem er gelesen und getraumt hatte. Wie der glaserne Briefbeschwerer oder Mr. Charringtons halberinnerte Reime gehorte er der ausgetilgten romantischen Vergangenheit an, der guten alten Zeit, wie er sie in seinen geheimen Gedanken zu nennen pflegte. Aus irgendeinem Grunde hatte er immer geglaubt, Wein habe einen aufierst sullen Geschmack, ahnlich wie Brombeermarmelade, und eine unmittelbar berauschende Wirkung. In Wirklichkeit war das Getrank, als er es nun schluckte, ausgesprochen enttauschend. In Wahrheit hinterliefi es, nach Jahren des Gin-Trinkens, kaum einen Geschmack auf seiner Zunge. Er stellte das geleerte Glas hin. »Es gibt Goldstein also?« sagte er. »Ja, diesen Menschen gibt es, und er lebt. Wo, weifi ich nicht. « »Und die Verschworung - die Organisation? Besteht sie wirklich? Ist sie nicht nur eine Erfindung der Gedankenpolizei?« »Nein, sie besteht wirklich. Die >Bruderschaft< wird sie von uns genannt. Sie werden nie sehr viel mehr von der Bruderschaft erfahren, als dafi es sie gibt und dafi Sie ihr angehoren. Ich werde gleich darauf zuruckkommen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Es ist unklug, sogar fur Mitglieder der Inneren Partei, den Televisor langer als eine halbe Stunde abzustellen. Sie hatten nicht zusammen herkommen sollen, und Sie mussen getrennt fortgehen. Sie, Genossin« - und er nickte Julia mit dem Kopf zu -, »gehen zuerst. Wir haben noch etwa zwanzig Minuten zur Verfugung. Sie werden verstehen, dafi ich damit beginnen mufi, Ihnen gewisse Fragen zu stellen. Um es kurz zu machen: Was sind Sie bereit zu unternehmen?« » 195 Alles, wozu wir imstande sind«, sagte Winston. O'Brien hatte eine kleine Drehung auf seinem Stuhl gemacht, so dafi er jetzt Winston vor sich hatte. Er liefi Julia fast unbeachtet und schien es als selbstverstandlich anzunehmen, dafi Winston auch in ihrem Namen sprechen konnte. Einen Augenblick klappten die Lider tiber seine Augen. Er fing an, seine Fragen mit langsamer, ausdrucksloser Stimme zu stellen, so, als handle es sich um eine Schablone, eine Art Abhoren aus dem Katechismus, bei dem er die meisten Antworten schon im voraus kannte. »Sie sind bereit, Ihr Leben zu opfern?« »Ja.« »Sie sind bereit, einen Mord zu begehen?« »Ja.« »Sabotageakte zu begehen, die vielleicht den Tod von Hunderten von unschuldigen Menschen herbeifuhren?« »Ja.« »Ozeanien an die Feindmachte zu verraten?« »Ja.« »Sie sind bereit, zu betrugen, zu falschen, zu erpressen, die Gesinnung von Kindern zu verderben, suchtigmachende Rauschgifte unter die Leute zu bringen, die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten - alles zu tun, was dazu angetan ist, das Chaos zu fordern und die Macht der Partei zu untergraben?« »Ja.« »Wenn es zum Beispiel irgendwie unseren Interessen dienlich sein sollte, einem Kind Schwefelsaure ins Gesicht zu schutten - sind Sie dazu bereit?« »Ja.« »Sie sind dazu bereit, Ihre bisherige Personlichkeit aufzugeben und fur den Rest Ihres Lebens als Kellner oder Hafenarbeiter durchs Leben zu gehen?« »Ja.« »Sie sind bereit, Selbstmord zu veruben, wenn und wann wir Ihnen das befehlen?« 196 »Ja.« »Sie sind also beide bereit, sich zu trennen und einander nie wiederzusehen?« »Nein!« fiel Julia ein. Es kam Winston vor, als sei eine lange Zeit verstrichen, ehe er antwortete. Einen Augenblick schien er sogar der Sprache beraubt gewesen zu sein. Seine Zunge brachte keinen Laut hervor, wahrend sie immer wieder die Anfangssilben erst des einen, dann des anderen Wortes zu formen versuchte. Ehe er es nicht ausgesprochen hatte, wufite er nicht, welches Wort er sagen wurde. »Nein«, sagte er schliefilich. »Sie taten gut daran, mir das zu sagen«, sagte O'Brien. »Es ist notwendig fur uns, alles zu wissen.« Er wandte sich Julia zu und fugte mit einer ein wenig ausdrucksvolleren Stimme hinzu: »Begreifen Sie auch, dafi er, selbst wenn er am Leben bleibt, das moglicherweise als ein ganz anderer Mensch tut? Wir konnten gezwungen sein, einen vollig anderen Menschen aus ihm zu machen. Sein Gesicht, seine Art, sich zu bewegen, die Form seiner Hande, die Farbe seiner Haare - ja sogar seine Stimme waren anders. Und auch Sie selbst konnten ein anderer Mensch geworden sein. Unsere Chirurgen konnen einen Menschen bis zum Nichtwiedererkennen verandern! Manchmal ist das notig. Manchmal amputieren wir sogar ein Glied.« Winston konnte nicht umhin, noch einmal einen verstohlenen Blick auf Martins Mongolengesicht zu werfen. Er konnte keine Operationsnarben darauf entdecken. Julia war um eine Schattierung bleicher geworden, so dafi die Sommersprossen hervortraten, aber sie sah O'Brien tapfer an. Sie murmelte etwas, das wie Zustimmung klang. »Gut. Dann ware das in Ordnung.« Eine silberne Zigarettendose stand auf dem Tisch. Mit einer etwas zerstreuten Miene schob O'Brien sie den anderen hin, nahm selbst eine Zigarette, stand dann auf und begann langsam 197 hin und her zu gehen, so, als konnte er stehend besser denken. Es waren sehr gute Zigaretten, prall gefullt, mit einem ungewohnten feinen Papier. O'Brien blickte wieder auf seine Armbanduhr. »Sie gehen jetzt besser zu Ihrer Arbeit, Martin«, sagte er. »In einer Viertelstunde schalte ich ein. Sehen Sie sich die Gesichter dieser Genossen an, bevor Sie gehen. Sie werden sie wiedersehen. Ich vielleicht nicht.« Genau wie sie es vorher an der Eingangstur getan hatten, huschten die schwarzen Augen des kleinen Mannes uber ihre Gesichter. Keine Spur von Freundlichkeit sprach aus seiner Art. Er pragte sich ihre Erscheinung ein, aber er empfand kein Interesse fur sie, so wenig wie er sich anmerken liefi, dafi er keines empfand. Der Gedanke schofi Winston durch den Kopf, dafi ein kunstlich zusammengenahtes Gesicht vielleicht seinen Ausdruck verandern konnte. Ohne ein Wort oder einen Grufi ging Martin hinaus, indem er leise die Tur hinter sich schlofi. O'Brien schlenderte auf und ab, eine Hand in der Tasche seines schwarzen Trainingsanzugs, in der anderen die Zigarette. »Sie werden verstehen, dafi Sie im Dunkeln kampfen werden. Sie werden immer im Dunkeln sein. Sie erhalten Befehle und haben ihnen zu gehorchen, ohne das Warum zu wissen. Spater werde ich Ihnen ein Buch senden, aus dem Sie die wahre Natur der Gesellschaftsordnung, in der wir leben, und die strategischen Mafinahmen, durch die wir sie zerstoren wollen, kennenlernen. Wenn Sie das Buch gelesen haben, sind Sie in die Briiderschaft als Mitglieder aufgenommen. Aber abgesehen von den allgemeinen Zielen, fur die wir kampfen, und den jeweiligen augenblicklichen Aufgaben, werden Sie nie etwas wissen. Ich sage Ihnen, dafi die Briiderschaft existiert, aber ich kann Ihnen nicht sagen, ob ihre Mitgliederzahl hundert oder zehn Millionen betragt. Aus Ihrem personlichen Wissen heraus werden Sie nie imstande sein zu sagen, ob sie auch nur ein Dutzend Anhanger hat. Sie werden drei oder vier Mittelsmanner kennen, die von Zeit zu Zeit ersetzt werden, je nachdem sie verschwinden. Da ich der 198 erste bin, mit dem Sie in Beruhrung kamen, bleibt es dabei. Wenn Sie Befehle erhalten, kommen sie von mir. Wenn wir es fur notig befinden, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen, so geschieht das durch Martin. Wenn Sie zu guter Letzt erwischt werden, dann werden Sie gestehen. Dagegen lafit sich nichts machen. Aber Sie werden sehr wenig anderes zu gestehen haben als das, was Sie selbst getan haben. Sie werden nicht imstande sein, mehr als ein halbes Dutzend unwichtiger Menschen zu verraten. Vermutlich werden Sie nicht einmal mich verraten. Wenn es soweit ist, bin ich vielleicht tot oder ein anderer Mensch mit einem anderen Gesicht geworden.« Er fuhr fort, uber den weichen Teppich hin und her zu gehen. Trotz der Schwere seines Korpers bewegte er sich mit einer auffallenden Grazie. Sie aufierte sich sogar in der Bewegung, mit der er seine Hand in die Tasche steckte oder seine Zigarette hielt. Mehr noch als den der Kraft erweckte er einen Eindruck der Vertrauenswurdigkeit und eines leise mit Ironie gefarbten Verstandnisses. Wie ernst er sich auch geben mochte, so haftete ihm doch nichts von der sturen Unentwegtheit des Fanatikers an. Wenn er von Mord, Selbstmord, Geschlechtskrankheit, amputierten Gliedmafien und veranderten Gesichtern sprach, so geschah es mit einem leisen Unterton von Spott. »Das lafit sich nicht vermeiden«, schien seine Stimme zu sagen, »das mussen wir unerbittlich tun. Aber wir tun es nicht mehr, wenn erst das Leben wieder lebenswert sein wird.« Eine Welle der Bewunderung, fast der Verehrung, wallte in Winston fur O'Brien auf. Fur einen Augenblick hatte er die Schattengestalt Goldsteins vergessen. Wenn man O'Briens machtige Schultern und sein derbgeschnittenes, unschones und doch so gewinnendes Gesicht ansah, konnte man sich unmoglich vorstellen, er konnte jemals eine Niederlage erleiden. Es gab keine Kriegslist, der er nicht gewachsen war, keine Gefahr, die er nicht vorhersah. Sogar Julia schien beeindruckt. Sie hatte ihre Zigarette ausgehen lassen und lauschte gespannt. O'Brien fuhr fort: »Sie werden Geruchte vom Vorhandensein der Bruderschaft 199 gehort haben. Zweifellos haben Sie sich Ihr eigenes Bild von ihr gemacht. Sie haben sich vermutlich eine weitverzweigte Untergrundbewegung von Verschworern vorgestellt, die sich heimlich in Kellern treffen, Mitteilungen an Hausermauern kritzeln und einander an Losungsworten oder einem besonderen Handedruck erkennen. Nichts dergleichen gibt es. Die Mitglieder der Bruderschaft haben keine Mittel, einander zu erkennen, und es besteht keine Moglichkeit, dafi ein Mitglied mehr als ein paar sehr wenige als ihm personlich bekannt nennen konnte. Goldstein selbst konnte der Gedankenpolizei, wenn er ihr in die Hande fiele, keine vollstandige Mitgliederliste oder sonst einen Hinweis geben, auf Grund dessen sie sich eine vollstandige Liste beschaffen konnte. Eine solche Liste existiert nicht. Die Bruderschaft kann nicht ausgerottet werden, weil sie keine Organisation im ublichen Sinne ist. Nichts als eine unaustilgbare Idee halt sie zusammen. Sie werden nie etwas anderes zu Ihrer Stutze haben als die Idee. Ihnen werden keine Kameradschaft und keine Ermutigung zuteil. Wenn Sie schliefilich erwischt werden, erfahren Sie keine Hilfe. Wir helfen unseren Mitgliedern nie. Hochstens, wenn es unumganglich ist, dafi einer zum Schweigen gebracht wird, konnen wir gelegentlich eine Rasierklinge in eine Gefangniszelle einschmuggeln. Sie werden sich daran gewohnen mussen, ohne sichtbare Ergebnisse und ohne Hoffnung zu leben. Sie werden eine Weile tatig sein, dann werden Sie verhaftet werden, gestehen und sterben. Das sind die einzigen fur Sie greifbaren Ergebnisse. Es besteht keine Moglichkeit, dafi zu unseren Lebzeiten eine sichtbare Veranderung eintritt. Wir sind die Toten. Unser einziges wirkliches Leben liegt in der Zukunft. Wir werden daran teilhaben als ein Hauflein Staub und verwester Gebeine. Aber in wie weiter Feme diese Zukunft liegt, weifi niemand. Es kann in tausend Jahren sein. In der Gegenwart ist nichts anderes moglich, als den Bereich der Gesundung Schritt urn Schritt zu vergrofiern. Wir konnen nicht als Gesamtheit 200 vorgehen. Wir konnen nur unsere Erkenntnisse von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weitergeben. In Anbetracht der Gedankenpolizei gibt es keinen anderen Weg.« Er hielt inne und blickte zum drittenmal auf seine Armbanduhr. »Es ist nachgerade an der Zeit fur Sie zu gehen, Genossin«, sagte er zu Julia. »Warten Sie. Die Karaffe ist noch halbvoll.« Er fullte die Glaser und hob sein eigenes Glas am Stiel. »Auf was soil es diesmal sein?« sagte er, noch immer mit dem gleichen leisen Anflug von Ironie. »Auf den Untergang der Gedankenpolizei? Auf den Tod des Grofien Bruders? Auf die Freiheit unseres Heimatlandes? Auf die Zukunft?« »Auf die Vergangenheit!«, sagte Winston. »Die Vergangenheit ist wichtiger«, pflichtete O'Brien ernst bei. Sie leer ten ihre Glaser, und einen Augenblick spater stand Julia auf, um zu gehen. O'Brien nahm eine kleine Schachtel von einem Schrankchen herunter und reichte ihr eine flache weifie Tablette, die er sie auf die Zunge zu legen aufforderte. Es war wichtig, meinte er, nicht nach Wein zu riechen, wenn man hinausging: die Fahrstuhlfuhrer waren sehr aufmerksame Beobachter. Sobald sich die Tur hinter ihr geschlossen hatte, schien er ihr Vorhandensein vergessen zu haben. Er ging noch ein- oder zweimal im Zimmer hin und her, dann blieb er stehen. »Es gibt noch Einzelheiten zu besprechen«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben irgendein Versteck?« Winston berichtete von dem Zimmer tiber Mr. Charringtons Laden. »Das wird fur den Augenblick genugen. Spater werden wir etwas anderes fur Sie finden. Es ist wichtig, sein Versteck haufig zu wechseln. Inzwischen sende ich Ihnen ein Exemplar von „dem Buch" - sogar O'Brien, bemerkte Winston, schien die Worte so auszusprechen, als waren sie in Kursivschrift geschrieben -, »von Goldsteins Buch, Sie verstehen, so bald wie moglich. Es kann ein paar Tage dauern, ehe ich eines in die Hande bekommen kann. Es gibt nicht viele Exemplare, wie Sie sich wohl denken konnen. Die Gedankenpolizei macht Jagd 201 darauf und vernichtet sie fast ebenso rasch, wie wir sie drucken konnen. Das hilft ihr aber nur sehr wenig. Das Buch ist unvernichtbar. Ware auch das letzte Exemplar verlorengegangen, so konnten wir den Inhalt doch Wort fur Wort wiedergeben. Haben Sie eine Mappe bei sich, wenn Sie an Ihre Arbeit gehen?« fugte er hinzu. »In der Regel, ja.« »Wie sieht sie aus?« »Schwarz, sehr schabig. Mit zwei Tragriemen.« »Schwarz, zwei Tragriemen, sehr schabig - gut. An einem der nachsten Tage - ich kann kein genaues Datum angeben - wird eine der Mitteilungen unter Ihren Vormittagsarbeiten ein verdrucktes Wort enthalten, und Sie mussen um eine Richtigstellung bitten. Am nachsten Tag gehen Sie dann ohne Ihre Mappe an die Arbeit. Im Laufe des Tages wird Sie auf der Strafie ein Mann am Arm beruhren und sagen: >Ich glaube, Sie haben Ihre Mappe fallen lassen.< Die Mappe, die er Ihnen dann gibt, wird ein Exemplar von Goldsteins Buch enthalten. Sie geben es binnen vierzehn Tagen zuruck.« Sie schwiegen einen Augenblick. »Es bleiben nur noch zwei Minuten, ehe Sie gehen mussen«, sagte O'Brien. »Wir werden uns wiedersehen - falls wir uns wiedersehen...« Winston blickte zu ihm auf. »An dem Ort, wo keine Dunkelheit herrscht?« sagte er zogernd. O'Brien nickte, ohne Verwunderung zu verraten. »An dem Ort, wo keine Dunkelheit herrscht«, sagte er, so als habe er die Anspielung verstanden. »Und inzwischen, gibt es noch etwas, was Sie sagen mochten, bevor Sie gehen? Eine Botschaft? Eine Frage?« Winston uberlegte. Es schien keine Frage mehr zu geben, die er hatte stellen wollen: noch weniger verspurte er Lust, hochtrabende Phrasen zu stammeln. Statt etwas, das unmittelbar mit O'Brien oder der Bruderschaft zu tun hatte, ging ihm ein verschwommenes Bild von dem dusteren Schlafzimmer, in dem seine Mutter ihre letzten Tage verbracht hatte, und dem kleinen 202 Zimmer tiber Mr. Charringtons Laden mit dem glasernen Briefbeschwerer und dem Stahlstich in seinem Rosenholzrahmen durch den Sinn. Auf gut Gluck sagte er: »Haben Sie zufallig jemals einen alten Reim gehort, der >Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's< anfing?« Wieder nickte O'Brien. Mit einer Art ernster Hoflichkeit erganzte er die Strophe: »Oranges and lemons, say the bells of St. Ctement's, You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's, When will you pay me? say the bells of Old Bailey, When 1 grow rich, say the bells of Shoreditch.« »Sie kennen den letzten Vers!« rief Winston aus. »Ja, ich kenne den letzten Vers. Und jetzt, furchte ich, ist es Zeit fur Sie zu gehen. Aber warten Sie. Lassen Sie mich Ihnen lieber eine von diesen Tabletten geben.« Als Winston aufstand, reichte ihm O'Brien die Hand. Sein kraftiger Griff druckte Winstons Handteller bis auf den Knochen. Bei der Tur blickte Winston zuruck, aber O'Brien schien bereits im Begriff, ihn aus seinem Gedachtnis zu streichen. Er wartete mit der Hand an dem Knopf, mit dem man den Televisor einschaltete. Hinter ihm konnte Winston den Schreibtisch mit seiner grungeschirmten Lampe, den Sprechschreiber und das mit Papieren vollgehaufte Drahtablegekorbchen sehen. Die Sache war erledigt. In dreifiig Sekunden, kam ihm zum Bewufitsein, wurde O'Brien wieder bei seiner unterbrochenen, wichtigen Arbeit fur die Partei sein. Neuntes Kapitel Winston war von einer gallertartigen Mudigkeit. Gallertartig war das richtige Wort. Es war ihm von selbst in den Sinn gekommen. Sein Korper schien nicht nur eine gelatine artige Weichheit, 203 sondern auch eine ebensolche Durchsichtigkeit angenommen zu haben. Er hatte das Gefuhl, wurde er die Hand hochhalten, dann konnte er das Licht hindurchscheinen sehen. Samtliche roten und weifien Blutkorperchen waren ihm durch eine riesige Arbeitsuberlastung abgezapft worden, so dafi nur die zerbrechliche Struktur von Nerven, Knochen und Haut ubriglieb. Alle Empfindungen waren ubersteigert. Sein Trainingsanzug rieb seine Schultern wund, das Strafienpflaster schmerzte seine Fufisohlen, sogar das Offnen und Schliefien einer Hand bedeutete schon eine Anstrengung, die seine Gelenke knacken liefi. In den letzten ftinf Tagen hatte er mehr als neunzig Stunden gearbeitet. Das gleiche gait von jedem anderen im Ministerium Beschaftigten. Jetzt war alles erledigt, und er hatte bis morgen frtih buchstablich nichts mehr, auch nicht die geringste Arbeit fur die Partei zu tun. Er konnte sechs Stunden in seinem Schlupfwinkel und weitere neun daheim in seinem Bett verbringen. Langsam ging er in dem milden Nachmittagssonnenschein eine schmutzige Strafie in Richtung auf Herrn Charringtons Laden hinunter, mit einem wachsamen Auge fur mogliche Streifen, aber, ohne es begrunden zu konnen, in der festen Uberzeugung, dafi an diesem Nachmittag fur ihn keine Gefahr bestand, von jemand angehalten zu werden. Die schwere Mappe, die er trug, stiefi bei jedem Schritt gegen sein Knie und jagte ihm einen kribbelnden Schauer die Haut seines Beins hinauf und hinunter. In ihr war „das Buch", das jetzt seit sechs Tagen in seinem Besitz war und das er noch nicht aufgemacht, ja noch nicht einmal angesehen hatte. Am sechsten Tag der Hass-Woche, nach den Umzugen, den Ansprachen, dem Beifallsgeschrei, dem Liederabsingen, den Standarten, den Maueranschlagen, den Filmvorfuhrungen, den plastischen Darstellungen, dem Trommelschlagen und Trompetengeschmetter, dem Gleichschritt marschierender Fufie, dem Knirschen der Raupenketten von Panzern, dem Motorengedrohn von Flugzeugstaffeln, den Salutschussen der Geschutze - nach sechs solchen Tagen, als die Erregung der 204 Gemtiter ihren Hohepunkt erreicht hatte und der allgemeine Hass auf Eurasien zu solcher Siedehitze geschtirt worden war, dafi die Menge, wenn sie Hand an die zweitausend eurasischen Kriegsverbrecher hatte legen konnen, die am letzten Tag der Veranstaltung offentlich gehangt werden sollten, sie unweigerlich in Stticke gerissen hatte - genau in diesem Augenblick wurde bekannt gegeben, Ozeanien befinde sich keineswegs im Kriegszustand mit Eurasien. Ozeanien befinde sich im Kriegszustand mit Ostasien. Eurasien war ein Verbtindeter. Selbstverstandlich wurde nicht zugegeben, dafi eine Veranderung eingetreten war. Es wurde lediglich ganz plotzlich und uberall gleichzeitig bekannt gemacht, dafi Ostasien und nicht Eurasien der Feind sei. Winston nahm gerade an einer Kundgebung teil, die auf einem der im Mittelpunkt von London gelegenen Platze stattfand, als diese Bekanntgabe erfolgte. Es war Nacht, und die weifien Gesichter und roten Banner waren gespenstisch vom Scheinwerferlicht angestrahlt. Auf dem Platz drangten sich mehrere tausend Menschen, darunter ein Zug von etwa tausend Schulkindern in Spaheruniform. Auf einer mit scharlachrotem Stoff drapierten Rednerbuhne hielt ein Sprecher der Inneren Partei, ein kleiner, hagerer Mann mit unverhaltnismafiig langen Armen und einem grofien, kahlen Schadel, tiber den ein paar dtinne Haarstrahnen gelegt waren, eine feierliche Rede an die Menge. Eine kleine Rumpelstilzchengestalt, verkrummt von Hass, hielt er mit einer Hand das Mikrophon, wahrend die andere, riesig am Ende eines knochigen Armes, sich drohend in die Luft tiber seinem Kopf krallte. Seine durch den Lautverstarker metallisch gefarbte Stimme brtillte eine endlose Aufzahlung von Greueltaten, Massenabschlachtungen, Verschleppungen, Pltinderungen, Vergewaltigungen, Gefangenenfolterungen, Bombardierung von Zivilisten, Ltigenpropaganda, unprovozierten Angriffen, gebrochenen Vertragen heraus. 205 Es war fast nicht moglich, ihm zuzuhoren, ohne zuerst uberzeugt und dann emport zu werden. Alle paar Augenblicke kochte die Wut der Menge tiber, und die Stimme des Redners ging in einem wilden tierischen Gebrull unter, das hemmungslos aus tausend Kehlen hervorbrach. Die wustesten Wutschreie kamen von den Schulkindern. Die Ansprache war seit etwa zwanzig Minuten im Gange, als ein Bote auf die Rednertribune eilte und dem Sprecher ein Zettel in die Hand gedruckt wurde. Er entfaltete und las ihn, ohne seine Rede zu unterbrechen. Nichts in seiner Stimme oder in seinem Gehaben anderte sich, auch nichts im Inhalt seiner Rede, doch plotzlich lauteten die Namen anders. Ohne dafi Worte gefallen waren, durchlief die Menge eine Welle des Verstehens. Ozeanien befand sich im Krieg mit Ostasien! Im nachsten Augenblick begann eine ungeheure Geschaftigkeit. Die roten Fahnen und Plakate, mit denen der Platz dekoriert war, stimmten samtlich nicht mehr. Gut die Halfte davon stellte die falschen Gesichter dar. Es war Sabotage! Die Agenten Goldsteins waren am Werk gewesen! Ein larmendes Zwischenspiel setzte ein, bei dem Anschlage von den Mauern gerissen, Fahnen zerfetzt und zertrampelt wurden. Die Spaher vollfuhrten Wunder an Tatkraft darin, auf Dacher zu klettern und von den Kaminen flatternde Spruchbander abzuschneiden. Aber in ein paar Minuten war alles zu Ende. Der Sprecher, noch immer mit einer Hand das Mikrophon umklammernd, die Schultern vorgebeugt, die freie Hand in die Luft gekrallt, war unbeirrt in seiner Rede fortgefahren. Noch eine Minute, und die wilden Wutschreie brachen erneut aus der Volksmenge hervor. Die Hassdemonstration nahm genau wie vorher ihren Fortgang, nur dafi die Zielscheibe sich geandert hatte. Winston war nachtraglich besonders davon beeindruckt, dafi der Sprecher tatsachlich mitten im Satz nicht nur ohne zu stocken von einer Richtung in die andere umgeschaltet, sondern nicht einmal den Satzbau abgewandelt hatte. Aber augenblicklich 206 beschaftigten ihn andere Dinge. Im Augenblick der Verwirrung, als die Plakate abgerissen wurden, hatte ihn ein Mann, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, auf die Schulter geklopft und gesagt: »Verzeihung, ich glaube, Sie haben Ihre Mappe fallen lassen.« Zerstreut und wortlos griff er nach der Mappe. Er wufite, dafi Tage vergehen wurden, ehe sich ihm die Moglichkeit bot, einen Blick hineinzuwerfen. Sofort nach Beendigung der Demonstration ging er zum Wahrheitsministerium, obwohl es mittlerweile fast dreiundzwanzig Uhr war. Die gesamte Belegschaft des Ministeriums hatte dasselbe getan. Die bereits aus den Televisoren tonenden Befehle, die sie auf ihre Posten zuruckriefen, waren kaum notig gewesen. Ozeanien lag im Krieg mit Ostasien: Ozeanien war immer mit Ostasien im Krieg gelegen. Ein Grofiteil der politischen Literatur der letzten ftinf Jahre war jetzt vollkommen unbrauchbar geworden. Berichte und Aufzeichnungen aller Art, Zeitungen, Bucher, Flugschriften, Filme, Sprechplatten, Fotografien - alles mufite mit Blitzesschnelle richtiggestellt werden. Wenn auch keinerlei Direktiven erlassen wurden, so wufite man doch, dafi die Abteilungsleiter wunschten, binnen einer Woche sollte nirgendwo mehr eine Anspielung auf den Krieg mit Eurasien oder das Bilndnis mit Ostasien ubriggeblieben sein. Es war eine Riesenarbeit, die noch dadurch erschwert wurde, dafi die erforderlichen Prozeduren nicht bei ihrem wahren Namen genannt werden durften Jedermann in der Registraturabteilung arbeitete achtzehn von den vierundzwanzig Stunden des Tages, mit zwei hastigen dreistundigen Schlafpausen. Strohsacke wurden aus den Kellern heraufgebracht und uberall auf den Gangen ausgebreitet. Die Mahlzeiten bestanden aus Victory-Kaffee und belegten Broten, die von dem Personal der Kantine auf Wagelchen herumgefahren wurden. Jedesmal, wenn Winston fur eine seiner Schlafpausen die Arbeit unterbrach, versuchte er seinen Schreibtisch von alien Arbeiten aufgeraumt zu hinterlassen, um 207 jedesmal, wenn er mit verquollenen Augen und geradert am ganzen Leib zuruckgeschlichen kam, einen neuen Schauer von Papierrollchen vorzufinden, der die Schreibtischplatte wie eine Schneewehe bedeckt hatte, den Sprechschreiber zur Halfte begrub und auf den Fufiboden uberflofi, so dafi seine erste Tatigkeit immer darin bestand, sie zu einem sauberen Haufen zu ordnen, um Platz zum Arbeiten zu haben. Am schlimmsten von allem war, dafi es sich durchaus nicht nur um mechanische Arbeiten handelte. Oft genii gte es, lediglich einen Namen durch einen anderen zu ersetzen, aber jeder in Einzelheiten gehende Tatsachenbericht erforderte Sorgfalt und Phantasie. Sogar die geographischen Kenntnisse, tiber die man verfugen mufite, um den Krieg von einem Weltteil in den anderen zu verlegen, waren betrachtlich. Am dritten Tag schmerzten ihn die Augen unertraglich, und seine Brillenglaser mufiten alle paar Minuten geputzt werden. Es war wie ein Kampf mit einer zermurbenden korperlichen Aufgabe, etwas, das man zwar zu tun sich weigern konnte und das man sich doch mit einer nervenuberreizten Beflissenheit zu bewaltigen bemuhte. Soweit er uberhaupt Zeit hatte, sich daran zu erinnern, storte es ihn nicht, dafi jedes von ihm in den Sprechschreiber gemurmelte Wort, jeder Strich seines Tintenbleistifts eine bewufite Luge war. Er war ebenso wie jeder andere in der Abteilung darauf bedacht, die Falschung vollkommen zu machen. Am Morgen des sechsten Tages nahm der Papierrollchenregen ab. Eine ganze halbe Stunde lang kam nichts aus der Rohrpostleitung heraus; dann noch einmal eine Rolle, dann nichts. Uberall um etwa die gleiche Zeit nahm die Arbeit ab. Ein tiefer und - so wie die Dinge lagen - geheimer Seufzer durchlief die Abteilung. Eine Riesenleistung, die nie erwahnt werden durfte, war vollbracht. Jetzt war es fur niemand mehr moglich, durch dokumentarische Beweise zu belegen, dafi der Krieg mit Eurasien jemals stattgefunden hatte. Schlag zwolf Uhr wurde unerwartet bekannt gegeben, alle im Ministerium Beschaftigten hatten bis 208 morgen friih frei. Winston, noch immer die Mappe mit dem Buch bei sich tragend, die er wahrend der Arbeit zwischen seine Fufie gestellt und beim Schlafen unter seinen Korper geschoben hatte, ging nach Hause, rasierte sich und schlief fast in seinem Bad ein, obwohl das Wasser kaum mehr als lauwarm war. Mit einer Art wollustigen Knackens seiner Gelenke stieg er die Treppe tiber Herrn Charringtons Laden hinauf. Er war rnude, aber nicht mehr schlafrig. Er offnete das Fenster, zundete den verdreckten kleinen Petroleumkocher an und stellte einen Topf Wasser fur den Kaffee auf. Julia wurde gleich kommen; derweilen konnte er sich dem Buch widmen. Er setzte sich in den zerschlissenen Lehnstuhl und schnallte die Riemen der Mappe auf. Ein schwerer schwarzer Band, unfachmannisch gebunden, ohne Namen oder Titel auf dem Einband. Auch der Druck sah ein wenig unregelmafiig aus. Die Seiten waren an den Ecken abgegriffen und fielen leicht auseinander, so als sei das Buch durch viele Hande gegangen. Die Uberschrift der ersten Seite lautete: THEORIE UND PRAXIS DES OLIGARCHISCHEN KOLLEKTIVISMUS Von Immanuel Goldstein 1. Kapitel Unwissenheit ist Starke „Seit Beginn der geschichtlichen Uberlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei soziale Klassen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht - gemafi der allgemeinen Geschichtsbetrachtung des Kollektivismus. Sie waren mehrfach unterteilt, fuhrten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhaltnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach 209 gewaltigen Umwalzungen und scheinbar unwiderruflichen Veranderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt. Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar..." Winston hielt mit dem Lesen inne, hauptsachlich um sich geniefierisch die Tatsache vor Augen zu halten, dafi er in Geborgenheit und Sicherheit las. Er war allein: kein Televisor, kein Ohr am Schlusselloch, kein nervoser Zwang, tiber die Schulter hinter sich zu blicken oder die Buchseite mit der Hand zu bedecken. Die milde Sommerluft streichelte seine Wange. Von irgendwo weit her drangen gedampfte Kinderlaute; im Zimmer selbst kein Gerausch aufier dem insektenhaften Ticken der Uhr. Er setzte sich tiefer in seinen Lehnstuhl zuruck und legte die Fufie auf das Kamingitter. Es war Seligkeit, war Zeitlosigkeit. Plotzlich, wie man es manchmal mit einem Buch macht, von dem man weifi, dafi man am Schlufi jedes Wort lesen und noch einmal lesen wird, schlug er es an einer anderen Stelle auf und stiefi auf das dritte Kapitel. Er fuhr zu lesen fort: 3. Kapitel Krieg bedeutet Frieden Die Aufteilung der Welt in drei grofie Superstaaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorauszusehen war und auch tatsachlich vorausgesehen wurde. Die treibenden, geheimen Krafte hinter den Kulissen der Weltpolitik hatten zwar ursprunglich einen die gesamte Erde umfassenden Superstaat unter ihrer Kontrolle einrichten wollen, doch diese Entwicklung wurde durch die Dreiteilung zunachst zurilckgeworfen, da sich innerhalb dieser Krafte Spannungen und Meinungsverschiedenheiten bezuglich der Vorgehensweise zur Erreichung dieses Endziels ergeben hatten. 210 Mit der Einverleibung Europas durch die bolschewistische Sowjetunion und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren bereits zwei von den drei heute bestehenden Machten in Erscheinung getreten. Die dritte Macht, Ostasien, zeichnete sich erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kampfe und Unabhangigkeitsbestrebungen als deutliche Einheit ab. Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind an manchen Stellen willkurlich, an anderen schwanken sie je nach Kriegsgluck, aber im Allgemeinen folgen sie geographischen Gegebenheiten. Eurasien umfafit den gesamten nordlichen Teil der europaischen und asiatischen Landmasse von Portugal bis zur Bering-Strafie. Ozeanien umfafit Slid- und Nordamerika, die Inseln im Atlantischen Ozean einschliefilich der Britischen Inseln, Australien und den sudlichen Teil von Afrika. Ostasien, kleiner als die beiden anderen und mit einer weniger festumrissenen Westgrenze, umfafit China und die sudlich davon gelegenen Lander, die Japanischen Inseln und einen grofien, aber fluktuierenden Teil der Mandschurei, der Mongolei und Tibets. In der einen oder anderen Gruppierung liegen diese drei Superstaaten standig miteinander im Krieg, wie sie sich auch wahrend der letzten funfundzwanzig Jahre dauernd bekampften. Krieg ist jedoch nicht mehr der verzweifelte Vernichtungskampf wie in den Anfangsjahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts. Er ist ein Waffengang mit beschrankten Zielen zwischen Kampfenden, die nicht die Macht besitzen, einander zu vernichten, keinen materiellen Kriegsgrund haben und durch keinen echten ideologischen Unterschied getrennt sind. Das will nicht besagen, dafi die Kriegfuhrung oder die vorherrschende Einstellung dazu weniger blutrunstig oder ritterlich geworden ware. Im Gegenteil, die Kriegshysterie wutet standig und allgemein in alien Landern, und Untaten wie Notzucht, Pliinderung, Kindermord, Verschleppung ganzer Bevolkerungsteile in die Sklaverei, dazu Repressalien gegen Gefangene, die sogar soweit 211 gehen, sie bei lebendigem Leib zu sieden und zu verbrennen, werden als normal und, wenn sie von der eigenen Seite und nicht vom Feind begangen werden, als verdienstlich angesehen. Aber mit ihrem Leben ist nur eine sehr geringe Anzahl von Menschen, grofitenteils hochgeschulte Spezialisten, unmittelbar in die Kriegshandlungen verwickelt, und die durch sie verursachten Verluste an Gefallenen sind verhaltnismafiig gering. Der Kampf, wenn uberhaupt einer stattfindet, spielt sich an den undeutlich umrissenen Grenzen ab, deren Lage der einfache Mann nur mutmafien kann, oder im Bereich der Schwimmenden Festungen, die strategische Punkte der Seewege einnehmen. In den Zivilisationszentren bedeutet der Krieg nur eine dauernde Kurzung der Gebrauchsguter und den gelegentlichen Einschlag einer Raketenbombe, der vielleicht ein paar Dutzend Menschen zum Opfer fallen. Der Krieg hat in der Tat sein Wesen vollig gewandelt. Genauer gesagt haben sich die Grunde, um derentwillen Krieg gefuhrt wird, in der Rangordnung ihrer Wichtigkeit geandert. Beweggrunde, die bereits in bescheidenen Ausmafien bei den grofien Kriegen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mitsprachen, sind jetzt an die erste Stelle geruckt und werden bewufit anerkannt und in Rechnung gestellt. Um das Wesen des gegenwartigen Krieges zu verstehen - denn trotz der alle paar Jahre erfolgenden Umgruppierung handelt es sich immer um denselben Krieg -, mufi man sich vor allem vergegenwartigen, dafi er unmoglich entschieden werden kann. Keiner der drei Superstaaten konnte, sogar unter Zusammenschlufi der beiden anderen, endgultig unterworfen werden. Sie sind zu gleichmafiig stark und ihre naturlichen Verteidigungsmittel zu gewaltig. Eurasien ist durch seine riesigen Landflachen geschutzt, Ozeanien durch die Ausdehnung des Atlantischen und des Pazifischen Ozeans, Ostasien durch die Gebarfreudigkeit und den Fleifi seiner Bewohner. Zweitens gibt es in materieller Hinsicht nichts mehr, um das man kampfen konnte. Mit Einfuhrung der Autarkie, bei der 212 Produktion und Verbrauch aufeinander abgestellt sind, ist die Jagd nach Absatzmarkten, die eine Hauptursache fruherer Kriege war, beendet, wahrend der Wettstreit um Rohstoffe keine Existenzfrage mehr ist. Jedenfalls ist jeder der drei Superstaaten so grofi, dafi er fast alle von ihm benotigten Materialien innerhalb seiner eigenen Grenzen finden kann. Soweit der Krieg einen unmittelbaren wirtschaftlichen Zweck hat, ist es ein Krieg um Arbeitskrafte. Zwischen den Grenzen der Superstaaten und nicht in dauerndem Besitz eines derselben liegt ein annahernd viereckiges Gebiet, dessen Ecken von Tanger, Brazzaville, Darwin und Hongkong gebildet werden und das etwa ein Funftel der Gesamtbevolkerung der Erde enthalt. Um den Besitz dieser dichtbevolkerten Landstriche und den der nordlichen Eiszone geht der dauernde Kampf der drei Machte. In der Praxis beherrscht keine der Machte jemals das gesamte strittige Gebiet. Teile davon wechseln dauernd den Besitzer, und die durch einen plotzlichen verraterischen Einfall gegluckte Inbesitznahme dieses oder jenes Gebietsteiles bestimmt den endlosen Wandel der Machtegruppierung. Samtliche strittigen Gebiete enthalten wertvolle Mineralschatze, und manche von ihnen erzeugen wichtige pflanzliche Produkte wie Gummi, der in klimatisch kalteren Landstrichen durch verhaltnismafiig kostspielige Methoden synthetisch erzeugt werden mufi. Aber vor allem enthalten sie ein unerschopfliches Reservoir billiger Arbeitskrafte. Welche Macht Aquatorial-Afrika oder die Lander des mittleren Ostens oder Sudindien oder den Indonesischen Archipel beherrscht, hat damit Hunderte von Millionen schlecht bezahlter und schwer arbeitender Kulis zu ihrer Verfugung. Die mehr oder weniger offen auf die Stellung von Sklaven herabgedruckten Bewohner dieser Gebiete gehen dauernd von dem Besitz des einen Eroberers in den des anderen uber und werden ahnlich wie Kohlenbergwerke oder Olquellen ausgebeutet, in dem Wettlauf, mehr Waffen zu produzieren, das vorhandene Gebiet zu 213 vergrofiern, tiber mehr Arbeitskrafte zu verftigen, und endlos so weiter. Man mufi dabei im Auge behalten, dafi der Kampf nie wirklich tiber die Randgebiete der umstrittenen Territorien hinausgeht. Die Grenzen Eurasiens verlaufen schwankend zwischen dem Stromgebiet des Kongo und der Nordktiste des Mittelmeers. Die Inseln des Indischen Ozeans werden standig von Ozeanien oder von Ostasien erobert und zurtickerobert. In der Mongolei ist die Trennungslinie zwischen Eurasien und Ostasien nie fest umrissen. Rund um den Pol erheben alle drei Machte Anspruch auf riesige Gebiete, die faktisch weitgehend unbewohnt und unerforscht sind. Aber das politische Gleichgewicht der Krafte bleibt stets so ziemlich das gleiche, und das Gebiet, welches das Kernland jedes Superstaates bildet, bleibt immer unangetastet. Uberdies ist die Arbeitskraft der um den Aquator angesiedelten ausgebeuteten Volker ftir die Weltwirtschaft nicht wirklich notig. Sie tragen nichts zum Weltgedeihen bei, denn ihre gesamte Produktion dient Kriegszwecken, und das Ziel, warum ein Krieg vom Zaun gebrochen wird, besteht unabanderlich darin, besser ftir den nachsten Krieg gertistet zu sein. Durch ihre Arbeitsleistung ermoglichen die Sklavenbevolkerungen eine Intensivierung der dauernden Kriegsftihrung. Aber waren sie nicht vorhanden, so ware die Struktur der Weltgesellschaftsordnung und das Verfahren, durch das sie sich erhalt, nicht wesentlich anders. Das Hauptziel der modernen Kriegftihrung (in Ubereinstimmung mit den Prinzipien des Doppeldenks wird dieses Ziel von den leitenden Kopfen der Inneren Partei gleichzeitig anerkannt und nicht anerkannt) besteht in dem Verbrauch der maschinellen Erzeugnisse, ohne den allgemeinen Lebensstandard zu heben. Seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts war in der industriellen Gesellschaftsordnung das Problem immer latent, was man mit der Uberproduktion von Verbrauchsgtitern anfangen sollte. Gegenwartig, da wenige Menschen auch nur genug zu essen haben, ist dieses Problem offensichtlich nicht dringlich und ware 214 es vielleicht auch ohne das Einschalten von kiinstlichen Vernichtungsprozessen nicht geworden. Die Welt von heute ist ein armseliger, hungerleidender, jammerlicher Aufenthaltsort, verglichen mit der Welt von vor 1914, und das gilt noch in verstarktem Mafie, wenn man sie mit der imaginaren Zukunft vergleicht, die die Menschen jener Zeit erwarteten. Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts gehorte die Vision einer zukunftigen unglaublich reichen, tiber Mufie verfugenden, geordneten und tuchtigen Gesellschaftsordnung - einer schimmernden antiseptischen Welt aus Glas, Stahl und schneeweifiem Beton - zum Vorstellungsbild nahezu jedes gebildeten Menschen. Wissenschaft und Technik entwickelten sich mit wunderbarer Geschwindigkeit, und die Annahme schien naturlich, dafi sie sich immer weiterentwickeln wurden. Das war jedoch nicht der Fall, teils infolge der durch eine lange Reihe von Kriegen und Revolutionen verursachten Verarmung, teils weil wissenschaftlicher und technischer Fortschritt von einem durch Erfahrung gestutzten Denken abhingen. Die heute in Ozeanien herrschenden Krafte haben allerdings an einer Kultur des Wissens keinerlei Interesse. Im Gegenteil: Sie haben die ehemals hoch entwickelten Nationen Europas durch jahrzehntelange, innere Zersetzung zerstort und anschliefiend durch ihre Revolution verwustet und zertrummert. Mit dem Niedergang und dem Zerfall der technisierten Nationen und Volker Europas und dem Untergang der fruher europaisch gepragten Vereinigten Staaten kam auch der Zerfall der ubrigen Welt, die in den Strudel des damit entstandenen Machtvakuums hineingesogen worden ist. Im Ganzen genommen ist die Welt von heute demnach primitiver, als sie es vor funfzig Jahren war. Lediglich Verfahren, die mit Kriegfuhrung oder Polizeibespitzelung zusammenhangen, entwickelten sich im beschrankten Mafie weiter, aber Experiment und Erfindung haben so gut wie aufgehort, und die Verheerungen der Revolution und des darauf folgenden Atomkrieges wurden nie wieder ganz wettgemacht. 215 Nichtsdestoweniger sind die der Maschine, also der Industrieproduktion, innewohnenden Gefahren noch immer vorhanden. Von dem Augenblick an, als die Maschine zum erstenmal in Erscheinung trat, war es fur alle denkenden Menschen klar, dafi die Notwendigkeit der Muhsal erledigt war. Wenn die Maschine wohluberlegt mit diesem Ziel vor Augen in Dienst gestellt wurde, dann konnten Hunger, Uberstunden, Schmutz. Elend, Unbildung und Krankheit in ein paar Generationen uberwunden werden. Und tatsachlich hob die Maschine, ohne fur einen solchen Zweck eingesetzt zu werden, sondern durch eine Art automatischen Prozefi, indem sie namlich einen Uberfluss produzierte, den zu verteilen sich manchmal nicht umgehen liefi, wahrend eines Zeitraums von ungefahr funfzig Jahren am Ende des neunzehnten und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts den Lebensstandard des Durchschnittsmenschen sehr betrachtlich. Aber es war auch klar, dafi ein allgemein wachsender Wohlstand das Bestehen einer geordneten Gesellschaft bedrohte, ja tatsachlich in gewisser Weise ihre Auflosung bedeutete. In einer Welt, in der jedermann nur wenige Stunden arbeiten mufite, in der jeder genug zu essen hatte, in einem Haus mit Badezimmer und Kuhlschrank wohnte, ein Auto oder sogar ein Flugzeug besafi, in einer solchen Welt ware die augenfalligste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden. Wurde dieser Wohlstand erst einmal Allgemeingut, so bedeutete er keine Vorzugsstellung mehr. Es war zweifellos moglich, sich eine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der Wohlstand im Sinne von personlichem Besitz und Luxusartikeln gleichmafiig verteilt war, wahrend die Macht in den Handen einer kleinen privilegierten Schicht lag. Aber in der Praxis wurde eine solche Gesellschaftsordnung niemals lange Bestand haben und die leitenden Krafte der Weltpolitik wollen dies auch in keiner Weise, denn ihre Macht liegt in der Beherrschung des Geldes und der Rohstoffe begrundet. 216 Zu einer ackerbautreibenden Vergangenheit zuruckzukehren, wie es einige Denker zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ertraumten, war keine ausfuhrbare Losung. Sie stand im Widerspruch mit der fast auf der ganzen Welt gleichsam instinktiv gewordenen Mechanisierungstendenz, und aufierdem war jedes industriell zuriickgebliebene Land in militarischer Hinsicht hilflos und dazu verurteilt, direkt oder indirekt von seinen fortschrittlichen Rivalen beherrscht zu werden. Auch war es keine befriedigende Losung, die Massen dadurch in Armut zu erhalten, dafi man die Herstellung von Gebrauchsgutern abdrosselte, wie es in den Jahren vor der Revolution kurzzeitig versuchte. In vielen Landern liefi man damals die Wirtschaft zum Stillstand kommen, die Felder blieben unbebaut, veraltete Maschinen wurden nicht erganzt, grofie Teile der Bevolkerung wurden der Arbeit entfremdet und durch staatliche Unterstutzung gerade noch am Leben gehalten. Aber auch das brachte militarische Schwache mit sich, und da die damit verbundenen Opfer offensichtlich unnotig waren, erhob sich unvermeidlich eine Opposition. Das Problem bestand darin, die 0177-124343 Rader der Industrie sich weiter drehen zu lassen, ohne den wirklichen Wohlstand der Welt zu erhohen. Verbrauchsguter mufiten zwar produziert, durften aber nicht unter die Leute gebracht werden. Und in der Praxis war der einzige Weg, dieses Ziel zu erreichen, eine immerwahrende Kriegfuhrung. Zudem hatte sich diese Ausgangslage nach dem Entstehen eines rivalisierenden Ost- und Westblocks und dem Aufkommen Ostasiens ohnehin ergeben. Die Hauptwirkung des Krieges ist demnach heute die Zerstorung, nicht notwendigerweise von Menschenleben, sondern von Erzeugnissen menschlicher Arbeit. Der Krieg ist ein Mittel, um Materialien, die sonst dazu benutzt werden konnten, die Massen zu bequem und damit auf lange Sicht zu intelligent zu machen, in Stucke zu sprengen, in die Stratosphare zu verpulvern oder in die Tiefe des Meeres zu versenken. Sogar 217 wenn nicht wirklich Kriegswaffen zerstort werden, so ist ihre Fabrikation doch ein bequemer Weg, Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu erzeugen, was konsumiert werden kann. In einer Schwimmenden Festung zum Beispiel steckte eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen konnte. Am Schlufi wird sie als uberholt abgewrackt, ohne jemals jemandem wirklichen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem weiteren riesigen Arbeitsaufwand wird eine neue Schwimmende Festung gebaut. Im Prinzip dienen die Kriegsanstrengungen dazu, jeden Uberschufi, der vielleicht nach Befriedigung der unerlafilichen Bedurfnisse der Bevolkerung verbleiben konnte, aufzuzehren. In der Praxis werden die Bedurfnisse der Bevolkerung immer unterschatzt, mit dem Ergebnis, dafi eine chronische Verknappung der Halfte aller lebenswichtigen Guter herrscht; aber das wird als Vorteil angesehen. Es ist gewollte Politik, sogar die privilegierten Gruppen am Rande der Not zu halten, denn ein allgemeiner Verknappungszustand hebt die Bedeutung von kleinen Privilegien hervor und vergrofiert so den Unterschied zwischen einer Gruppe und einer anderen. An dem Lebensstandard zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gemessen, fuhrt selbst ein Mitglied der Inneren Partei ein hartes, arbeitsreiches Leben. Dennoch sieht seine Welt durch die paar Vorzuge, deren er sich erfreut - seine grofie, gut eingerichtete Wohnung, den besseren Stoff seiner Anzuge, die bessere Qualitat seines Essens, Trinkens und Tabaks, seine zwei oder drei Dienstboten, sein Privatauto oder Helikopter -, anders aus als die eines Mitglieds der Aufieren Partei, und die Mitglieder der Aufieren Partei geniefien einen ahnlichen Vorteil im Vergleich mit den von uns als »Proles« bezeichneten, entwurzelten Massen. Die soziale Atmosphare gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Stuckes Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut bedeutet. Gleichzeitig lafit das Bewusstsein, im Kriegszustand und deshalb in Gefahr zu sein, es 218 als die naturliche, unvermeidliche Bedingung fur ein Weiterleben erscheinen, die gesamte Macht in die Hande einer kleinen Gruppe von Machtigen zu legen. Der Krieg erfullt nicht nur, wie man sehen wird, das notwendige Zerstorungswerk, sondern erfullt es auch in einer psychologisch annehmbaren Weise. Im Prinzip ware es ganz einfach, die uberschussige Arbeit der Welt dadurch verpuffen zu lassen, dafi man Tempel und Pyramiden baut, Locher grabt und sie wieder zuschuttet, oder sogar grofie Mengen von Gutern erzeugt und sie dann verbrennt. Aber damit ware nur die wirtschaftliche, nicht aber die gefuhlsmafiige Basis fur die heutige Gesellschaftsordnung geschaffen. Es geht hier nicht um die Moral der Massen, deren Einstellung unwichtig ist, solange sie fest bei der Arbeit gehalten werden, sondern um die Moral der Partei selbst. Sogar von dem einfachsten Parteimitglied wird erwartet, dafi es in engen Grenzen fahig, fleifiig, ja sogar klug ist, jedoch ist es ebenfalls unerlasslich, dafi der Betreffende ein glaubiger und unwissender Fanatiker ist, dessen hauptsachliche Gefuhlsregungen Angst, Hass, Speichelleckerei und wilder Triumph sind. Mit anderen Worten, es ist notwendig, dafi er eine dem Kriegszustand entsprechende Mentalitat besitzt. Es spielt keine Rolle, ob wirklich Krieg gefuhrt wird, und da kein entscheidender Sieg moglich ist, kommt es nicht darauf an, ob der Krieg gut oder schlecht verlauft. Es ist weiter nichts notig, als dafi Kriegszustand herrscht. Die verstandesmafiige Zweiteilung, die die Partei von ihren Mitgliedern verlangt und die leichter in einer Kriegsatmosphare zustande kommt, ist heute fast allgemein, aber je hoher in den Rangen man hinaufkommt, desto deutlicher wird sie. Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindhass am starksten vertreten. In seiner Eigenschaft als Verwalter der Machtigen mufi ein Mitglied der Inneren Partei oft wissen, dafi dieser oder jener Punkt der Kriegsmeldungen unwahr ist, und er 219 mag sich haufig bewusst sein, dafi der ganze Krieg Spiegelfechterei ist und entweder nicht stattfindet oder aus ganz anderen als den angeblichen Grunden ausgefochten wird: Aber dieses Wissen wird leicht durch die Anwendung des Doppeldenks neutralisiert. Mittlerweile schwankt kein Inneres Parteimitglied einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, dafi der Krieg echt ist und mit einem Sieg enden mufi, bei dem Ozeanien als der unbestrittene Beherrscher der ganzen Welt hervorgeht. Alle Mitglieder der Inneren Partei glauben an diese kommende Eroberung wie an einen Glaubensartikel. Sie wird entweder dadurch erreicht, dafi man langsam mehr und immer mehr Gebiete erobert und so eine erdruckende Machtuberlegenheit aufbaut, oder durch die Entdeckung einer neuen Waffe, gegen die es kein Abwehrmittel gibt. Die Suche nach neuen Waffen geht ununterbrochen weiter und ist eine der wenigen ubriggebliebenen Tatigkeiten, in denen der Erfinder- oder Forschergeist sich Luft machen kann. In Ozeanien hat heutigen Tages die Wissenschaft im althergebrachten Sinne fast aufgehort zu existieren, denn die zu einer hoheren Kultur, Technologie und Zivilisation fahigen Volker zerfallen in immer schnellerem Mafie. Im Neusprech gibt es kein Wort fur »Wissenschaft«! Die empirische Denkweise, auf der alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit fufiten, widerspricht den fundamentalsten Prinzipien von Engsoz. Und sogar ein technologischer Fortschritt wird nur erzielt, wenn seine Erzeugnisse in irgendeiner Weise zur Beschrankung der menschlichen Freiheit benutzt werden konnen. In alien nutzbringenden Kunsten steht die Welt entweder still oder macht sogar einen Riickschritt. Die Acker werden mit Pferdepflug bestellt, wahrend Bucher maschinell geschrieben werden. Aber in lebenswichtigen Dingen - womit in Wirklichkeit Krieg und Polizeibespitzelung gemeint sind - wird die 220 empirische Einstellung auch heute noch ermutigt oder wenigstens geduldet. Die beiden Ziele der Partei und der sie leitenden Hintergrundmachte sind, die ganze Erdoberflache zu erobern und ein fur allemal die Moglichkeit unabhangigen Denkens auszutilgen. Infolgedessen gibt es zwei grofie Probleme, deren Losung die Partei anstrebt. Das eine ist, die Gedanken eines anderen Menschen zu entdecken, ohne dafi er sich dagegen wehren kann. Und das andere besteht in der Auffindung eines Verfahrens zur Totung von mehreren hundert Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne vorhergehende Warnung. Soweit es noch wissenschaftliche Forschung gibt, ist dies ihr Hauptgegenstand. Der heutige Wissenschaftler ist entweder eine Mischung von Psychologe und Inquisitor, der mit ungewohnlicher Sorgfaltigkeit die Bedeutung von Gesichtsausdrucken, Gebarden und Stimmschwankungen studiert und die zu wahrheitsgemafien Aussagen zwingenden Wirkungen von Drogen, Schock-Therapie, Hypnose und korperlicher Folterung erprobt. Oder er ist ein Chemiker, Physiker oder Biologe, der sich nur mit solchen Fragen seines Spezialfaches beschaftigt, die auf die Vernichtung des Lebens Bezug haben. In den ausgedehnten Laboratorien des Friedensministeriums und den grofien, in den brasilianischen Waldern oder der australischen Wuste oder auf den abgelegenen Inseln der Antarktis verborgenen Versuchsstationen sind Gruppen von Fachleuten unermudlich am Werk. Manche sind lediglich mit der Bewegungs-, Unterbringungs- und Verpflegungskunde zukunftiger Kriege beschaftigt. Andere dagegen erfinden grofiere und immer grofiere Raketengeschosse, Explosivstoffe von immer verheerenderer Wirkung und immer undurchdringlicherer Panzerung. Wieder andere suchen nach neuen und todlicheren Gasen oder auflosbaren Giften, die in solchen Mengen produziert werden konnen, um damit die Vegetation ganzer Kontinente zu 221 vernichten, oder nach Krankheitsbakterien, gegen die es kein immun machendes Gegenmittel gibt. Andere bemuhen sich, ein Fahrzeug zu konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot unter Wasser fortbewegt, oder ein Flugzeug, das von seinem Stutzpunkt so unabhangig ist wie ein Segelschiff . Andere erforschen sogar noch ferner liegende Moglichkeiten, wie zum Beispiel die Sonnenstrahlen in Tausende von Kilometern im Raum entfernt aufgehangten Linsen zu sammeln, oder durch Anzapfen des gluhenden Erdinneren kunstliche Erdbeben und Flutwellen hervorzurufen. Aber keines dieser Projekte kommt jemals der Verwirklichung nahe, und keiner der drei Superstaaten erlangt jemals ein bedeutendes Ubergewicht tiber die anderen. Noch bemerkenswerter ist, dafi alle drei Machte in der Atombombe bereits eine weit gewaltigere Waffe besitzen, als einer ihrer derzeitigen Versuche jemals hervorzubringen verspricht. Wenn auch die Partei gemafi ihrer Gewohnheit die Erfindung fur sich in Anspruch nimmt, so traten die Atombomben bereits in den Jahren nach 1940 erstmalig in Erscheinung und wurden zum erstenmal in grofiem Umfang etwa zehn Jahre spater angewendet. Zu der Zeit wurden einige hundert Bomben auf Industriezentren, hauptsachlich im europaischen Rufiland, Westeuropa und Nordamerika abgeworfen. Die dadurch erzielte Wirkung war, dafi die fuhrenden Krafte hinter den drei Superstaaten zu der Uberzeugung gelangten, ein paar Atombomben mehr wurden das Ende jeder geordneten Gesellschaft und damit ihrer eigenen Macht bedeuten. Danach wurden, obwohl nie ein formelles Abkommen getroffen oder angedeutet wurde, keine Atombomben mehr abgeworfen. Alle drei Machte fahren lediglich fort, Atombomben herzustellen und sie fur die entscheidende Gelegenheit aufzuspeichern, von der sie alle glauben, dafi sie fruher oder spater kommen wird. Und inzwischen ist die Kriegskunst dreifiig oder vierzig Jahre so gut wie zum Stillstand gekommen. Helikopter werden mehr benutzt als fruher, Bombenflugzeuge wurden grofitenteils durch 222 selbstgesteuerte Geschosse ersetzt, und das leicht verwundbare bewegliche Schlachtschiff ist der nahezu unversenkbaren Schwimmenden Festung gewichen; aber sonst hat sich wenig weiterentwickelt. Der Tank, das Unterseeboot, das Torpedo, das Maschinengewehr, sogar das gewohnliche Gewehr und die Handgranate sind noch immer im Gebrauch. Und ungeachtet der endlosen in der Presse und durch den Televisor gemeldeten Gemetzel fanden die verzweifelten Schlachten fruherer Kriege, in denen oft sogar in ein paar Wochen Hunderttausende oder sogar Millionen von Menschen getotet wurden, nie eine Wiederholung. Keiner der drei Superstaaten unternimmt je eine Kriegshandlung, die das Gefahrenmoment einer ernsten Niederlage in sich schliefit. Wenn eine grofie Kriegshandlung unternommen wird, so handelt es sich gewohnlich um einen Uberraschungsangriff gegen einen Verbundeten. Die Strategic, die alle drei Machte verfolgen oder zu verfolgen glauben, ist die gleiche. Sie zielt darauf ab, sich durch ein Zusammenwirken von Kampfhandlungen, Verhandeln und zeitlich wohlberechnetem Verrat einen Ring von Stutzpunkten zu schaffen, der den einen oder anderen der rivalisierenden Staaten vollkommen einkreist, und dann mit diesem Rivalen einen Freundschaftspakt zu schliefien und so viele Jahre friedliche Beziehungen mit ihm zu unterhalten, dafi jeder Argwohn einschlaft. Wahrend dieser Zeit konnen mit Atombomben geladene Raketengeschosse an alien strategisch wichtigen Punkten gehortet werden; am Schlufi werden sie alle gleichzeitig mit so verheerender Wirkung abgeschossen, dafi eine Wiedervergeltung unmoglich gemacht ist. Dann ist es Zeit, mit der ubriggebliebenen Weltmacht in Vorbereitung eines neuen Angriffs einen Freundschaftspakt zu schliefien. Dieses Schema ist, wie kaum gesagt zu werden braucht, ein unmoglich zu verwirklichender Wunschtraum. Aufierdem kommt es nie zu Kampfhandlungen, aufier in den um den Aquator und den Pol gelegenen umstrittenen Gebieten: nie wird ein Einfall in feindliches Gebiet unternommen. Das erklart 223 die Tatsache, dafi an manchen Stellen die Grenzen zwischen den Superstaaten willkurlich gezogen sind. Eurasien zum Beispiel konnte leicht die Britischen Inseln, die geographisch einen Bestandteil Europas bilden, erobern. Oder andererseits ware es fur Ozeanien moglich, seine Grenzen bis zum Rhein oder sogar bis zur Weichsel vorzuschieben. Doch das wurde das System aus dem Gleichgewicht bringen, denn inzwischen haben sich die drei Superstaaten, deren fuhrende Gruppen in einem schwankenden Verhaltnis von heimlicher Zusammenarbeit und offener Rivalitat stehen, mit der Pattsituation abgefunden und zugleich erkannt, das sie notwendig ist, um ihre Macht im Inneren aufrecht zu erhalten. Und noch eine Tatsache kommt hinzu, namlich jene, dafi die Lebensbedingungen in alien drei Superstaaten fast genau die gleichen sind. In Ozeanien wird die herrschende Weltanschauung als Engsoz bezeichnet, in Eurasien heifit sie Neo-Bolschewismus, und in Ostasien wird sie durch ein chinesisches Wort ausgedruckt, das gewohnlich mit Sterbekult ubersetzt, vielleicht aber treffender mit Ausloschung des eigenen Ichs wiedergegeben wird. Vor allem die bolschewistischen Beherrscher Eurasiens und die fuhrenden Krafte Ozeaniens kommen aus der gleichen Wurzel, wenn sie heute auch Rivalen im Kampf um die Weltmacht sind. Der einfache Bewohner Ozeaniens darf hingegen nichts von den Grundsatzen der beiden anderen Lebensanschauungen wissen, wird aber gelehrt, sie als barbarische Verstofie gegen Moral und gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. In Wirklichkeit sind die drei Lebensanschauungen kaum voneinander unterscheidbar, und die gesellschaftlichen Einrichtungen, zu deren Stutze sie dienen, unterscheiden sich uberhaupt in keiner Weise. Uberall findet sich der gleiche pyramidenformige Aufbau, die gleiche Verehrung eines halbgottlichen Scheinperson, die gleichen, durch und fur dauernde Kriegfuhrung vorgenommenen Sparmafinahmen. 224 Daraus folgt, dafi die drei Superstaaten nicht nur einander nicht uberwinden konnen, sondern auch keinen Vorteil davon hatten. Im Gegenteil, solange sie in gespanntem Verhaltnis zueinander stehen, stutzen sie sich gegenseitig wie drei aneinander gelehnte Getreidegarben. Und wie gewohnlich, sind sich die herrschenden Gruppen aller drei Machte dessen, was sie tun, gleichzeitig bewusst und nicht bewusst. Ihr Leben ist der Welteroberung gewidmet, sie wissen aber auch, dafi es notwendig ist, dafi der Krieg ewig und ohne Endsieg fortdauert. Inzwischen macht die Tatsache, dafi keine Gefahr einer Eroberung besteht, die Verleugnung der Wirklichkeit moglich, die eines der besonderen Merkmale von Engsoz und seinen rivalisierenden Denksystemen ist. Hier mufi das bereits fruher Gesagte wiederholt werden, wonach der Krieg dadurch, dafi er zu einem Dauerzustand wurde, seinen Charakter grundlegend geandert hat. In fruheren Zeiten war ein Krieg fast seiner Definition nach schon etwas, das fruher oder spater zu einem Ende kam, gewohnlich in Form eines klaren Sieges oder einer ebensolchen Niederlage. Auch war in der Vergangenheit der Krieg eines der Hauptmittel, um die Verbindung der menschlichen Gesellschaften mit der gegebenen Wirklichkeit aufrechtzuerhalten. Alle Machthaber in alien Zeitaltern haben stets versucht, ihren Anhangern ihre Weltbilder einzuimpfen, aber sie konnten es sich nicht leisten, eine Illusion zu ermutigen, die dazu angetan war, die militarische Starke zu beeintrachtigen. Solange eine Niederlage gleichbedeutend war mit Verlust der Unabhangigkeit oder ein anderes unerwunschtes Ergebnis im Gefolge hatte, mufite man ernstliche Vorkehrungen gegen eine Niederlage treffen. Greifbare Tatsachen konnten nicht aufier Acht gelassen werden. In Philosophic Religion, Ethik und Politik mochten wohl zwei plus zwei gleich ftinf sein, aber wenn es sich um die Konstruktion eines Gewehrs oder eines Flugzeugs handelte, dann mufite es gleich vier sein. Untuchtige Nationen wurden immer fruher oder 225 spater vernichtet, und der Kampf um die Leistungsfahigkeit erlaubte keine Illusionen. Aufierdem mufite man, um leistungsfahig zu sein, aus der Vergangenheit lernen konnen, was bedeutet, dafi man eine ziemlich genaue Vorstellung von dem haben mufite, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Zeitungen und Geschichtsbucher waren freilich immer gefarbt und einseitig, aber Falschungen von der heute ublichen Art waren unmoglich gewesen. Der Krieg war eine sichere Burgschaft fur Vernunft, und was die herrschenden Klassen betrifft, vielleicht das wichtigste aller Schutzmittel. Solange Kriege gewonnen oder verloren werden konnten, konnte keine Klasse ganz verantwortungslos sein. Aber wenn der Krieg buchstablich ein Dauerzustand wird, dann hort er auch auf, gefahrlich zu sein. Wenn Krieg ein Dauerzustand ist, dann gibt es so etwas wie eine militarische Notwendigkeit nicht mehr. Technischer Fortschritt kann aufhoren, und die offenkundigsten Tatsachen konnen geleugnet oder aufier Acht gelassen werden. Wie wir gesehen haben, werden fur Kriegszwecke zwar noch Forschungen angestellt, die man als wissenschaftlich bezeichnen konnte, aber in der Hauptsache handelt es sich dabei um Phantasiegespinste, und die Tatsache, dafi sie kein Resultat zeitigen, ist unwichtig. Leistungsfahigkeit, sogar militarische Leistungsfahigkeit, ist nicht mehr notwendig. Nichts in Ozeanien ist leistungsfahig aufier der Gedankenpolizei. Da jeder der drei Superstaaten uneinnehmbar ist, stellt jeder von ihnen im Effekt eine Welt fur sich dar, in der fast jede Gedankenverdrehung ungestraft begangen werden kann. Die Wirklichkeit macht sich nur durch den Druck der Alltagserfordernisse bemerkbar - die Notwendigkeit zu essen und zu trinken, zu wohnen und sich zu kleiden, es zu vermeiden, Gift zu schlucken oder aus einem Dachfenster hinauszusteigen, und dergleichen. Zwischen Leben und Tod und zwischen korperlichem Wohlbehagen und korperlichem Schmerz besteht wohl noch ein Unterschied, aber das ist auch alles. Abgeschnitten 226 von der Beruhrung mit der Aufienwelt und der Vergangenheit, gleicht der Burger Ozeaniens einem Menschen im interplanetarischen Raum, der keinen Anhaltspunkt hat, in welcher Richtung oben oder unten ist. Die Machthaber eines solchen Staates sind so absolut, wie es die Pharaonen oder Caesaren nicht sein konnten. Sie mussen verhindern, dafi ihre Anhanger in einer Zahl verhungern, die grofi genug ist, um unbequem zu werden, und dafur Sorge tragen, dafi sie auf dem gleichen Tiefstand militarischer Technik stehen bleiben wie ihre Rivalen. Sind aber erst einmal diese Minimalforderungen erfullt, dann konnen sie der Wirklichkeit jede von ihnen gewunschte Gestalt geben. Der Krieg ist demnach, wenn wir nach den Mafistaben fruherer Kriege urteilen, lediglich ein Schwindel. Es ist das gleiche wie die Kampfe zwischen gewissen Wiederkauern, deren Horner in einem solchen Winkel gewachsen sind, dafi sie einander nicht verletzen konnen. Wenn er aber auch nur ein Scheingefecht ist, so ist er doch nicht zwecklos. Durch ihn wird der Uberschuss von Gebrauchsgutern verbraucht, und er hilft die besondere geistige Atmosphare aufrechtzuerhalten, die die Machtigen benotigen, um unangetastet zu bleiben. Der Krieg ist jetzt, wie man sehen wird, eine rein innenpolitische Angelegenheit. In der Vergangenheit kampften Gruppen oder Nationen, wenn sie auch ihr gemeinsames Interesse erkennen und deshalb die Zerstorungswirkung des Krieges beschranken mochten, doch eine gegen die andere, und immer brandschatzte der Sieger den Besiegten. Heutzutage kampfen sie uberhaupt nicht gegeneinander. Der Krieg wird von jeder herrschenden Gruppe gegen ihre eigenen Anhanger gefuhrt, und das Kriegsziel ist nicht, Gebietseroberungen zu machen oder zu verhindern, sondern die von ihnen beherrschten Massen weiterhin unter Kontrolle zu haben. 227 Inf olgedessen ist schon das Wort »Krieg« irrefuhrend geworden. Es ware vermutlich richtig zu sagen, der Krieg habe dadurch, dafi er ein Dauerzustand wurde, aufgehort zu existieren. Der charakteristische Druck, den er zwischen dem spateren Steinzeitalter und dem anfanglichen zwanzigsten Jahrhundert auf die Menschen ausgeubt hat, ist verschwunden und wurde durch etwas ganz anderes ersetzt. Die Wirkung ware die gleiche, wenn die drei Superstaaten, anstatt einander zu bekampfen, ubereinkamen, in dauerndem Friedenszustand zu leben, wobei jeder Block sein Territorium erhalt und die dort herrschenden Gruppen weiterhin an der Macht bleiben. Denn in diesem Falle ware jeder Superstaat eine in sich abgeschlossene Welt, fur immer von dem hemmenden Einflufi einer von aufien drohenden Gefahr befreit, wahrend die herrschenden Krafte der Blocke zugleich die Volker der Erde zusammen beherrschen wiirden. Ein wirklich dauerhafter Friede ware das gleiche wie dauernder Krieg. Das ist - wenn auch die grofie Mehrheit der Parteimitglieder es nur in einem seichteren Sinne versteht - der tiefere Sinn des Parteischlagwortes: Krieg bedeutet Frieden. Winston unterbrach einen Augenblick seine Lektiire. Irgendwo in weiter Feme donnerte eine Raketenbombe. Das Glucksgefuhl, mit dem verbotenen Buch allein in einem Zimmer zu sein, in dem es keinen Televisor gab, hatte ihn noch nicht verlassen. Einsamkeit und Geborgenheit waren Wohltaten, die sich irgendwie mit der Mudigkeit seines Korpers, der Weichheit des Stuhles, dem durchs Fenster kommenden leisen Luftzug, der seine Wange streichelte, vermischten. Das Buch fesselte oder, genauer gesagt, beruhigte ihn. In gewissem Sinne sagte es ihm nichts Neues, aber das gehorte zu seinem besonderen Reiz. Es schilderte, was auch er gesagt hatte, wenn er seine wirren Gedanken hatte ordnen konnen. Es war das Produkt eines Geistes, der dem seinigen ahnelte, nur dafi er viel, viel starker, systematischer und weniger verangstigt war. Die besten Bucher, erkannte er, sind die, welche 228 einem vor Augen fuhren, was man bereits weifi. Er hatte gerade zum ersten Kapitel zuruckgeblattert, als er Julias Schritte auf der Treppe horte und von seinem Stuhl aufsprang, um sie zu empfangen. Sie stellte ihre braune Werkzeugtasche auf den Boden ab und warf sich in seine Arme. Es war mehr als eine Woche her, seitdem sie einander zuletzt gesehen hatten. »Ich habe das Buch«, sagte er, als sie sich voneinander freimachten. »So, hast du's? Schon«, sagte sie ohne viel Interesse und kniete fast sogleich neben dem Petroleumkocher nieder, um Kaffee zu machen. Sie kamen erst wieder auf das Thema zuruck, als sie bereits eine halbe Stunde im Bett lagen. Der Abend war gerade ktihl genug, dafi es sich lohnte, die Steppdecken hochzuziehen. Von drunten erschallte der vertraute Gesang und das Scharren von Schuhen auf den Steinplatten. Die muskulose Frau mit den roten Armen, die Winston bei seinem ersten Besuch dort gesehen hatte, war fast ein Inventarstuck des Hofes. Es schien keine Tagesstunde zu geben, zu der sie nicht zwischen Waschzuber und Wascheleine hin und her ging, wobei sie sich abwechselnd mit Wascheklammern den Mund vollstopfte und schmalzige Lieder anstimmte. Julia hatte sich auf die Seite gekuschelt und schien bereits im Begriff einzuschlafen. Er griff nach dem Buch, das auf dem Fufiboden lag, und setzte sich, gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt, auf. »Wir mussen es lesen«, sagte er. »Du auch. Alle Mitglieder der Briiderschaft mussen es lesen.« »Lies du es«, sagte sie mit geschlossenen Augen. »Lies es laut vor. Das ist die beste Methode. Dann kannst du es mir gleich dabei erklaren.« Die Uhrzeiger deuteten auf sechs, was soviel hiefi wie achtzehn Uhr. Sie hatten noch drei oder vier Stunden vor sich. Er stutzte das Buch gegen seine Knie und begann zu lesen: 229 1. Kapitel Unwissenheit ist Starke Seit Beginn der geschichtlichen Uberlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt gemafi der kollektivistischen Ideologic drei soziale Gruppen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, fuhrten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhaltnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwalzungen und scheinbar unwiderruflichen Veranderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt. . . »Julia, bist du noch wach?« fragte Winston. »Ja, Liebster, ich hore. Lies weiter. Es ist wundervoll.« Er fuhr zu lesen fort: Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar. Das Ziel der Oberen ist, sich da zu behaupten, wo sie sind. Das der Mittelklasse, mit den Oberen den Platz zu tauschen. Das der Unteren, wenn sie uberhaupt ein Ziel haben - denn es ist ein bleibendes Charakteristikum der Unteren, dafi sie durch die Miihsal zu zermurbt sind, um etwas anderes als hin und wieder ihr Alltagsleben ins Bewusstsein dringen zu lassen -, besteht darin, alle Unterschiede abzuschaffen und eine Gesellschaft ins Leben zu rufen, in der alle Menschen „gleich" sind. So wiederholt sich die ganze Geschichte hindurch ein in seinen Grundlinien gleicher Kampf wieder und immer wieder. Wahrend langen Zeitspannen scheinen die Oberen sicher an der Macht zu sein, aber fruher oder spater kommt immer ein Augenblick, in dem sie entweder ihren Selbstglauben oder ihre Fahigkeit, streng zu regieren, oder beides verlieren. Dann werden sie von den Angehorigen der Mittelklasse gesturzt, die die Unteren auf ihre Seite Ziehen, indem sie ihnen vormachen, fur Freiheit und 230 Gerechtigkeit zu kampfen. Sobald sie ihr Ziel erreicht haben, drangen die Angehorigen der Mittelklasse die Unteren wieder in ihre alte Knechtschaftsstellung zuruck, und sie selber werden die Oberen. Bald darauf spaltet sich von einer der anderen Gruppen oder von beiden eine neue Mittelgruppe ab, und der Kampf beginnt wieder von vorne. Von den drei Gruppen gelingt es nur den Unteren nie, auch nur zeitweise ihre Ziele zu erreichen. Es ware eine Ubertreibung, zu sagen, dafi im Verlauf der Geschichte kein materieller Fortschritt erzielt worden sei. Sogar heutzutage, in einer Periode des Niedergangs, ist der Durchschnittsmensch physisch besser daran, als er es vor ein paar Jahrhunderten war. Aber keine Steigerung des Wohlstandes, keine Milderung der Sitten, keine Reform oder Revolution hat die Gleichheit der Menschen jemals auch nur um einen Millimeter nahergebracht. Vom Gesichtspunkt der Unteren aus hat kein geschichtlicher Wandel jemals viel anderes bedeutet als eine Anderung der Namen ihrer Herren. So war es auch im Falle der kollektivistischen Revolution, in deren Verlauf der Superstaat Ozeanien erst entstanden ist. Waren die heute herrschenden Krafte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den ehemaligen Vereinigten Staaten, England und in den meisten Staaten Europas im Besitz der Geldmacht und der Presse, so waren auch sie es, die letztendlich die kollektivistische Revolution durchfuhrten und finanzierten. Sie brachten sich damit vollstandig in den Besitz aller materiellen Guter und Rohstoffe der wichtigsten Nationen der Erde und begannen nun diese diktatorisch zu beherrschen. Die Auflosung aller Traditionen, Kulturen und Volker ist eine bereits seit langem geplante Folge der kollektivistischen Revolution. In der Vergangenheit war die Notwendigkeit einer hierarchischen Gesellschaftsform bereits die von den Oberen vertretene Doktrin gewesen. Sie war von Konigen, Adeligen und Priestern, den mit der Rechtsprechung Betrauten und ahnlichen Leuten, die von ihnen schmarotzten, gepredigt und gewohnlich durch Versprechungen einer Vergeltung in einer imaginaren 231 Welt jenseits des Grabes schmackhafter gemacht worden. Die Mitte hatte immer, solange sie um die Macht kampfte, Parolen wie Freiheit, Gleichheit und Bruderlichkeit im Munde gefuhrt. Jetzt jedoch begann die Auffassung menschlicher Bruderlichkeit einer Kritik von Menschen unterzogen zu werden, die noch keine herrschende Stellung innehatten, sondern lediglich hofften, bald soweit zu sein. In der Vergangenheit hatte die Mitte Revolutionen unter dem Banner der Gleichheit gemacht und dann eine neue Tyrannei aufgerichtet, sobald die alte gesturzt war. Die neuen Mittelgruppen proklamierten ihre Tyrannei im Voraus. Diese unzufriedene Mitte wurde jedoch schon von Beginn an von den im Hintergrund herrschenden Kraften instrumentalisiert und zur Revolution angestachelt. Der Sozialismus, eine Theorie, die anfangs des neunzehnten Jahrhunderts auftauchte und das letzte Glied einer Gedankenkette war, die zu den Sklavenaufstanden des Altertums zuruckreichte, war noch heftig von dem Utopismus vergangener Zeitalter infiziert. Aber in jeder von 1900 an sich geltend machenden Spielart von Sozialismus wurde das Ziel, „Freiheit und Gleichheit" einzusetzen, immer unumwundener aufgegeben. Die neuen Bewegungen, die um die Mitte des Jahrhunderts auftauchten, namlich Engsoz in Ozeanien, Neo-Bolschewismus in Eurasien, Sterbekult, wie er gewohnlich bezeichnet wird, in Ostasien, setzten es sich bewufit zum Ziel, Unfreiheit und Ungleichheit zu einem Dauerzustand zu machen. Diese neuen Bewegungen gingen naturlich aus den alten hervor und neigten dazu, deren Namen beizubehalten und ihren Ideologien Lippenlob zu zollen. Aber alle zielten darauf ab, dem Fortschritt Einhalt zu gebieten und die Geschichte in einem entsprechenden Augenblick fur immer zum Stillstand zu bringen. Das ubliche Ausschlagen des Pendels sollte noch einmal vor sich gehen, und dann sollte es stehen bleiben. Wie gewohnlich sollten die Oberen von den Mittleren verdrangt werden, die damit die Oberen wurden. Aber diesmal wurden die 232 Oberen durch eine bewusste Strategic imstande sein, ihre Stellung fur immer zu behaupten. Zudem standen hinter den Revolutionaren ja die im Hintergrund herrschenden Krafte der internationalen Finanz, so dass die Staatsoberhaupter, die ja auch schon vor der Revolution von jenen abhangig waren, in gewisser Hinsicht nur formal entmachtet wurden. Demnach hatte die durch die kollektivistische Revolution gefestigte und mit brutaler Gewalt verteidigte Stellung in Wahrheit die Aufgabe, den hinter den Revolutionaren stehenden Kraften die Herrschaft tiber die Volker dauerhaft zu sichern. Die neuen Lehren traten nun infolge der Anhaufung historischen Wissens und des zunehmenden Verstandnisses fur Geschichte, das es vor dem neunzehnten Jahrhundert kaum gegeben hatte, in Erscheinung. Die zyklische Bewegung der Geschichte war jetzt erkennbar oder schien es wenigstens zu sein. Und wenn sie erkennbar war, dann konnte man sie auch andern. Aber der hauptsachliche, tiefere Grund lag darin, dafi bereits anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts ein allgemein gleich hoher Wohlstand technisch moglich geworden war. Es ist jedoch eine bewiesene Tatsache, dafi die Menschen nicht „gleich" sind in ihren angeborenen Begabungen und dafi fur die Erfullung bestimmter Auf gaben eine Auswahl der von Natur aus Fahigen getroffen werden mufite, durch die einzelne gegenuber anderen bevorzugt wurden. Aber es bestand dennoch keine wirkliche Notwendigkeit mehr fur grofiere Besitzunterschiede. In fruheren Zeiten waren Besitzunterschiede nicht nur unvermeidbar, sondern sogar erwunscht gewesen. Ungleichheit war der Preis der Zivilisation. Mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktion anderte sich jedoch die Sachlage. Sogar wenn die Menschen noch die eine oder andere Arbeit selbst verrichten mufiten, so brauchten sie doch nicht mehr auf verschiedenen sozialen oder wirtschaftlichen Stufen zu stehen. Deshalb war vom Gesichtspunkt der neuen Gruppen, die im Begriff standen, die Macht zu ergreifen, Besitzgleichheit kein 233 erstrebenswertes Ideal mehr, sondern vielmehr eine Gefahr, die verhutet werden mufite. In primitiveren Zeitaltern, als eine gerechte und friedliche Gesellschaftsordnung tatsachlich nicht moglich war, war es ganz leicht gewesen, daran zu glauben. Die Vorstellung eines irdischen Paradieses, in dem die Menschen ohne Gesetze und ohne harte Arbeit in einem Verbruderungszustand leben sollten, hatte der menschlichen Phantasie Tausende von Jahren vorgeschwebt. Und diese Vision hatte sogar noch einen gewissen Einflufi auf jene Gruppen ausgeubt, die in Wirklichkeit aus jeder geschichtlichen Veranderung Vorteile zogen. Die Erben der franzosischen, englischen und amerikanischen Revolutionen hatten teilweise an ihre eigenen Phrasen von „Menschenrechten", „freier Meinungsaufierung", „Gleichheit vor dem Gesetz" und dergleichen mehr geglaubt und hatten sogar ihr Verhalten bis zu einem gewissen Grade davon beeinflussen lassen. Das irdische Paradies war genau in dem Augenblick in Mifikredit geraten, in dem es sich verwirklichen liefi, wobei die treibenden Krafte der Weltpolitik naturlich niemals selbst an diese Parolen geglaubt hatten und sie lediglich dazu benutzten, um revolutionare Unruhen zu schuren und ihre eigene totale Herrschaft uber die Volker aufzurichten. Jede neue politische Theorie, wie immer sie sich nannte, fuhrte schliefilich zu Klassenherrschaft und Reglementierung. Und bei der ungefahr um das Jahr 1930 einsetzenden Vergroberung der moralischen Auffassung wurden Praktiken, die seit langem aufgegeben worden waren, in manchen Fallen seit Hunderten von Jahren - wie Inhaftierung ohne Gerichtsverhandlung, die Verwendung von Kriegsgefangenen als Arbeitssklaven, offentliche Hinrichtungen, Folterung zur Erpressung von Gestandnissen, das Gefangennehmen von Geiseln und die Deportation ganzer Bevolkerungsteile -, nicht nur wieder allgemein, sondern auch von Menschen geduldet und sogar verteidigt, die sich fur aufgeklart und f ortschrittlich hielten. 234 Erst nach einem Jahrzehnt der Burgerkriege, Revolutionen und Gegenrevolutionen in alien Teilen der Welt traten Engsoz und seine Rivalen als sich voll auswirkende politische Doktrinen hervor. Welche Gruppe in dieser Welt fortan die Macht ausuben sollte, war gleicherweise offensichtlich gewesen. Die neue Herrenschicht setzte sich zum grofiten Teil aus Burokraten, Wissenschaftlern, Technikern, Gewerkschaftsfunktionaren, Propagandafachleuten, Soziologen, Lehrern, Journalisten und Berufspolitikern zusammen, die als Verwalter und Handlanger der hinter ihnen stehenden wirklichen Fadenzieher der Weltpolitik fungierten. Diese Menschen, die aus dem Lohn empfangenden Mittelstand und der gehobenen Arbeiterschaft stammten, waren durch die durre Welt der Monopol-Industrie und das gesellschaftliche Chaos zusammengefuhrt worden. Mit ihren Gegenstucken in fruheren Generationen verglichen, waren sie weniger besitzgierig, weniger auf Luxus versessen, mehr nach blofier Macht hungrig, und vor allem sich ihres Handelns mehr bewufit und mehr darauf bedacht, die Opposition zu vernichten. Dieser letztere Unterschied war grundlegend. Im Vergleich mit der heute herrschenden waren alle Tyranneien der Vergangenheit lau und unwirksam. Die herrschenden Gruppen waren immer bis zu einem gewissen Grade von liberalen Ideen infiziert und damit zufrieden gewesen, uberall ein Hinterturchen often zu lassen, um nur die offenkundige Tat ins Auge zu fassen und sich nicht darum zu kummern, was ihre Untertanen dachten. Sogar die katholische Kirche des Mittelalters war, nach neuzeitlichen Mafistaben gemessen, duldsam. Ein teilweiser Grund hierfur war, dafi in der Vergangenheit keine Regierung die Macht besafi, ihre Burger unter dauernder Uberwachung zu halten. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte es jedoch leichter, die offentliche Meinung zu beeinflussen, und Film und Radio forderten diesen Prozefi noch weiter. Mit der Entwicklung des Fernsehens und bei dem technischen Fortschritt, der es ermoglichte, mit Hilfe 235 desselben Instruments gleichzeitig zu empfangen und zu senden, war das Privatleben zu Ende. Jeder Burger oder wenigstens jeder Burger, der wichtig genug war, um einer Uberwachung fur wert befunden zu werden, konnte vierundzwanzig Stunden des Tages den Argusaugen der Polizei und dem Getrommel der amtlichen Propaganda ausgesetzt gehalten werden, wahrend ihm zugleich alle anderen Informationsquellen verschlossen blieben. Jetzt, zum ersten Mai, bestand die Moglichkeit, alien Untertanen nicht nur vollkommenen Gehorsam gegenuber dem Willen des Staates, sondern auch vollkommene Meinungsgleichheit aufzuzwingen. Nach der revolutionaren Periode der funfziger und sechziger Jahre gruppierte sich die menschliche Gesellschaft wie immer wieder in eine Ober-, eine Mittel- und eine Unterschicht. Aber die neue Oberschicht handelte anders als ihre Vorlaufer, nicht aus dem Instinkt heraus, sondern wufite, was notig war, um ihre Stellung zu behaupten. Man war seit langem dahintergekommen, dafi die einzig sichere Grundlage einer Oligarchic im Kollektivismus besteht. Wohlstand und Vorrechte werden am leichtesten verteidigt, wenn sie Gemeinbesitz sind. Die sogenannte »Abschaffung des Privateigentums«, die um die Mitte des Jahrhunderts vor sich ging, bedeutete in der Auswirkung die Konzentration alien Besitzes in den Handen genau jener, die die Revolution bereits vorbereitet, finanziert und durchgefuhrt hatten. Als einzelnem gehort keinem Parteimitglied etwas, aufier seiner unbedeutenden personlichen Habe. Kollektiv gehort in Ozeanien der Partei alles, da sie alles kontrolliert und tiber die Erzeugnisse nach Gutdunken verfugt. In den auf die Revolution folgenden Jahren konnte sie nahezu widerstandslos diese beherrschende Stellung einnehmen, da das ganze Verfahren als eine Kollektivhandlung hingestellt wurde. Man hatte immer angenommen, dafi nach der Enteignung der Kapitalistenklasse der Sozialismus nachfolgen musse: Und die Kapitalisten waren fraglos enteignet worden. Fabriken, Bergwerke, Land, Hauser, 236 Transportmittel - alles war ihnen weggenommen worden: und da diese Dinge nicht mehr Privateigentum waren, folgte, dafi sie offentlicher Besitz sein mufiten. Engsoz, der aus der fruheren sozialistischen Bewegung hervorging und das Erbe ihrer Phraseologie antrat, hat in der Tat den Hauptpunkt des sozialistischen Programms zur Durchfuhrung gebracht, mit dem vorhergesehenen und gewunschten Ergebnis, dafi wirtschaftliche Ungleichheit zu einem Dauerzustand wurde. Aber die Probleme, eine derartige Gesellschaftsordnung fur immer einzusetzen, liegen tiefer. Es gibt nur vier Moglichkeiten, auf die eine herrschende Gruppe der Macht verlustig gehen kann. Entweder wird sie von aufien uberwunden; oder sie regiert so ungeschickt, dafi die Massen zu einer Erhebung aufgeruttelt werden; oder sie lafit eine starke und unzufriedene Mittelschicht aufkommen; oder aber sie verliert ihr Selbstvertrauen und die Lust am Regieren. Diese Grunde wirken nicht vereinzelt, und in der Regel sind alle vier von ihnen in gewissem Grade vorhanden. Eine herrschende Gruppe, die sich gegen sie alle schutzen konnte, bliebe dauernd an der Macht. Letzten Endes ist der entscheidende Faktor die geistige Einstellung der herrschenden Gruppe selbst. Nach Mitte des gegenwartigen Jahrhunderts war die erste Gefahr in Wirklichkeit verschwunden. Jede der drei Machte, die sich heute in die Welt teilen, ist faktisch unuberwindlich und konnte nur durch langsame Anderungen in der Zusammensetzung ihrer Bevolkerung, die eine Regierung mit weitgehender Macht leicht abwenden kann, uberwindlich gemacht werden. Die zweite Gefahr ist ebenfalls nur eine theoretische. Die Massen revoltieren niemals aus sich selbst heraus und lehnen sich nie nur deshalb auf, weil sie unterdruckt werden. Tatsachlich werden sie sich, solange man ihnen keine Vergleichsmafistabe zu haben erlaubt, uberhaupt nie auch nur bewufit, dafi sie unterdruckt sind. Die immer wiederkehrenden Wirtschaftskrisen vergangener Zeiten waren vollstandig unnotig und durfen jetzt nicht eintreten, aber andere und ebenso grundlegende Verschiebungen 237 konnen eintreten und treten ein, ohne politische Folgen zu haben, denn es gibt keinen Weg, auf dem sich die Unzufriedenheit laut aufiern konnte. Was das Problem der Uberproduktion anbelangt, das in unserer Gesellschaftsordnung seit der Entwicklung der Maschinentechnik latent war, so ist es durch den Kunstgriff dauernder Kriegfuhrung gelost worden (siehe drittes Kapitel), die sich auch als nutzlich erweist, um die allgemeine Moral zur notigen Hochstimmung anzufeuern. Daher besteht von dem Gesichtspunkt unserer gegenwartigen Machthaber aus die einzige wirkliche Gefahr in der Abspaltung einer neuen Gruppe von begabten, nicht genugend ausgefullten, machthungrigen Menschen und dem Zunehmen von Freiheitsdrang und Skeptizismus in ihren eigenen Reihen. Das Problem ist daher sozusagen erzieherischer Natur. Es besteht darin, dauernd das Denken sowohl der leitenden Gruppe als auch der grofieren, unmittelbar nach ihr folgenden ausfuhrenden Gruppe zu formen. Das Denken der Massen braucht nur in negativer Weise beeinf lusst zu werden. Wenn man diesen Hintergrund kennt, so konnte man sich, wenn es einem nicht schon bekannt ware, das Aussehen der allgemeinen Struktur der Gesellschaft Ozeaniens zusammenreimen. An der Spitze der Pyramide steht der Grofie Bruder, wobei er gleichzeitig symbolisch fur die im Hintergrund herrschenden Krafte steht. Der Grofie Bruder ist unfehlbar und allmachtig. Jeder Erfolg, jede Leistung, jeder Sieg, jede wissenschaftliche Entdeckung, alles Wissen, alle Weisheit, alles Gluck, alle Tugend werden unmittelbar seiner Fuhrerschaft und Eingebung zugeschrieben. Niemand hat je den Grofien Bruder gesehen. Er ist ein Gesicht an den Litfasssaulen, eine Stimme am Televisor. Wir konnen billigerweise sicher sein, dafi er nie sterben wird, und es besteht bereits betrachtliche Unsicherheit in bezug auf das Datum seiner Geburt. Der Grofie Bruder ist die Vermummung, in der die Partei vor die Welt zu treten beschliefit. Seine Funktion besteht darin, als Sammelpunkt fur Liebe, Furcht und Verehrung 238 zu dienen, Gefuhle, die leichter einem einzelnen Menschen als einer Organisation entgegengebracht werden. Nach dem Grofien Bruder kommt die Innere Partei, die ihrer Zahl nach nur sechs Millionen Mitglieder oder etwas weniger als zwei Prozent der Bevolkerung Ozeaniens umfafit. Nach der Inneren Partei kommt die Aufiere Partei, die, wenn man die Innere Partei als das Gehirn des Staates bezeichnet, berechtigterweise mit dessen Handen verglichen wird. Danach kommen die dumpfen Massen, die wir gewohnlich als »die Proles« bezeichnen, der Zahl nach ungefahr funfundachtzig Prozent der Bevolkerung. In der Bezeichnung unserer fruheren Klassifizierung sind die Proles die Unterschicht; denn die Sklavenbevolkerung der aquatorialen Lander, die standig von einem Eroberer zum anderen wechseln, ist kein dauernder und notwendiger Teil der Struktur. Die Proles selbst sind ein in sich nicht einheitlicher Brei aus Individuen verschiedenster Herkunft, die kein testes kulturelles oder nationales Volksbewusstsein mehr haben und daher kaum fahig zu einem gemeinsamen Widerstand sind. Im Prinzip ist die Zugehorigkeit zu diesen drei Gruppen nicht erblich. Das Kind von Eltern, die zur Inneren Partei gehoren, ist in der Theorie nicht in die Innere Partei hineingeboren. Die Aufnahme in eine der beiden Gliederungen der Partei findet auf Grund einer im Alter von sechzehn Jahren abzulegenden Prufung statt. Auch gibt es dort keine Rassenunterschiede, so wenig wie eine ausgesprochene Vorherrschaft einer Provinz gegenuber einer anderen. Juden, Neger, Sudamerikaner von rein indianischem Geblut sind in den hochsten Stellen der Partei zu finden. Die Schaffung einer wurzellosen, dienenden Masse ohne Rassen-, Geschlechts- und Volkszugehorigkeit, wie auch ohne kulturelle Identitat, ist zudem das erklarte Ziel der Partei, denn die Uneinheitlichkeit der Masse ist stets gegenuber der starren Einheitlichkeit der ozeanischen Fuhrungsschicht im Nachteil. 239 In keinem Teil Ozeaniens haben die Bewohner das Gefuhl, eine von einer fernen Hauptstadt aus regierte Kolonialbevolkerung zu sein. Ozeanien hat keine Hauptstadt, und sein nominelles Oberhaupt ist ein Mensch, dessen Aufenthaltsort niemand kennt. Abgesehen davon, dafi Englisch seine Umgangssprache ist und Neusprech seine Amtssprache, ist es in keiner Weise zentralisiert. Seine wahren Machthaber bleiben immer die Gleichen, wahrend ihre direkten Diener, also die Angehorigen der Inneren und Aufieren Partei, durch ihre Ideologic fest verbunden sind. Demnach ist unsere Gesellschaft geschichtet, und zwar sehr streng geschichtet nach einer Ordnung, die auf den ersten Blick nach den Richtlinien der Vererbung ausgerichtet zu sein scheint. Es gibt weit weniger Hin und Her zwischen den verschiedenen Gruppen, als unter dem Kapitalismus oder sogar in den vorindustriellen Zeitaltern stattfand. Zwischen den beiden Gliederungen der Partei findet ein gewisser Austausch statt, aber nur gerade so viel, um zu gewahrleisten, dafi Schwachlinge aus der Inneren Partei ausgeschlossen und ehrgeizige Mitglieder der Aufieren Partei unschadlich gemacht werden dadurch, dafi man ihnen emporzusteigen erlaubt. Proletariern wird in der Praxis nicht gestattet, in die Partei aufzurucken. Die begabtesten unter ihnen, die moglicherweise einen Unruheherd schaffen konnten, werden ganz einfach von der Gedankenpolizei vorgemerkt und liquidiert. Aber dieser Stand der Dinge ist nicht notwendigerweise ein Dauerzustand, auch ist er kein Prinzip. Die Partei ist keine Klasse im althergebrachten Sinne des Wortes. Sie zielt nicht darauf ab, die Macht auf ihre eigenen Kinder als solche zu ubertragen; nur wenn es keinen anderen Weg gabe, die fahigsten Menschen an der Spitze zu halten, so ware sie durchaus bereit, eine ganz neue Generation aus den Reihen des Proletariats zu rekrutieren. In den kritischen Jahren trug die Tatsache, dafi die Partei keine erbliche Korperschaft war, viel zur Ausschaltung der Opposition bei. Ein Sozialist vom alten Geprage, der darauf gedrillt worden war, gegen etwas, das man »Klassenvorrechte« nannte, zu kampfen, 240 nahm an, was nicht erblich ist, konne auch nicht dauernd sein. Er erkannte nicht, dafi die Kontinuitat einer Oligarchic keine leibliche zu sein braucht, auch hielt er sich nicht mit der Uberlegung auf, dafi erbliche Adelsherrschaften immer kurzlebig waren, wahrend alien Menschen zugangliche Organisationen wie die katholische Kirche manchmal Hunderte oder Tausende von Jahren Bestand hatten. Das Wesentliche der oligarchischen Herrschaft ist nicht die Vererbung vom Vater auf den Sohn, sondern der Fortbestand einer gewissen Weltanschauung und einer gewissen Lebensweise, die von den Toten den Lebenden aufoktroyiert werden. Eine herrschende Gruppe ist so lange eine herrschende Gruppe, als sie ihre Nachfolger bestimmen kann. Der Partei geht es nicht darum, ewig ihr Blut, sondern sich selbst ewig zu behaupten. Wer die Macht ausubt, ist nicht wichtig, vorausgesetzt, dafi die hierarchische Struktur immer dieselbe bleibt. Alle fur unsere Zeit charakteristischen Uberzeugungen, Gewohnheiten, Geschmacksrichtungen, Meinungen, geistigen Einstellungen sind in Wirklichkeit dazu bestimmt, das Mystische der Partei aufrechtzuerhalten und zu verhindern, dafi die wahre Natur der heutigen Gesellschaftsordnung erkannt wird. Leibliche Auflehnung oder jeder auf Auflehnung abzielende Schritt ist gegenwartig nicht moglich. Von den Proletariern ist nichts zu befurchten. Sich selbst uberlassen, werden sie von Generation zu Generation und von Jahrhundert zu Jahrhundert fortfahren zu arbeiten, Kinder in die Welt zu setzen und zu sterben, nicht nur ohne jeden Antrieb, zu rebellieren, sondern ohne sich auch nur vorstellen zu konnen, dafi die Welt anders sein konnte, als sie ist. Zudem sind sie ein geistloser Brei ohne jede Art von Fuhrung. Sie konnten nur gefahrlich werden, wenn die fortschreitende Entwicklung der industriellen Technik es notwendig machen sollte, ihnen eine hohere Erziehung angedeihen zu lassen; aber da die militarische und merkantile Konkurrenz keine Bedeutung 241 mehr hat, ist das Niveau der offentlichen Erziehung im Sinken begriffen. Welche Ansichten die Massen vertreten oder nicht vertreten, wird als belanglos angesehen. Man darf ihnen getrost geistige Freiheit einraumen, denn sie haben keinen Geist. Andererseits kann bei einem Parteimitglied auch nicht die kleinste Meinungsabweichung in der unbedeutendsten Frage geduldet werden. Ein Angehoriger der Partei lebt von der Geburt bis zum Tode unter den Augen der Gedankenpolizei. Sogar wenn er allein ist, kann er nie sicher sein, ob er wirklich allein ist. Wo er auch sein mag, ob er schlaft oder wacht, arbeitet oder ausruht, in seinem Bad oder in seinem Bett liegt, kann er ohne Warnung und ohne zu wissen, dafi er beobachtet wird, beobachtet werden. Nichts, was er tut, ist gleichgultig. Seine Freundschaften, seine Zerstreuungen, sein Benehmen gegen seine Frau und seine Kinder, sein Gesichtsausdruck, wenn er allein ist, die von ihm im Schlaf gemurmelten Worte, sogar die ihm eigentumlichen Bewegungen seines Korpers, alles wird einer peinlich genauen Prufung unterzogen. Nicht nur jedes wirkliche Vergehen, sondern jede Schrullenhaftigkeit, sie mag noch so unbedeutend sein, jede Gewohnheitsanderung, jede nervose Absonderlichkeit, die moglicherweise das Symptom eines inneren Kampfes ist, konnen unweigerlich entdeckt werden. Er hat keine freie Wahl in keiner wie immer gearteten Hinsicht. Andererseits ist sein Verhalten weder gesetzlich noch durch klar formulierte Verhaltungsvorschriften geregelt. In Ozeanien gibt es kein Gesetz. Gedanken und Taten, die den sicheren Tod bedeuten, wenn sie entdeckt werden, sind nicht formell verboten, und die endlosen Sauberungsaktionen, Festnahmen, Folterungen, Einkerkerungen und Vaporisierungen werden nicht als Strafe fur wirklich begangene Verbrechen verhangt, sondern sind lediglich die Austilgung von Menschen, die vielleicht einmal in der Zukunft ein Verbrechen begehen konnten. Von einem Parteimitglied wird nicht nur verlangt, dafi es die richtigen Ansichten, sondern dafi es auch die richtigen 242 Instinkte hat. Viele der von ihm geforderten Glaubensbekenntnisse und Einstellungen sind nie deutlich festgelegt worden und konnten nicht festgelegt werden, ohne die dem Engsoz anhaftenden Widersprtiche aufzudecken. Wenn er ein von Natur strengglaubiger Mensch ist (im Neusprech ein Gutdenker), dann wird er unter alien Umstanden wissen, ohne nachdenken zu mtissen, was der richtige Glaube ist oder wie seine Empfindung aussehen soil. Aber auf alle Falle macht ihn eine sorgfaltige Schulung, die er in der Jugend durchgemacht hat und die von den Neusprechwortern Verbrechenstop, Schwarzweifi und Doppeldenk umrissen ist, nicht willens und unfahig, zu tiefschurfend tiber irgendein Thema nachzudenken. Von einem Angehorigen der Partei wird erwartet, dafi er keine Privatgefuhle hat und seine Begeisterung kein Erlahmen kennt. Man nimmt von ihm an, dafi er in einer dauernden Hassraserei gegenuber Systemfeinden und inlandischen Verratern lebt, tiber Siege frohlockt und sich vor der Macht und der Weisheit der Partei beugt. Die durch sein schales, unbefriedigendes Leben hervorgerufene Unzufriedenheit wird mit Bedacht nach aufien gelenkt und durch Einrichtungen wie die Zwei-Minuten-Hass-Sendung zerstreut. Und die Betrachtungen, die zu einer skeptischen und auflehnenden Haltung ftihren konnten, werden im Voraus durch seine schon frtih erworbene innere Schulung abgetotet. Die erste und einfachste Stufe in der Schulung, die sogar kleinen Kindern beigebracht werden kann, heifit im Neusprech Verbrechenstop. Verbrechenstop bedeutet die Fahigkeit, gleichsam instinktiv auf der Schwelle jedes gefahrlichen Gedankens haltzumachen. Es schliefit die Gabe ein, ahnliche Umschreibungen nicht zu verstehen, aufierstande zu sein, logische Irrttimer zu erkennen, die einfachsten Argumente mifizuverstehen, wenn sie engsozfeindlich sind, und von jedem Gedankengang gelangweilt oder abgestofien zu werden, der in eine ketzerische Richtung ftihren konnte. Verbrechenstop bedeutet, kurz gesagt, schtitzende 243 Dummheit. Aber Dummheit allein genugt nicht. Im Gegenteil verlangt Rechtglaubigkeit in vollem Sinne des Wortes eine ebenso vollstandige Beherrschung der eigenen Gedankengange, wie sie ein Schlangenmensch tiber seinen Korper besitzt. Die ozeanische Gesellschaftsordnung fufit letzten Endes auf dem Glauben, dafi der Grofie Bruder allmachtig und die Partei unfehlbar ist. Aber da in Wirklichkeit der Grofie Bruder nicht allmachtig und die Partei nicht unfehlbar ist, mussen die Tatsachen unermudlich von einem Augenblick zum anderen entsprechend zurechtgebogen werden. Das Schlagwort hierfur lautet „Schwarzweifi". Wie so viele Neusprechworte hat dieses Wort zwei einander widersprechende Bedeutungen. Einem Gegner gegenuber angewandt, bedeutet es die Gewohnheit, im Widerspruch zu den offenkundigen Tatsachen unverschamt zu behaupten, schwarz sei weifi. Einem Parteimitglied gegenuber angewandt, bedeutet es eine redliche Bereitschaft, zu sagen, schwarz sei weifi, wenn es die Parteidisziplin erfordert. Aber es bedeutet auch die Fahigkeit, zu glauben, dafi schwarz gleich weifi ist, und darilber hinaus zu wissen, dafi schwarz weifi ist, und zu vergessen, dafi man jemals das Gegenteil geglaubt hat. Das verlangt eine standige Anderung der Vergangenheit, die durch das Denkverfahren ermoglicht wird, das in Wirklichkeit alles Ubrige einschliefit und im Neusprech als Doppeldenk bekannt ist. Die Anderung der Vergangenheit ist aus zwei Grunden notwendig, deren einer untergeordnet und sozusagen vorbeugend ist. Der untergeordnete Grund besteht darin, dafi das Parteimitglied, ahnlich wie der Proletarier, die gegenwartigen Lebensbedingungen zum Teil deshalb duldet, weil er keine Vergleichsmoglichkeiten besitzt. Er mufi von der Vergangenheit abgeschnitten werden, ganz so, wie er auch vom Ausland abgeschnitten werden mufi, weil es notwendig ist, dafi er glaubt, besser daran zu sein als seine Vorfahren, und dafi sich das Durchschnittsniveau der materiellen Bequemlichkeit dauernd hebt. Aber der bei weitem wichtigere Grund fur die Anderung 244 der Vergangenheit ist die Notwendigkeit, die Unfehlbarkeit der Partei zu garantieren. 0211/635431 Nicht nur mussen Reden, Statistiken und Aufzeichnungen jeder Art standig mit den jeweiligen Erfordernissen in Einklang gebracht werden, um aufzuzeigen, dafi die Voraussagen der Partei in alien Fallen richtig waren. Sondern es darf auch nie eine Veranderung in der Doktrin oder in der politischen Ausrichtung zugegeben werden. Denn seine Ansicht oder gar seine Politik zu andern, ist ein Eingestandnis der Schwache. Wenn zum Beispiel Eurasien oder Ostasien (welches es auch sein mag) der Feind von heute ist, dann mufi dieses Land schon immer der Feind gewesen sein. Und wenn die Tatsachen anders lauten, dann mussen die Tatsachen eben geandert werden. Auf diese Weise wird die Geschichte dauernd neu geschrieben. Diese Falschung der Vergangenheit von einem Tag auf den anderen, die vom Wahrheitsministerium durchgefuhrt wird, ist fur den Bestand des Regimes ebenso notwendig wie die von dem Ministerium fur Liebe besorgte Unterdruckungs- und Bespitzelungstatigkeit. Die Veranderlichkeit der Vergangenheit ist die Grundlehre von Engsoz. Vergangene Geschehnisse, wird darin bedeutet, haben keinen objektiven Bestand, sondern leben nur in schriftlichen Aufzeichnungen und im Gedachtnis der Menschen weiter. Die Vergangenheit sieht so aus, wie es die Aufzeichnungen und die Erinnerungen wahrhaben wollen. Und da die Partei alle Aufzeichnungen vollkommen unter ihrer Kontrolle hat, so wie sie auch die Denkweise ihrer Mitglieder unter ihrer ausschliefilichen Kontrolle hat, folgt daraus, dafi die Vergangenheit so aussieht, wie die Partei sie darzustellen beliebt. Auch folgt daraus, dafi die Vergangenheit, wenn sie auch wandelbar ist, doch nie in einem besonderen Einzelfall abgewandelt wurde. Denn wenn sie in der im Augenblick benotigten Form neu geschaffen worden ist, dann ist eben diese neue Version die Vergangenheit, und eine andere Version kann es nie gegeben haben. Das gilt auch dann, wenn ein und dasselbe Ereignis, wie 245 es haufig vorkommt, im Laufe eines Jahres mehrmals nicht wiedererkennbar abgeandert werden mufi. Die Partei ist jederzeit im Besitz der wirklichen Wahrheit, und klarerweise kann die Wirklichkeit nie anders ausgesehen haben als jetzt. Man wird sehen, dafi die Kontrolle tiber die Vergangenheit vor allem von der Schulung des Gedachtnisses abhangt. Dafur zu sorgen, dafi alle schriftlichen Aufzeichnungen sich mit der Forderung des Augenblicks decken, ist eine lediglich mechanische Handlung. Aber man mufi sich auch daran erinnern, dafi Ereignisse in der gewunschten Form stattfanden. Und wenn es nottut, seine Erinnerungen umzuordnen oder mit schriftlichen Aufzeichnungen willkurlich umzuspringen, dann gilt es zu vergessen, dafi man das getan hat. Das Verfahren, wie man das macht, ist ebenso erlernbar wie jedes andere Geistestraining. Die Mehrzahl der Parteimitglieder hat es gelernt und jedenfalls alle diejenigen, die sowohl klug als auch rechtglaubig sind. In der Altsprache wird es, recht unverhohlen, als »Wirklichkeitskontrolle« bezeichnet. In der Neusprech heifit es Doppeldenk, wenn auch Doppeldenk noch viele andere Bedeutungen hat. Doppeldenk bedeutet die Gabe, gleichzeitig zwei einander widersprechende Ansichten zu hegen und beide gelten zu lassen. Der Parteiintellektuelle weifi, in welcher Richtung seine Erinnerungen geandert werden mussen. Er weifi deshalb auch, dafi er mit der Wirklichkeit jongliert. Aber durch das Einschalten von Doppeldenk beschwichtigt er sich auch dahingehend, dafi der Wirklichkeit nicht Gewalt angetan wird. Das Verfahren mufi bewufit sein, sonst wurde es nicht mit genugender Prazision ausgefuhrt werden, es mufi aber auch unbewufit sein, sonst brachte es ein Gefuhl der Falschheit und damit der Schuld mit sich. Doppeldenk ist der eigentliche Wesenskern von Engsoz, denn das grundlegende Verfahren der Partei besteht darin, eine bewufite Tauschung auszuuben und dabei eine Zweckentschlossenheit zu bewahren, wie sie restloser Ehrlichkeit 246 eignet. Bewufite Lugen zu erzahlen, wahrend man ehrlich an sie glaubt; jede Tatsache zu vergessen, die unbequem geworden ist, um sie dann, wenn man sie wieder braucht, nur eben so lange, als notwendig ist. aus der Vergessenheit hervorzuholen; das Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit zu leugnen und die ganze Zeit die von einem geleugnete Wirklichkeit in Betracht zu ziehen - alles das ist unerlafilich notwendig. Allein schon beim Gebrauch des Wortes Doppeldenk ist es unumganglich, Doppeldenk auszuuben. Denn indem man das Wort gebraucht, gibt man zu, dafi man mit der Wirklichkeit willkurlich umspringt; durch einen erneuten Akt von Doppeldenk loscht man dieses Wissen aus; und so unbegrenzt weiter, wobei die Luge der Wahrheit immer um einen Sprung voraus ist. Letzten Endes war die Partei mit Hilfe des Doppeldenks imstande - und wird nach allem, was wir wissen, Tausende von Jahren weiterhin imstande sein -, den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Alle Oligarchien der Vergangenheit sind entweder deshalb der Macht verlustig gegangen, weil sie verknocherten oder weil sie erschlafften. Entweder wurden sie dumm und anmafiend, versaumten, sich den veranderten Umstanden anzupassen, und wurden gesturzt. Oder sie wurden liberal und feige, machten Konzessionen, wenn sie hatten Gewalt anwenden sollen, und wurden wiederum gesturzt. Sie sturzten, heifit das, entweder durch ihr Verschulden oder ohne ihr Verschulden. Die Partei hat das Verdienst, ein Denkverfahren erfunden zu haben, bei dem beide Einstellungen nebeneinander moglich sind. Und auf keiner anderen verstandesmafiigen Basis konnte der Herrschaft der Partei Dauer verliehen werden. Wenn man herrschen und sich an der Herrschaft behaupten will, mufi man das Wirklichkeitsgefuhl zurechtrucken konnen. Denn das Geheimnis der Herrschaft besteht darin, den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit mit der Gabe zu verbinden, von den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. 247 Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dafi die spitzfindigsten Fachleute im Doppeldenk die sind, die Doppeldenk erfunden haben und wissen, dafi es ein grofies geistiges Betrugsmanover ist. In unserer Gesellschaftsordnung sind diejenigen, die am besten wissen, was gespielt wird, auch am weitesten davon entfernt, die Welt so zu sehen, wie sie tatsachlich ist. Im Allgemeinen gilt, je tiefer der Einblick, desto grofier die Verblendung; je kliiger, desto weniger vernunftig. Das wird deutlich illustriert durch die Tatsache, dafi die Kriegshysterie an Heftigkeit zunimmt, je hoher man auf der sozialen Stufenleiter hinaufkommt. Diejenigen, deren Einstellung zum Krieg der Vernunft am nachsten kommt, sind die unterworfenen Menschen der umstrittenen Gebiete. Fur diese Menschen ist der Krieg einfach ein dauerndes Ungluck, das wie eine schreckliche Flutwelle tiber sie hin und her braust. Welche Seite siegt, ist fur sie vollig gleichgultig. Sie sind sich bewufit, dafi eine Anderung der Machtherrschaft lediglich bedeutet, dafi sie die gleiche Arbeit wie bisher fur neue Herren verrichten mussen, die sie in der gleichen Weise wie die alten behandeln. Die etwas bessergestellten Arbeiter, die wir als »die Proles« bezeichnen, werden sich nur gelegentlich des Krieges bewufit. Wenn es erforderlich ist, konnen sie in Furcht- und Hassrasereien versetzt werden, aber sich selbst uberlassen, sind sie imstande, lange Zeit zu vergessen, dafi Krieg herrscht. In den Reihen der Partei, und vor allem der Inneren Partei, ist die echte Kriegsbegeisterung zu finden. An die Eroberung der Welt glauben am festesten diejenigen, die wissen, dafi sie undurchfuhrbar ist. Diese merkwurdige Verknupfung von Gegensatzen - Wissen mit Unwissenheit, Zynismus mit Fanatismus - ist eines der Hauptmerkmale der ozeanischen Gesellschaft. Die offizielle Ideologic wimmelt von Widerspruchen, auch dort, wo keine praktische Notwendigkeit fur sie besteht. So verwirft und verleugnet die Partei jeden Grundsatz, fur den die sozialistische Bewegung ursprunglich eintrat, und tut das im 248 Namen des Sozialismus. Sie predigt eine Verachtung der Arbeiterklasse, fur die es in den vergangenen Jahrhunderten kein Beispiel gibt, und sie bekleidet ihre Mitglieder mit einer Uniform, die ursprunglich den Handarbeitern vorbehalten war und aus diesem Grunde eingefuhrt wurde. Sie unterminiert systematisch die Solidaritat der Familie und benennt ihren Fuhrer mit einem Namen, der ein unmittelbarer Appell an das Familiengefuhl ist. Sogar die Namen der vier Ministerien, von denen wir regiert werden, grenzen in ihrer offenen Umkehrung der Tatsachen an schamlosen Hohn. Das Friedensministerium befafit sich mit Krieg, das Wahrheitsministerium mit Lugen, das Ministerium fur Liebe mit Folterung und das Ministerium fur Uberflufi mit Einschrankung. Diese Widerspruche sind nicht zufallig, auch entspringen sie nicht einer gewohnlichen Heuchelei: Es ist die wohluberlegte Anwendung von Doppeldenk. Denn nur dadurch, dafi Widerspruche miteinander in Einklang gebracht werden, lafit sich die Macht unbegrenzt behaupten. Auf keine andere Art und Weise konnte der alte Zyklus gebrochen werden. Wenn die Gleichheit der Menschen fur immer vermieden werden soil - wenn die Oberen, wie wir sie genannt haben, dauernd ihren Platz behaupten sollen, dann mufi die vorherrschende Geistesverfassung staatlich beaufsichtigter Irrsinn sein. Aber hier taucht eine Frage auf, die wir bis zu diesem Augenblick so gut wie aufier Acht gelassen haben. Sie lautet: Warum soil die Gleichheit der Menschen vermieden werden? Angenommen, der Mechanismus des Verfahrens wurde richtig geschildert: Was ist der Beweggrund fur diesen grofiangelegten, genau vorgeplanten Versuch, die Geschichte an einem bestimmten Zeitpunkt zum Stillstand zu bringen? Hier kommen wir zu dem tiefsten Geheimnis. Wie wir gesehen haben, hangt das Mystische der Partei, vor allem der Inneren Partei, von dem Doppeldenk ab. Aber tiefer als dieses liegt der ursprungliche Beweggrund, der nie untersuchte Instinkt, der zuerst zur Machtergreifung fuhrte und danach Doppeldenk, 249 Gedankenpolizei, dauernden Kriegszustand und all das andere Drum und Dran mit sich brachte. Dieser Beweggrund besteht in Wahrheit darin. . . " Winston wurde sich der Stille bewufit, so wie man sich eines neuen Gerausches bewufit wird. Es kam ihm vor, als sei Julia seit einiger Zeit sehr still gewesen. Sie lag, von der Hufte aufwarts nackt, auf ihrer Seite, die Wange auf ihre Hand gebettet, wahrend eine dunkle Locke iiber ihre Augen fiel. Ihre Brust hob und senkte sich langsam und regelmafiig. »Julia!« Keine Antwort. »Julia, bist du wach?« Keine Antwort. Sie schlief. Er klappte das Buch zu, legte es behutsam auf den Boden, streckte sich lang aus und zog die Bettdecke iiber sie beide. Er hatte, uberlegte er, das letzte Geheimnis noch immer nicht gelost. Er verstand das Wie, aber er verstand nicht das Warum. Das 1. Kapitel wie das 3. Kapitel hatte ihm in Wirklichkeit nichts enthullt, was er nicht schon wufite; es hatte lediglich Ordnung in das Wissen gebracht, das er bereits besafi. Aber nachdem er es gelesen hatte, wufite er besser als zuvor, dafi er nicht verruckt war. Zu einer Minderheit zu gehoren, selbst zu einer Minderheit von einem einzigen Menschen, stempelte einen noch nicht als verruckt. Hier war die Wahrheit und dort war die Unwahrheit, und wenn man sogar gegen die ganze Welt an der Wahrheit festhielt, war man nicht verruckt. Ein gelber Strahl der untergehenden Sonne fiel schrag durchs Fenster und auf das Kissen, Er schloss die Augen. Die Sonne auf seinem Gesicht und der glatte Korper des Madchens, der seinen eigenen beruhrte, gab ihm ein beruhigendes, einschlaferndes, vertrauensvolles Gefuhl. Er war in Sicherheit, alles war schon und gut. Im Einschlafen murmelte er vor sich hin: »Geistige Gesundheit ist keine statistische Angelegenheit« und hatte das Gefuhl, diese Feststellung enthalte eine tiefe Weisheit. 250 Zehntes Kapitel Er erwachte mit dem Gefuhl, lange Zeit geschlafen zu haben, aber ein Blick auf die altmodische Uhr belehrte ihn, dafi es erst zwanzig Uhr dreifiig war. Er lag eine Weile da und doste; dann drang vom Hof unten die ubliche tiefe Singstimme herauf: »Es war nur ein tiefer Traum, Ging wie ein Apriltag vorbeiii, Aber sein Blick war leerer Schaum, Brach mir das Herz entzweiii!« Das torichte Lied schien sich seine Beliebtheit bewahrt zu haben. Man horte es noch immer uberall. Es hatte den Hassgesang uberlebt. Julia wachte bei diesen Tonen auf, rakelte sich geniefierisch und stieg aus dem Bett. »Ich bin hungrig«, sagte sie. »Machen wir uns noch einen Kaffee. Verflixt! Der Kocher ist ausgegangen, und das Wasser ist kalt.« Sie nahm den Kocher hoch und schuttelte ihn. »Kein Brennstoff mehr drin.« »Wir konnen sicher welchen vom alten Charrington bekommen.« »Das Komische ist nur, dafi ich mich uberzeugt hatte, dafi er voll war. Ich ziehe rasch meine Sachen an«, fugte sie hinzu. »Es scheint kalter geworden zu sein.« Winston stand gleichfalls auf und zog sich an. Die unermudliche Stimme sang weiter: »Man sagt, die Zeit heile alles, Es heifit, man kann alles vergessen, Aber vom Schmerz meines Falles, Von dem bleib' ich ewig besessen!« Wahrend er den Gurtel seines Trainingsanzuges zumachte, schlenderte er hinuber zum Fenster. Die Sonne mufite hinter den Hausern untergegangen sein; sie schien nicht mehr in den Hof. Die Steinplatten waren feucht, als seien sie soeben gewaschen worden, und er hatte das Gefuhl, als sei auch der Himmel gewaschen worden, so frisch und blafi war das Blau zwischen den Kaminrohren. Ohne zu erlahmen, ging die Frau unten hin und her, verkorkte und entkorkte ihren Mund mit Wascheklammern, sang und schwieg wieder und hangte mehr 251 und mehr und immer noch mehr Windeln auf. Er fragte sich, ob sie Wasche zum Erwerb ihres Lebensunterhalts annahm oder lediglich die Sklavin von zwanzig oder dreifiig Enkelkindern war. Julia war neben ihn getreten; zusammen blickten sie in einer Art Bezauberung hinunter auf die stammige Gestalt. Wie er die Frau in ihrer charakteristischen Haltung betrachtete, ihre dicken Arme zur Wascheleine emporgehoben, wahrend ihre machtigen, an eine Stute erinnernden Hinterbacken sich wolbten, kam es ihm zum erstenmal zum Bewufitsein, dafi sie schon war. Es war ihm nie vorher in den Sinn gekommen, der Korper einer funfzigjahrigen Frau, der durch Geburten zu monstrosen Ausmafien gedunsen und dann durch Arbeit vergrobert und verhartet war, bis seine grobe Haut der Schale einer uberreifen Rube ahnelte, konnte schon sein. Aber dem war so und, dachte er, warum auch nicht? Der teste, umrifilose Korper, der wie ein Granitblock war, und die rauhe rote Haut verhielten sich zu einem Madchenleib genauso wie die Hagebutte zur Heckenrose. Warum sollte man die Frucht geringer schatzen als die Blume? »Sie ist schon«, murmelte er. »Sie misst leicht einen Meter um die Huften herum«, meinte Julia. »Das ist ihre Art von Schonheit«, sagte Winston. Sein Arm umspannte muhelos Julias biegsame Taille. Von der Hufte bis zum Knie schmiegte sich ihr Korper an den seinen. Aus ihren Leibern wurde nie ein Kind hervorgehen. Das war etwas, was sie nie tun konnten. Nur von Mund zu Mund, von einem Eingeweihten zum anderen, konnten sie das Geheimnis weitergeben. Die Frau da unten wufite von nichts, sie bestand nur aus starken Armen, einem warmen Herzen und einem fruchtbaren Leib. Er fragte sich, wie viele Kinder sie wohl geboren hatte. Es mochten leicht funfzehn sein. Sie hatte ihre vielleicht ein Jahr wahrende kurze Blutezeit einer Wildrosen-Schonheit durchlebt und war dann plotzlich aufgegangen wie eine befruchtete Frucht, war 252 hart, rot und derb geworden, und dann hatte ihr Leben ohne Unterbrechung dreifiig Jahre hindurch aus Waschen, Reinemachen, Flicken, Kochen, Fegen, Putzen, Nahen, Schrubben, Waschewaschen, erst fur Kinder, dann fur Enkelkinder, bestanden. Am Ende von alledem sang sie noch immer. Die geheimnisvolle Verehrung, die er fur sie empfand, war irgendwie vermischt mit dem Anblick des hellen, wolkenlosen Himmels, der sich hinter den Kaminrohren in grenzenlose Feme erstreckte. Wenn es eine Hoffnung gab, dann lag sie bei den Proles! Ohne das Buch zu Ende gelesen zu haben, wufite er, dafi darin Goldsteins letzte Botschaft bestehen mufite. Die Zukunft gehorte den Proles. Aber konnte er sicher sein, dafi die Welt, die sie aufbauten, ihm, Winston Smith, nicht ebenso fremd sein wurde wie die Welt der Partei? Nein, denn letzten Endes wurde es eine geistig gesunde Welt sein. Fruher oder spater wurde es dahin kommen, die Kraft wurde sich ihrer bewufit werden. Die Proles waren unsterblich, daran konnte man nicht zweifeln, wenn man diese tapfere Gestalt im Hof ansah. Zu guter Letzt wurden sie erwachen. Und bis es soweit war - wenn es auch tausend Jahre dauern mochte -, wurden sie trotz aller Unbilden sich am Leben erhalten wie die Vogel und von Leib zu Leib die Lebenskraft weitergeben, an der die Partei nicht teilhatte und die sie nicht umbringen konnte. Irgendwann wurde die Tyrannei fallen und dann wurde eine neue Welt entstehen aus dem Rest, der ubrig geblieben war. »Erinnerst du dich«, sagte er, »an die Drossel, die uns an jenem ersten Tag am Rand des Waldchens etwas vorsang?« »Sie sang nicht fur uns«, sagte Julia. »Sie sang zu ihrem Vergnugen. Noch nicht einmal das. Sie sang nur eben.« Die Vogel sangen, die Proles sangen, aber die Partei sang nicht. Doch einige Reste wurden ubrigbleiben. Einige wenige Kluge und Starke wurden am Ende doch aus der gesichts- und geistlosen Masse emporsteigen und ein neues Zeitalter begrunden konnen. Aus ihrem machtigen Schofi mufite eines 253 Tages ein Geschlecht wissender Menschen hervorgehen. Ihr seid die Toten; die Zukunft gehort ihnen. Aber man konnte teilhaben an dieser Zukunft, wenn man den Geist lebendig erhielt, so wie sie den Leib lebendig erhielten, und die geheime Lehre weitergab, dafi zwei und zwei gleich vier ist. »Wir sind die Toten«, sagte er. »Wir sind die Toten«, betete Julia getreulich nach. »Ihr seid die Toten! «, sagte eine eiserne Stimme hinter ihnen. Sie fuhren auseinander. Winston fuhlte seine Eingeweide zu Eis erstarren. Er konnte rund um die Iris von Julias Augen das Weifie sehen. Ihr Gesicht hatte sich milchiggelb verfarbt. Das noch auf jedem Backenknochen vorhandene Rouge hob sich scharf ab, fast wie ohne Zusammenhang mit der Haut darunter. »Ihr seid die Toten«, wiederholte die eiserne Stimme. »Es kam hinter dem Bild hervor«, fliisterte Julia. »Es kam hinter dem Bild hervor«, sagte die Stimme. »Bleibt genau da stehen, wo ihr seid. Macht keine Bewegung, ehe es euch befohlen wird.« Es war soweit, endlich war es soweit! Sie konnten nichts machen, aufier dazustehen und einander in die Augen zu starren. Auf und davon zu laufen, das Haus zu verlassen, ehe es zu spat war - ein solcher Gedanke kam ihnen gar nicht. Unvorstellbar, der eisernen Stimme von der Wand nicht zu gehorchen. Man horte ein Schnappen, so als sei ein Haken zuruckgedreht worden, und das Krachen splitternden Glases. Das Bild war auf den Boden gefallen, so dafi der dahinter angebrachte Televisor zum Vorschein kam. »Jetzt konnen sie uns sehen«, sagte Julia. »Jetzt konnen wir euch sehen«, sagte die Stimme. »Stellt euch in die Mitte des Zimmers. Stellt euch Rucken an Rucken. Verschrankt die Hande hinter euren Kopfen. Beruhrt einander nicht. « Sie beruhrten einander nicht, aber es kam ihm vor, als konnte er Julias Korper zittern fuhlen. Oder vielleicht war es nur das 254 Zittern seines eigenen. Er konnte mit Mtihe verhindern, dafi seine Zahne klapperten, aber er hatte keine Gewalt tiber seine Knie. Unten im Hof und im Haus war ein Gerausch von trampelnden Stiefeln zu horen. Der Hof schien voll mit Menschen zu sein. Etwas wurde tiber die Steine geschleift. Der Gesang der Frau war jah abgebrochen. Man horte ein langes, rumpelndes Klirren, so als sei der Waschzuber tiber den Hof geschleudert worden, und dann ein Durcheinander argerlicher Rufe, das mit einem Schmerzensschrei endete. »Das Haus ist umzingelt«, sagte Winston. »Das Haus ist umzingelt«, sagte die Stimme. Er horte Julia die Zahne aufeinander beifien. »Ich glaube, wir konnen ebenso gut voneinander Abschied nehmen«, sagte sie. »Ihr konnt ebenso gut voneinander Abschied nehmen«, sagte die Stimme. Und dann fiel eine andere, grundverschiedene Stimme, eine leise, gebildete Stimme, von der Winston den Eindruck hatte, sie bereits frtiher gehort zu haben ein: »Und bei der Gelegenheit, weil wir gerade bei dem Thema sind: Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head!« Etwas prasselte hinter Winstons Rticken aufs Bett. Die Spitze einer Leiter war durchs Fenster geschoben worden und hatte den Rahmen zertrtimmert. Jemand kletterte durchs Fenster herein. Die Treppen herauf horte man wildes Fufigetrappel. Das Zimmer war voll kraftiger Manner in schwarzen Uniformen, mit eisenbeschlagenen Stiefeln an den Ftifien und Gummikntippeln in den Handen. Winston zitterte nicht mehr. Sogar seine Augen bewegten sich kaum. Es gait nur eines: stillzuhalten, stillzuhalten und ihnen keinen Vorwand zu bieten, einen zu schlagen! Ein Mann mit der glattrasierten Kinnlade eines Preisboxers, in dem der Mund nur ein Schlitz war, blieb vor ihm stehen und wippte seinen Gummikntippel nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger. Winston begegnete seinem Blick. 255 Das Geftihl der Nacktheit, mit seinen hinter dem Kopf verschrankten Handen und sein Gesicht und Korper vollig ungeschtitzt, war nahezu unertraglich. Der Mann streckte die Spitze einer weifien Zunge heraus, leckte tiber die Stelle, wo seine Lippen hatten sein sollen, und ging dann weiter. Ein erneutes Krachen erfolgte. Jemand hatte den glasernen Briefbeschwerer vom Tisch genommen und ihn auf der Kaminplatte in Stticke geschlagen. Das Korallensttickchen, ein winzigkleiner rosafarbener Ast wie ein Zuckerkringel von einer Torte, rollte tiber die Bodenmatte. Wie klein, mufite Winston denken, wie klein es doch war! Hinter ihm ein Keuchen und ein dumpfer Aufschlag, und er erhielt einen heftigen Stofi gegen den Fufiknochel, der ihn beinahe aus dem Gleichgewicht warf. Einer der Manner hatte Julia einen Faustschlag in die Magengrube versetzt, was sie wie ein Taschenmesser zusammenklappen liefi. Sie wand sich am Boden, nach Luft ringend. Winston wagte nicht, seinen Kopf auch nur um einen Millimeter zu drehen, aber manchmal geriet ihr blauliches, atemschnappendes Gesicht in sein Blickfeld. Sogar in seiner Herzensangst war es, als konnte er den Schmerz am eigenen Leib sptiren, den unertraglichen Schmerz, der dennoch weniger vordringlich war als das Ringen nach Luft. Er wufite, wie das war: der schreckliche, qualvolle Schmerz, der die ganze Zeit da war, dem man aber noch nicht nachgeben konnte, denn vor allem anderen mufite man Atem schopfen. Dann hoben zwei von den Mannern sie an Knien und Schultern hoch und trugen sie wie einen Sack aus dem Zimmer. Winston konnte einen fltichtigen Anblick von ihrem Gesicht erhaschen: es war verwtistet, gelb und verzerrt, die Augen geschlossen und noch immer mit etwas Rouge auf jeder Wange. Das war das letzte, was er von ihr sah. Er stand unbeweglich da. Noch hatte ihn niemand geschlagen. Gedanken, die sich ungewollt einstellten, aber vollig uninteressant schienen, begannen ihm durch den Kopf zu huschen. Er fragte sich, ob sie auch Herrn Charrington 256 festgenommen hatten. Und was hatten sie mit der Frau im Hof getan? Er merkte, dafi er dringend Wasser lassen mufite, und war ein wenig erstaunt daruber, denn er hatte das erst vor zwei oder drei Stunden getan. Er bemerkte, dafi die Uhr auf dem Kaminsims auf neun zeigte, was soviel bedeuten sollte wie einundzwanzig Uhr. Aber das Licht schien zu hell. War es an einem Augustabend um einundzwanzig Uhr nicht schon dunkler? Er fragte sich, ob nicht am Schlufi er und Julia sich in der Zeit geirrt - einen Tag uberschlafen und gedacht hatten, es sei zwanzig Uhr dreifiig, wahrend es in Wirklichkeit genau acht Uhr dreifiig am nachsten Morgen war. Aber er verfolgte den Gedanken nicht weiter. Es war nicht interessant. Auf dem Gang naherte sich jetzt ein anderer, leichterer Schritt. Herr Charrington kam ins Zimmer. Das Benehmen der schwarzuniformierten Manner wurde plotzlich unterwurfiger. Auch in Herrn Charringtons Aufierem hatte sich etwas verandert. Sein Blick fiel auf die Splitter des glasernen Briefbeschwerers. »Diese Splitter aufheben!«, sagte er scharf. Ein Mann buckte sich, um zu gehorchen. Der Londoner Vorstadtakzent war verschwunden; Winston war sich plotzlich daruber im Klaren, wessen Stimme es war, die er vor ein paar Augenblicken am Televisor gehort hatte. Herr Charrington hatte noch immer seine alte Samtjacke an, aber sein Haar, das fast weifi gewesen war, hatte sich in Schwarz verwandelt. Auch trug er keine Brille. Er warf nur einen einzigen scharfen Blick auf Winston, so als stelle er seine Identitat fest, und schenkte ihm dann keine Aufmerksamkeit mehr. Er war noch erkennbar, aber er war nicht mehr derselbe Mensch. Sein Korper hatte sich gestrafft und schien grofier geworden zu sein. Sein Gesicht hatte nur geringfugige Veranderungen erfahren, die trotzdem eine vollstandige Verwandlung herbeigefuhrt hatten. Die schwarzen Augenbrauen waren weniger buschig, die Falten verschwunden, die ganze Physiognomie schien sich verandert zu 257 haben; sogar die Nase wirkte kurzer. Es war das aufgeweckte, kalte Gesicht eines Mannes von etwa funfunddreifiig Jahren. Es kam Winston zum Bewusstsein, dafi er zum erstenmal in seinem Leben wissentlich einem Mitglied der Gedankenpolizei gegenuberstand. 258 Dritter Teil Erstes Kapitel Er wufite nicht, wo er sich befand. Wahrscheinlich war er im Ministerium fur Liebe; aber es bestand keine Moglichkeit, sich zu vergewissern. Er befand sich in einer hohen, fensterlosen Zelle mit Wanden aus schimmernden weifien Kacheln. Verborgene Lampen durchfluteten sie mit kaltem Licht, und ein leises, standig summendes Gerausch war zu horen, von dem er annahm, dafi es etwas mit der Luftung zu tun hatte. Eine Bank oder Pritsche, gerade breit genug, um darauf zu sitzen, lief rings um die Wand und war nur bei der Tur unterbrochen. Am Zellenende, der Tur gegenuber, war eine Klosettschussel ohne holzernen Sitz angebracht. Ein Televisor war an jeder der vier Wande vorhanden. Ein dumpfer Schmerz in der Magengegend qualte ihn. Er hatte sich von dem Augenblick an bemerkbar gemacht, als man ihn in den geschlossenen Gefangniswagen gesteckt und weggefahren hatte. Aber er war auch hungrig, er fuhlte einen nagenden, krankhaften Hunger. Es mochte vierundzwanzig Stunden her sein, seit er zuletzt etwas gegessen hatte - oder auch sechsunddreifiig. Er wufite noch immer nicht und wurde es vermutlich nie wissen, ob es Morgen oder Abend gewesen war, als man ihn festnahm. Seit seiner Verhaftung hatte er nichts mehr zu essen bekommen. Er safi so unbeweglich da, wie er konnte, mit uber dem Knie verschrankten Handen auf der schmalen Bank. Er hatte bereits gelernt, still dazusitzen. Machte man unerwartete Bewegungen, 259 so wurde man durch den Televisor angeschrien. Aber sein Verlangen nach etwas Essbarem wurde immer heftiger. Vor allem gelustete ihn nach einem Stuck Brot. Er glaubte sich zu erinnern, dafi in der Tasche seines Trainingsanzugs ein paar Brotkrumen waren. Er kam auf diesen Gedanken, weil ihn von Zeit zu Zeit etwas am Bein zu kitzeln schien - dafi noch ein anstandiges Stuck Rinde darin steckte. Schliefilich war sein Verlangen, sich davon zu uberzeugen, starker als seine Furcht. Er schob seine Hand in die Tasche. »Smith!« schrie eine Stimme aus dem Televisor. »6079 Smith W.! In der Zelle Hande aus der Tasche !« Er safi wieder still da, seine Hande tiber dem Knie verschrankt. Bevor man ihn hierher gebracht hatte, war er an einen anderen Ort gebracht worden, der ein gewohnliches Gefangnis oder ein von den Polizeistreifen benutzter vorubergehender Gewahrsam gewesen sein mufite. Er wufite nicht, wie lange er dort gewesen war; jedenfalls einige Stunden; ohne Uhr und ohne Tageslicht war es schwer, die Zeit abzuschatzen. Es war ein larmender, ubelriechender Ort gewesen. Man hatte ihn in eine Zelle gesteckt, die der ahnelte, in der er sich jetzt befand, aber grauenhaft schmutzig und standig mit zehn bis funfzehn Menschen belegt war. Die Mehrzahl davon waren gemeine Verbrecher, aber es gab ein paar politische Gefangene unter ihnen. Er hatte still gegen die Wand gelehnt dagesessen, zwischen schmutzigen Leibern herumgestofien, zu sehr mit seiner Angst und seinen Leibschmerzen beschaftigt, um grofies Interesse an seiner Umgebung zu nehmen. Aber er gewahrte doch den erstaunlichen Unterschied im Verhalten gegenuber den Partei-Gefangenen und den anderen. Die Partei-Gefangenen waren immer stumm und voll Furcht, aber die gewohnlichen Gefangenen schienen nichts und niemanden zu scheuen. Sie schrien dem Wachpersonal Beschimpfungen zu. wehrten sich wutend, wenn ihre Sachen beschlagnahmt wurden, schrieben unflatige Worte auf den 260 Fufiboden, alien eingeschmuggelte Nahrungsmittel, die sie aus geheimnisvollen Verstecken ihrer Kleidung hervorzogen, und schrien sogar den Televisor nieder, wenn er die Ordnung wiederherzustellen versuchte. Andererseits schienen manche von ihnen auf gutem Fufi mit den Wachen zu stehen, nannten sie bei Spitznamen und versuchten Zigaretten durch das Guckloch in der Tur zu schieben. Die Wachen wiederum behandelten die gewohnlichen Gefangenen mit einer gewissen Nachsicht, auch wenn sie derb mit ihnen umspringen mufiten. Es wurde viel von den Zwangsarbeitslagern geredet, und die meisten Gefangenen erwarteten, dorthin verschickt zu werden. Es war »ertraglich« in diesen Lagern, reimte er sich zusammen, solange man gute Beziehungen hatte und den ganzen Rummel kannte. Es herrschte dort Bestechung, Bevorzugung und organisiertes Verbrechertum aller Art, es gab Homosexualitat und Prostitution, es gab sogar aus Kartoffeln heimlich gebrannten Schnaps. Die Vertrauensposten bekamen nur die gewohnlichen Verbrecher, besonders Gewaltverbrecher und Morder. Alle schmutzigen Arbeiten wurden von den Politischen verrichtet. Es war ein dauerndes Kommen und Gehen von Gefangenen aller Art: von Rauschgifthandlern, Dieben, Strafienraubern, Schwarzhandlern, Trunkenbolden, Prostituierten. Manche von den Betrunkenen waren so aufier Rand und Band, dafi die anderen Gefangenen sich zusammentun mufiten, um sie zu uberwaltigen. Ein riesiges Wrack von einem Weib, etwa sechzigjahrig, mit grofien Hangebrusten und dicken, aufgerollten weifien Haarlocken, die bei ihrem Kampf aufgegangen waren, wurde, mit Fufien und Handen um sich schlagend und schreiend, von vier Wachen hereingetragen, die sie jeder an einem Ende festhielten. Sie rissen ihr die Schuhe herunter, mit denen sie ihnen Tritte zu versetzen versuchte, und schleuderten sie Winston in den Schofi, so dafi ihm fast die Schenkelknochen brachen. Die Frau rappelte sich hoch und schrie ihnen »Verfluchte Sauhunde!« nach. Dann, als 261 sie merkte, dafi sie auf etwas Unebenem safi, rutschte sie von Winstons Knien herunter auf die Bank. »Verzeihung, mein Schatz«, sagte sie. »Ich hatte mich nicht auf Sie gesetzt, aber die Kerls schmissen mich da hin. Sie wissen nicht, wie man eine Dame behandelt.« Sie brach ab, tatschelte ihre Brust und rulpste. »Verzeihung«, sagte sie, »ich hab' noch nicht alle Sinne beieinander.« Sie beugte sich vor und erbrach sich ausgiebig auf den Fufiboden. »So ist's besser«, sagte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen zuruck. »Nie es drunten lassen, sag' ich immer. Raus damit, solange es noch frisch im Magen ist.« Sie kam wieder zu sich, drehte sich um, um nochmals einen Blick auf Winston zu werfen, und schien sofort eine Vorliebe fur ihn zu fassen. Sie legte einen dicken Arm um seine Schulter und zog ihn naher zu sich, wobei sie ihm Bierdunst und den Geruch von Erbrochenem ins Gesicht atmete. »Wie heifit du, Schatz?« sagte sie. »Smith«, antwortete Winston. »Smith?« sagte die Frau. »Das is' komisch. Ich heifie auch Smith. Denk mal«, fugte sie sentimental hinzu, »ich konnte deine Mutter sein.« Ja, dachte Winston, sie konnte seine Mutter sein. Sie war ungefahr im gleichen Alter und von entsprechender Korpergrofie, und es war wahrscheinlich, dafi sich die Menschen nach zwanzig Jahren in einem Zwangsarbeitslager einigermafien veranderten. Sonst hatte niemand mit ihm gesprochen. In erstaunlichem Mafie ignorierten die gewohnlichen Verbrecher die Partei-Haftlinge. »Die Politischen« nannten sie sie mit einer Art uninteressierter Verachtung. Die Partei-Haftlinge schienen Angst zu haben, mit jemand zu sprechen, und vor allem, miteinander zu sprechen. Nur einmal, als zwei Parteiangehorige, beides Frauen, auf der Bank eng aneinander gepresst wurden, horte er zufallig in dem allgemeinen Stimmengewirr ein paar hastig geflusterte Worte, 262 und zwar war es eine Anspielung auf etwas, das als »Zimmer eins-null-eins« bezeichnet wurde, was er nicht verstand. Es mochte zwei oder drei Stunden her sein, dafi man ihn hierher gebracht hatte. Der dumpfe Schmerz in seinem Magen horte nicht auf, aber manchmal wurde es besser und dann wieder schlimmer, und seine Gedanken waren je nachdem in die weitere Zukunft oder nur auf den Augenblick gerichtet. Wenn er schlimmer wurde, dachte er nur an den Schmerz und an sein Verlangen nach Essen. Liefi er nach, so befiel ihn eine Panik. Es gab Augenblicke, in denen er die Dinge, die mit ihm geschehen wurden, mit solcher Deutlichkeit voraussah, dafi sein Herz raste und sein Atem stockte. Er fuhlte die Schlage von Gummiknuppeln auf seinen schutzend erhobenen Armen und eisenbeschlagene Stiefel gegen seine Schienbeine. Er sah sich auf dem Fufiboden herumkriechen und zwischen eingeschlagenen Zahnen hervor um Gnade flehen. An Julia dachte er kaum. Er konnte sein Denken nicht auf sie konzentrieren. Er liebte sie und wurde sie nicht verraten; aber das war nur eine Tatsache, die ihm so vertraut war wie die Regeln der Arithmetik. Er empfand keine Liebe fur sie, und er fragte sich sogar kaum, was wohl mit ihr geschah. Haufiger dachte er an O'Brien, und zwar mit einer flackernden Hoffnung. O'Brien mufite wissen, dafi er verhaftet worden war. Die Bruderschaft, hatte er gesagt, versuchte nie, ihre Mitglieder zu retten. Aber da war die Rasierklinge; sie wurden die Rasierklinge schicken, wenn sie konnten. Er wurde ungefahr ftinf Sekunden Zeit haben, ehe die Wachen in die Zelle hereinsturmen konnten. Die Klinge wurde mit schneidender Kalte in ihn eindringen, und sogar die Finger, die sie hielten, wurden bis auf den Knochen durchgeschnitten werden. Alles hing von seinem hinfalligen Korper ab, der zitternd vor dem kleinsten Schmerz zuruckschreckte. Er war nicht sicher, ob er die Rasierklinge benutzen wurde, sogar wenn sich ihm die Moglichkeit bot. Es war naturlicher, von einem Augenblick auf den anderen zu leben, weitere zehn 263 Minuten Leben mit der Gewifiheit hinzunehmen, dafi ihn am Ende die Folterung erwartete. Manchmal versuchte er, die Porzellankacheln an den Wanden der Zelle zu zahlen. Es mufite ganz leicht sein, aber er verzahlte sich immer wieder an der einen oder anderen Stelle. Noch offer fragte er sich, wo er sich wohl befand und welche Tageszeit es war. In dem einen Augenblick hatte er das sichere Gefuhl, draufien sei heller Tag, im nachsten war er ebenso sicher, dafi stockfinstere Dunkelheit herrschte. Hier an diesem Ort, wufite er instinktiv, wurde nie die kunstliche Beleuchtung ausgeschaltet. Es war der Ort, an dem es keine Dunkelheit gab: Er erkannte jetzt, warum O'Brien die Anspielung verstanden zu haben schien. Im Ministerium fur Liebe gab es keine Fenster. Seine Zelle konnte im Innersten des Gebaudes gelegen sein oder hinter seiner Aufienmauer, zehn Stockwerke unter dem Erdboden oder dreifiig daruber. Er versetzte sich im Geist von Ort zu Ort und versuchte gefuhlsmafiig zu entscheiden, ob er sich hoch droben in der Luft befand oder tief unter der Erde begraben war. Von draufien kam das Drohnen marschierender Stiefel. Die Stahltur offnete sich mit einem Klirren. Ein junger Offizier, eine schmucke schwarzuniformierte Gestalt, die von Kopf bis Fufi von poliertem Leder zu glanzen schien und deren bleiches, streng geschnittenes Gesicht wie eine Wachsmaske war, trat forsch durch den Tureingang. Er gab den draufien stehenden Wachen ein Zeichen, den von ihnen gefuhrten Gefangenen hereinzubringen. Der Dichter Ampleforth torkelte in die Zelle. Die Tur schlofi sich klirrend wieder. Ampleforth machte ein paar unsichere Bewegungen von einer Seite zur anderen, so als schwebe ihm etwas von einer anderen Tur vor, durch die er hinaus musse. Dann begann er in der Zelle hin und her zu gehen. Er hatte Winstons Anwesenheit noch nicht bemerkt. Seine verwirrten Augen starrten etwa einen Meter tiber Winstons Kopfhohe auf die Wand. Er war ohne Schuhe; grofie schmutzige Zehen lugten aus den Lochern in seinen Socken hervor. Auch war er seit mehreren Tagen nicht mehr rasiert. Ein 264 struppiger Bart bedeckte sein Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines Strafienraubers, das schlecht zu seinem aufgeschossenen zarten Korper und seinen nervosen Bewegungen pafite. Winston richtete sich ein wenig aus seiner Lethargie hoch. Er mufite mit Ampleforth sprechen und es auf sich nehmen, durch den Televisor angebrullt zu werden. Es war sogar denkbar, dafi Ampleforth der Bote mit der Rasierklinge war. »Ampleforth«, sagte er. Aus dem Televisor erfolgte kein Anbrullen. Ampleforth blieb ein wenig verblufft stehen. Seine Augen richteten sich langsam auf Winston. »Ach, Smith!« sagte er. »Sie auch!« »Weswegen sind Sie hier?« »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen...« Er setzte sich linkisch Winston gegenuber auf die Bank. »Es gibt nur ein Verbrechen - oder nicht?« sagte er. »Und haben Sie es begangen?« »Offenbar ja.« Er legte eine Hand an seine Stirn und presste einen Augenblick seine Schlafen, so als versuche er sich an etwas zu erinnern. »Diese Dinge passieren eben«, begann er unbestimmt. »Es ist mir gelungen, mir einen Fall ins Gedachtnis zuruckzurufen - einen moglichen Fall. Es war zweifellos eine Unklugheit. Wir stellten eine definitive Ausgabe der Gedichte Kiplings zusammen. Ich liefi das Wort >Gott< am Ende einer Verszeile stehen. Ich konnte nicht anders!« fugte er nahezu ungehalten hinzu, indem er das Gesicht hob, um Winston anzusehen. »Es war einfach unmoglich, die Verszeile zu andern. Der Reim endete mit >Trott<. Wissen Sie, dafi es in unserer ganzen Sprache nur aufierst wenige Reime auf >Trott< gibt? Tagelang zerbrach ich mir den Kopf. Es gab einfach keinen anderen Reim.« Sein Gesichtsausdruck anderte sich. Der Arger verschwand daraus, und einen Augenblick sah er fast zufrieden aus. Eine Art geistiger Hochstimmung, die Freude des Pedanten, der eine 265 nutzlose Tatsache entdeckt hat, leuchtete durch den Schmutz und das Haargestrupp. »Ist Ihnen jemals in den Sinn gekommen«, sagte er, »dafi die ganze Entwicklung der englischen Dichtkunst durch die Tatsache bestimmt wurde, dafi es in der englischen Sprache nicht genug Reime gibt?« Nein, dieser besondere Gedanke war Winston nie gekommen. Auch kam er ihm, unter den gegebenen Umstanden, nicht sehr wichtig oder interessant vor. »Wissen Sie, was fur eine Tageszeit es ist?« fragte er. Ampleforth machte wieder ein erschrockenes Gesicht. »Ich habe noch kaum daruber nachgedacht. Man verhaftete mich - es kann zwei, vielleicht drei Tage her sein.« Seine Blicke huschten tiber die Wande, so als hoffe er halbwegs, irgendwo ein Fenster zu finden. »Hier an diesem Ort besteht kein Unterschied zwischen Tag und Nacht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Zeit berechnen konnte.« Ein paar Minuten unterhielten sie sich oberflachlich, dann, ohne offensichtlichen Grand, gebot ihnen ein Befehl aus dem Televisor Schweigen. Winston safi still da, mit ubereinandergelegten Handen. Ampleforth, der zu grofi war, um bequem auf der schmalen Bank sitzen zu konnen, rutschte zappelig von einer Seite auf die andere, verschrankte seine langen Hande erst um das eine Knie, dann um das andere. Der Televisor raunzte ihn an, sich ruhig zu verhalten. Die Zeit verstrich. Zwanzig Minuten, eine Stunde - es war schwer zu beurteilen. Wieder erklang draufien das Gerausch von Schritten. Winstons Eingeweide zogen sich zusammen. Bald, sehr bald, vielleicht in ftinf Minuten, vielleicht jetzt, wurde das Stiefelgetrampel bedeuten, dafi die Reihe an ihn gekommen war. Die Tur offnete sich. Der junge Offizier mit dem kalten Gesicht trat in die Zelle. Mit einer kurzen Handbewegung deutete er auf Ampleforth. »Zimmer 101 !«, sagte er. 266 Ampleforth schritt schwerfallig zwischen den Wachen hinaus, sein Gesicht war ein wenig beunruhigt, jedoch ohne zu begreifen. Eine scheinbar lange Zeit verstrich. Der Schmerz in Winstons Bauch war wieder erwacht. Sein Denken kreiste rund und rund um dieselbe Bahn, wie eine Kugel, die immer wieder in die gleiche Reihe von Lochern fallt. Er kannte nur sechs Gedanken: Seine Leibschmerzen; ein Stuck Brot; das Blut und das Wehgeschrei; O'Brien; Julia; die Rasierklinge. Seine Eingeweide krampften sich erneut zusammen; die schweren Stiefel naherten sich. Als die Tur aufging, wehte der von ihr hervorgerufene Luftzug einen durchdringenden kalten Schweifigeruch herein. Parsons trat in die Zelle. Er hatte eine kurze Khakihose und ein Sporthemd an. Diesmal war Winston so verblufft, dafi er alle Vorsicht vergafi. »Sie hier!« sagte er. Parsons warf Winston einen Blick zu, aus dem weder Teilnahme noch Erstaunen, sondern nur Jammer sprach. Er begann mit ruckhaften Bewegungen hin und her zu gehen, offensichtlich unfahig, sich ruhig zu verhalten. Jedesmal, wenn er seine plumpen Knie durchdruckte, sah man, dafi sie zitterten. Seine Augen hatten einen aufgerissenen, starren Blick, so als konnte er sich nicht enthalten, nach etwas in der naheren Umgebung zu stieren. »Weswegen sind Sie hier?« fragte Winston. »Gedankenverbrechen!« sagte Parsons, fast unter Schluchzen. Der Ton seiner Stimme druckte gleichzeitig ein vollstandiges Eingestandnis seiner Schuld als auch eine Art unglaubigen Entsetzens aus, dafi ein solches Wort uberhaupt auf ihn Anwendung finden konnte. Er blieb vor Winston stehen und begann sich eifrig bei ihm zu beschweren: »Sie glauben doch nicht, dafi sie mich erschiefien werden, nicht wahr, alter Junge? Sie erschiefien einen doch nicht, wenn man nicht wirklich etwas verbrochen hat - sondern nur in Gedanken, wofur man nichts kann? Ich weifi, dafi sie einem ein anstandiges Verhor gewahren. Ach, darin habe ich voiles 267 Vertrauen zu ihnen! Sie werden ja meinen Personalakt kennen. Sie wissen, was fur ein Mensch ich war. Auf meine Art kein schlechter Kerl. Kein sehr grofies Licht freilich, aber beflissen. Ich habe mein Bestes fur die Partei zu tun versucht, das hab' ich doch, nicht wahr? Ich werde mit ftinf Jahren davonkommen, glauben Sie nicht? Oder auch mit zehn Jahren? Ein Mann wie ich konnte sich in einem Arbeitslager sehr nutzlich machen. Sie werden mich doch nicht erschiefien, nur weil ich einmal entgleist bin?« »Sind Sie schuldig?« fragte Winston. »Naturlich bin ich schuldig!« schrie Parsons mit einem kriecherischen Seitenblick nach dem Televisor. »Sie glauben doch nicht, dafi die Partei einen unschuldigen Menschen verhaften wurde?« Sein Froschgesicht wurde ruhiger und nahm sogar einen ein wenig scheinheiligen Ausdruck an. »Gedankenverbrechen ist etwas Schreckliches, alter Junge«, sagte er salbungsvoll. »Es ist etwas Heimtuckisches. Es kann einen uberkommen, sogar ohne dafi man es weifi. Wissen Sie, wie es mich uberkommen hat? Im Schlaf! Ja, das ist Tatsache. Da war ich, plagte mich, versuchte das meinige zu leisten - und hatte keine Ahnung, dafi ich uberhaupt je etwas Boses im Kopf hatte. Und dann fing ich an, im Schlaf zu sprechen. Wissen Sie, was man mich sagen horte?« Er senkte die Stimme wie jemand, der aus arztlichen Grunden gezwungen ist, eine Unschicklichkeit auszusprechen. »>Nieder mit dem Grofien Bruder!< Ja, das sagte ich! Sagte es immer wieder, wie es scheint. Unter uns, alter Junge, ich bin froh, dafi man mich ertappt hat, ehe es weiterging. Wissen Sie, was ich sagen werde, wenn ich vor Gericht stehe? >Danke euch<, werde ich sagen, >danke euch, dafi ihr mich gerettet habt, ehe es zu spat war.<« »Wer hat Sie angezeigt?« fragte Winston. »Es war mein Tochterchen«, sagte Parsons mit einer Art von betrubtem Stolz. »Sie lauschte am Schlusselloch. Horte, was ich sagte, und gleich am nachsten Tag lief sie zu den Streifen. 268 Allerhand tuchtig fur einen Dreikasehoch von sieben Jahren, he? Ich hege deshalb keinen Groll gegen sie. Tatsachlich bin ich stolz auf sie. Es beweist jedenfalls, dafi ich sie in dem richtigen Geist erzogen habe.« Er ging noch ein paar Mai erregt hin und her, wobei er mehrmals einen sehnsuchtigen Blick auf die Klosettschussel warf. Dann streifte er plotzlich seine kurze Hose herunter. »Entschuldigen Sie, alter Junge«, sagte er. »Ich kann's nicht mehr aushallen. Schuld ist das ewige Warten.« Er pflanzte seinen dicken Hintern auf die Klosettschussel. Winston bedeckte sein Gesicht mit den Handen. »Smith!« schrie die Stimme vom Televisor. »6079 Smith W.! Hande vom Gesicht. In den Zellen gibt es keine bedeckten Gesichter.« Winston liefi die Hande sinken. Parsons benutzte den Abtritt gerauschvoll und ausgiebig. Es stellte sich dann heraus, dafi die Spiilung kaputt war, und die Zelle stank noch stundenlang nachher abscheulich. Parsons wurde abgefuhrt. Neue Gefangene kamen und gingen in geheimnisvoller Weise. Einmal wurde eine Frau nach »Zimmer 101« beordert und schien, wie Winston wahrnahm, ohnmachtig zu werden und sich zu verfarben, als sie die Worte horte. Es kam eine Zeit, zu der es, wenn es Morgen gewesen war, als er hierher gebracht wurde, jetzt Nachmittag sein mufite. Es befanden sich sechs Gefangene in der Zelle, Manner und Frauen. Alle safien sehr still da. Winston gegenuber safi ein Mann mit einem kinnlosen Gesicht mit vorstehenden Schneidezahnen, das genau wie das eines grofien harmlosen Nagetiers aussah. Seine dicken, fleckigen Backen bildeten nach unten solche Taschen, dafi es einem schwer fiel, nicht zu glauben, er habe dort keine Speisevorrate versteckt. Seine hellgrauen Augen huschten angstlich von einem Gesicht zum anderen und wandten sich rasch wieder ab, wenn er jemandes Blick begegnete. 269 Die Tur offnete sich, und ein anderer Gefangener wurde hereingebracht, dessen ganze Erscheinung Winston ein augenblickliches Frosteln verursachte. Er war ein alltaglicher, unbedeutend aussehender Mann, der ein Ingenieur oder sonst ein Techniker hatte sein konnen. Aber das Erschreckende war die Abzehrung seines Gesichts. Es war wie ein Totenschadel. Infolge seiner Magerkeit sahen der Mund und die Augen unverhaltnismafiig grofi aus, und die Augen schienen von einem morderischen, unversohnlichen Hass gegen jemand oder etwas erfullt. Der Mann setzte sich ein kleines Stuck weit von Winston entfernt auf die Bank. Winston sah ihn nicht mehr an, doch das gequalte, totenkopfartige Gesicht schwebte ihm in Gedanken so deutlich vor, als hatte er es gerade vor Augen gehabt. Plotzlich merkte er, was los war. Der Mann starb vor Hunger. Der gleiche Gedanke schien fast gleichzeitig jedem in der Zelle zu kommen. Rings um die Bank regte sich eine ganz leise Emporung. Die Blicke des kinnlosen Mannes huschten dauernd hinuber zu dem Mann mit dem Totenschadelgesicht, wandten sich schuldbewufit weg und wurden von einem unwiderstehlichen Zwang wieder angezogen. Jetzt begann er unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen. Endlich stand er auf, schwankte schwerfallig hinuber durch die Zelle, steckte die Hand tief in die Tasche seines Trainingsanzugs und hielt dem Mann mit dem Totenschadelgesicht verlegen ein verschmutztes Stuckchen Brot hin. Ein wutendes, ohrenbetaubendes Gebriill kam aus dem Televisor. Der kinnlose Mann sprang zuruck. Der Mann mit dem Totenschadelgesicht hatte rasch die Hande auf den Rucken gelegt, so, als wollte er der ganzen Welt vor Augen fuhren, dafi er die Gabe zuruckwies. »Bumstead!« brullte die Stimme. »2713 Bumstead J.! Lassen Sie das Stuck Brot fallen!« Der kinnlose Mann warf das Stuck Brot auf den Boden. 270 »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, sagte die Stimme. »Gesicht zur Tur. Ruhren Sie sich nicht.« Der kinnlose Mann gehorchte. Seine grofien Hangebacken zitterten unbeherrscht. Die Tur sprang klirrend auf . Als der junge Offizier hereinkam und beiseite trat, tauchte hinter ihm ein kleiner untersetzter Wachmann mit riesigen Armen und Schultern auf. Er nahm vor dem kinnlosen Mann Aufstellung, und dann, auf ein Zeichen des Offiziers hin, landete er einen furchtbaren Faustschlag mit Unterstutzung der ganzen Wucht seines Korpergewichts gerade auf den Mund des kinnlosen Mannes. Die Gewalt des Hiebes schien ihn fast vom Boden zu lupfen. Sein Korper wurde durch die Zelle geschleudert und von dem Klosettbecken aufgehalten. Einen Augenblick lag er wie betaubt da, wahrend dunkles Blut aus seinem Mund und seiner Nase sickerte. Ein ganz leises Wimmern oder Winseln, das unbewusst zu sein schien, entrang sich ihm. Dann rollte er auf die Seite und richtete sich unsicher auf Hande und Knie auf. Unter einem Strom von Blut und Speichel fielen die beiden Halften einer Gebifiplatte aus seinem Mund. Die Gefangenen safien ganz still, ihre Hande tiber den Knien verschrankt. Der kinnlose Mann kletterte auf seinen Platz zuruck. Sein Mund war zu einer formlosen kirschroten Masse mit einem schwarzen Loch in der Mitte geschwollen. Von Zeit zu Zeit tropfte ein wenig Blut auf die Brust seines Trainingsanzugs. Seine grauen Augen huschten noch immer von Gesicht zu Gesicht, schuldbewusster denn je, so, als wollte er herausfinden, wie sehr ihn die anderen wegen seiner Erniedrigung verachteten. Die Tur offnete sich. Mit einem kleinen Wink bezeichnete der Offizier den Mann mit dem Totenschadelgesicht. »Zimmer 101«, sagte er. Neben Winston war ein keuchendes Atmen zu horen, und eine Aufregung entstand. Der Mann hatte sich auf die Knie geworfen und hob die gefalteten Hande. »Genosse! Herr Offizier!« schrie er. »Sie brauchen mich nicht dorthin zu bringen. Hab' ich euch nicht bereits alles gesagt? Was wollt ihr noch wissen? Es gibt nichts, was ich nicht gestehen 271 wurde, nichts! Sagen Sie mir, was es sein soil, und ich gestehe es auf der Stelle. Schreiben Sie es nieder, und ich unterschreibe - alles! Nur nicht Zimmer 101 !« »Zimmer 101«, sagte der Offizier tonlos. Das schon sehr bleiche Gesicht des Mannes nahm eine Farbe an, die Winston nicht fur moglich gehalten hatte. Es war deutlich, unmissverstandlich eine Schattierung von Grtin. »Machen Sie alles mit mir!« schrie er. »Ihr habt mich seit Wochen hungern lassen. Macht weiter damit und lafit mich sterben. Erschiefit mich. Hangt mich auf. Verurteilt mich zu funfundzwanzig Jahren. 1st sonst noch jemand da, den ich angeben soil? Sagt nur, wer es ist, und ich sage alles aus, was ihr wollt. Es ist mir gleich, wer es ist oder was ihr mit ihm anfangt. Ich habe eine Frau und drei Kinder. Das grofite davon ist noch keine sechs Jahre alt. Ihr konnt sie alle nehmen und ihnen vor meinen Augen die Gurgeln abschneiden, und ich will dabeistehen und zuschauen. Aber nicht Zimmer 101 !« »Zimmer 101 !« sagte der Offizier. Der Mann blickte aufier sich rundum die anderen Gefangenen an, so, als schwebe ihm der Gedanke vor, ein anderes Opfer an seine Stelle setzen zu konnen. Seine Augen blieben an dem zerschlagenen Gesicht des kinnlosen Mannes haften. Er reckte einen mageren Arm. »Den da solltet ihr nehmen, nicht mich!« rief er. »Sie haben nicht gehort, was er gesagt hat, nachdem man ihm das Gesicht zerschlagen hat. Geben Sie mir die Moglichkeit, und ich wiederhole Ihnen jedes Wort davon. Er ist es, der gegen die Partei ist, nicht ich.« Die Wachen traten vor. Die Stimme des Mannes steigerte sich zu einem Schreien. »Sie haben ihn nicht gehort!« wiederholte er. »Etwas am Televisor war nicht in Ordnung. Er ist der, den Sie wollen. Nehmen Sie ihn, nicht mich.« Die zwei stammigen Wachleute waren stehen geblieben, um ihn an den Armen zu ergreifen. Aber gerade in diesem Augenblick 272 warf er sich auf den Boden der Zelle und umklammerte eines der eisernen Beine der Bank. Er hatte ein wortloses Geheul angestimmt, wie ein Tier. Die Wachen griffen zu und versuchten ihn loszureifien, aber er hielt sich mit erstaunlicher Kraft fest. Vielleicht zwanzig Sekunden lang zerrten sie an ihm. Die Gefangenen safien still da, die Hande auf ihren Knien gefaltet, und blickten geradeaus vor sich hin. Das Geheul horte auf; der Mann hatte keinen Atem mehr ubrig, aufier um sich festzuhalten. Dann ertonte eine andere Art von Schrei. Ein Tritt von dem Stiefel eines Wachmannes hatte die Finger seiner einen Hand gebrochen. Sie stellten ihn auf die Beine. »Zimmer 101 !«, sagte der Offizier. Der Mann wurde hinausgefuhrt. Er ging schwankend, sein Kopf war vornuber gesunken, so leckte er an seiner zermalmten Hand; sein Kampfgeist war gebrochen. Eine lange Zeit verging. Wenn es Mitternacht gewesen war, als der Mann mit dem Totenschadelgesicht abgefuhrt wurde, dann war es jetzt Morgen. War es aber Morgen gewesen, dann war es jetzt Nachmittag. Winston war allein und war seit Stunden allein gewesen. Es war eine solche Qual, auf der schmalen Bank zu sitzen, dafi er oft aufstand und umherging, ohne aus dem Televisor angeschrieen zu werden. Das Stuck Brot lag noch immer dort, wo der kinnlose Mann es hingeworfen hatte. Anfangs kostete es eine harte Anstrengung, nicht darauf hinzublicken, aber nun wich der Hunger dem Durst. Sein Mund war klebrig, und er empfand einen schlechten Geschmack. Das summende Gerausch und das unveranderte weifie Licht verursachten eine Art von Ohnmacht, ein Gefuhl der Leere in seinem Kopf. Er stand auf, weil der Schmerz in seinen Knochen nicht mehr ertraglich war, um sich dann sofort wieder hinzusetzen, weil er zu schwindlig war, um sicher auf den Fufien zu stehen. Sobald er sich ein wenig in der Gewalt hatte, befiel ihn wieder die Angst. Manchmal dachte er mit einer schwachen Hoffnung an O'Brien und die Rasierklinge. Es war denkbar, dafi die Rasierklinge in seinem Essen versteckt kam, wenn er 273 uberhaupt jemals etwas zu essen erhielt. Unbestimmter dachte er an Julia. Irgendwo litt sie, vielleicht noch schlimmer als er. Sie schrie vielleicht in diesem Augenblick vor Schmerz. Er dachte: »Wenn ich Julia dadurch retten konnte, dafi ich meine eigene Qual verdoppele, wurde ich es tun? Ja, ich tate es.« Aber das war nur ein verstandesmafiiger Entschluss, den er in dem Bewusstsein fafite, dafi er es tun sollte. Er empfand ihn nicht. Hier, an diesem Ort, konnte man nichts empfinden, aufier Qual und dem Vorauswissen der Qual. War es aufierdem moglich, aus welchem Grund auch immer zu wunschen, der eigene Schmerz moge sich vergrofiern, wenn man ihn auch wirklich erlitt? Aber diese Frage war noch nicht beantwortbar. Wieder naherten sich Stiefel. Die Tur offnete sich. O'Brien kam herein. Winston starrte auf seine Fufie. Der Schreck des Anblicks liefi ihn alle Vorsicht aufier Acht lassen. Zum erstenmal seit vielen Jahren vergafi er, dafi ein Televisor da war. »Sie haben auch Sie erwischt!« rief er. »Sie erwischten mich schon vor geraumer Zeit«, sagte O'Brien mit einer sanften, fast bedauernden Ironie. Er trat beiseite, hinter ihm trat ein breitbrustiger Wachmann mit einem langen schwarzen Gummiknuppel in der Hand hervor. Ja, erkannte er jetzt, er hatte es immer gewufit. Aber jetzt war keine Zeit, daran zu denken. Alles, wofur er Augen hatte, war der Gummiknuppel in der Hand des Wachsoldaten. Er konnte uberallhin treffen: auf den Scheitel, die Ohrspitze, den Oberarm, den Ellbogen. Den Ellbogen! Er war, fast gelahmt, auf die Knie gesunken, wahrend er mit seiner anderen Hand den getroffenen Ellbogen umklammerte. Alles war zu gelbem Licht explodiert. Unfafilich, einfach unfafilich, dafi ein Schlag solchen Schmerz verursachen konnte! Es wurde lichter, und er konnte die beiden anderen sehen, wie sie auf ihn herabblickten. Der Wachmann lachte tiber seine Verkrummungen. Eine Frage jedenf alls war beantwortet. Nie, aus keinem Grunde der Welt, konnte man eine Vergrofierung des 274 Schmerzes wunschen. Von dem Schmerz konnte man nur eines hoffen: namlich, dafi er aufhorte. Nichts auf der Welt war so schlimm wie korperlicher Schmerz. Angesichts des Schmerzes gibt es keine Helden. Es gibt es keine Helden, dachte er wieder und immer wieder, wahrend er sich auf dem Boden wand und vergeblich seinen kraftlos herunterbaumelnden Arm streichelte. Zweites Kapitel Er lag auf etwas, das sich wie ein Feldbett anfuhlte, aufier dafi es hoher vom Boden entfernt und dafi er auf irgendeine Weise darauf gefesselt war, so dafi er sich nicht ruhren konnte. Licht, das starker als gewohnlich schien, fiel auf sein Gesicht. O'Brien stand neben ihm und blickte gespannt auf ihn herab. An der anderen Seite stand ein Mann in einem weifien Mantel, eine Injektionsspritze in der Hand. Sogar nachdem er die Augen geoffnet hatte, nahm er seine Umgebung nur allmahlich in sich auf. Er hatte den Eindruck, in dieses Zimmer aus einer ganz anderen Welt, einer Art von tief unter ihr gelegenen Unterwasserwelt, empor zutauchen. Wie lange er dort unten gewesen war, wufite er nicht. Seit dem Augenblick seiner Festnahme hatte er weder Dunkelheit noch Tageslicht zu sehen bekommen. Aufierdem waren seine Erinnerungen unzusammenhangend. Es hatte Zeitspannen gegeben, in denen das Bewusstsein - sogar die Art von Bewusstsein, die man im Schlaf hat - vollkommen ausgeschaltet gewesen war und sich nach einer Zwischenpause der Leere wieder eingeschaltet hatte. Aber ob diese Zwischenpausen Tage oder Wochen oder nur Sekunden wahrten, konnte er nicht sagen. Mit jenem ersten Schlag auf den Ellbogen hatte der Alptraum 275 begonnen. Erst spater sollte er erfahren, dafi alles, was damals geschah, lediglich ein Vorspiel, ein Schabloneverhor war, dem fast alle Gefangenen unterworfen wurden. Es gab eine lange Reihe von Verbrechen - Spionage, Sabotage und dergleichen -, deren sich jeder von Anfang an schuldig bekennen mufite. Das Gestandnis war eine Formalitat, wenn auch die Folterung echt war. Wie oft er geschlagen worden war, wie lange die Prugeleien fortgesetzt wurden, konnte er sich nicht erinnern. Immer fielen ftinf oder sechs Manner in schwarzen Uniformen gleichzeitig tiber ihn her. Manchmal bearbeiteten sie ihn mit den Fausten, manchmal mit Gummiknuppeln, dann wieder mit Stahlruten oder mit den Stiefeln. Es gab Zeiten, wo er sich auf dem Boden herumwalzte, schamlos wie ein Tier, seinen Korper hierhin und dorthin duckte in einem endlosen, hoffnungslosen Bemuhen, den Fufitritten auszuweichen, und damit nur mehr und immer noch mehr Fufitritte in seine Rippen, seinen Bauch, auf seine Ellbogen, gegen seine Schienbeine, in seine Hoden, auf sein Steifibein herausforderte. Es gab Zeiten, in denen es weiter und immer weiter ging, bis ihm nicht das grausam, verrucht und unverzeihlich erschien, dafi die Wachen nicht abliefien, ihn zu schlagen, sondern dafi er sich nicht dazu zwingen konnte, das Bewusstsein zu verlieren. Es gab Zeiten, in denen ihn der Mut so im Stich liefi, dafi er sogar schon vor Beginn der Prugelei um Gnade zu schreien anting, in denen allein schon der Anblick einer zum Schlag erhobenen Faust genugte, um ihn ein Gestandnis wirklicher und erfundener Verbrechen hervorsprudeln zu lassen. Es gab andere Zeiten, wo er sich vornahm, nichts zu gestehen, so dafi jedes Wort zwischen Schmerzgekeuche aus ihm herausgepresst werden mufite, und es gab Zeiten, wo er jammerlich einen Kompromifi zu schliefien versuchte, in dem er zu sich selbst sagte: »Ich will gestehen, aber noch nicht gleich. Ich mufi so lange standhalten, bis der Schmerz unertraglich wird. Noch drei Schlage, noch zwei Schlage, und dann sage ich ihnen, was sie wollen.« 276 Manchmal wurde er geschlagen, bis er kaum mehr stehen konnte, dann wie ein Sack Kartoffeln auf den Steinboden einer Zelle geworfen und ein paar Stunden in Ruhe gelassen, um sich wieder zu erholen, und dann herausgefuhrt und erneut geschlagen. Es gab auch langere Erholungspausen. Er entsann sich ihrer undeutlich, denn er hatte sie meist schlafend oder in stumpfer Betaubung verbracht. Er erinnerte sich an eine Zelle mit einer Pritsche, einem aus der Wand herausragenden Gestell und einer blechernen Waschschussel, ferner an Mahlzeiten, bestehend aus warmer Suppe, Brot und manchmal Kaffee. Er erinnerte sich eines murrischen Friseurs, der ihm das Kinn zu schaben und die Haare zu schneiden kam, und geschaftsmafiiger, unbarmherziger Manner in weifien Manteln, die ihm den Puis fuhlten, das Funktionieren seiner Reflexe pruften, ihm die Augenlider hochhoben, ihn mit sachlichen Fingern nach einem gebrochenen Knochen abtasteten und ihm Injektionsnadeln in den Arm stiefien, damit er schlafen konnte. Die Priigeleien wurden weniger haufig angewandt, in der Hauptsache als Drohung, als ein Schreckmittel, dem er in jedem Augenblick wieder ausgeliefert werden konnte, wenn seine Antworten unbefriedigend ausfielen. Die ihn Verhorenden waren jetzt keine Rohlinge in schwarzer Uniform, sondern Partei-Intellektuelle, kleine rundliche Manner mit raschen Bewegungen und blitzenden Brillenglasern, die ihn, einander ablosend, in Zeitspannen von - wie er glaubte, denn sicher konnte er es nicht sagen - zehn oder zwolf Stunden unaufhorlich bearbeiteten. Diese ihn jetzt Vernehmenden sorgten dafur, dafi er standig unter der Betaubung eines leisen Schmerzes stand, aber in der Hauptsache verliefien sie sich nicht auf den Schmerz. Sie schlugen ihn wohl ins Gesicht, verdrehten ihm die Ohren, rissen ihn an den Haaren, liefien ihn auf einem Bein stehen, erlaubten ihm nicht, Wasser zu lassen, hielten ihm blendendes Licht vor das Gesicht, bis ihm die Tranen aus den Augen liefen; aber alles 277 das diente nur dazu, ihn zu demutigen und ihm die Kraft zum Widerstand und zu vernunftigem Denken zu nehmen. Ihre wirkliche Waffe war das unerbittliche Verhor, das weiter und immer weiter ging, Stunde um Stunde, das ihn aus dem Konzept brachte, ihm Fallen stellte, alle seine Worte verdrehte, ihn bei jedem Schritt der Lugen und des Widerspruchs schuldig erklarte, bis er aus Beschamung sowie aus nervoser Erschopfung zu weinen anting. Manchmal weinte er ein halbes Dutzend Mai im Verlauf einer einzigen Vernehmung. Die meiste Zeit schrieen sie ihn mit Schimpfnamen an und drohten ihm bei jedem Zogern, ihn wieder den Wachen auszuliefern. Manchmal aber anderten sie plotzlich ihre Tonart, nannten ihn Genosse, ermahnten ihn im Namen von Engsoz und dem Grofien Bruder und fragten ihn kummervoll, ob er denn sogar jetzt noch nicht genugend Treue der Partei gegenuber aufbringen konnte, um zu wunschen, das getane Unrecht wieder gutzumachen. Wenn seine Nerven nach stundenlangem Verhor in Fetzen waren, dann konnte ihn sogar diese Mahnung zu triefenden Tranen bringen. Am Schlufi erledigten ihn die qualenden Stimmen griindlicher als die Stiefel und Fauste der Wachen. Er wurde nur noch zu einem Mund, der etwas stammelte, und einer Hand, die unterschrieb, was man von ihm wollte. Er hatte nur noch einen Wunsch, namlich herauszufinden, was sie wollten, das er gestehen sollte, um es dann rasch zu gestehen, ehe die Qualerei von neuem anting. Er bekannte sich schuldig der Ermordung fuhrender Parteimitglieder, der Verbreitung aufruhrerischer Flugschriften, der Unterschlagung offentlicher Mittel, des Verrats militarischer Geheimnisse und der Sabotage aller Art. Er bekannte, bereits im Jahre 1968 ein von der Regierung Ostasiens bezahlter Spion gewesen zu sein. Er bekannte sich als einen religios Glaubigen, einen Bewunderer des Kapitalismus und eines sexuell Pervertierten. Er bekannte, seine Frau ermordet zu haben, obwohl er wufite - und seine Befrager wissen mufiten -, dafi seine Frau noch am Leben war. Er bekannte, seit Jahren in 278 personlicher Verbindung mit Goldstein gestanden zu haben und das Mitglied einer Untergrundorganisation gewesen zu sein, der fast jeder Mensch, den er nur je gekannt hatte, angehort hatte. Es war leichter, alles zu gestehen und Gott und die Welt mit hineinzuverwickeln. Aufierdem war in gewisser Weise alles wahr. Es war wahr, dafi er ein Feind der Partei gewesen war, und in den Augen der Partei bestand kein Unterschied zwischen Gedanken und Taten. Es gab auch noch andere Erinnerungen. Sie hoben sich in seinem Denken unzusammenhangend ab, wie rings von Dunkelheit umgebene Bilder. Er befand sich in einer Zelle, die entweder dunkel oder hell gewesen sein mochte, denn er konnte nichts als nur ein paar Augen unterscheiden. In seiner Nahe tickte langsam und regelmafiig ein Apparat. Die Augen wurden grofier und leuchtender. Plotzlich schwebte er aus seinem Sitz empor, tauchte in die Augen und wurde aufgesogen. Er war unter blendendem Licht auf einen von Skalenscheiben umgebenen Stuhl festgeschnallt. Ein Mann in weifiem Mantel las die Skalen ab. Draufien horte man das Getrampel schwerer Stiefel. Die Tur offnete sich klirrend. Der Offizier mit dem Wachsmaskengesicht marschierte, von zwei Wachen gefolgt, herein. »Zimmer 101 !«, sagte der Offizier. Der Mann im weifien Mantel drehte sich nicht um. Er sah auch Winston nicht an; er blickte nur auf die Skalen. Er walzte sich einen riesigen Gang von einem Kilometer Breite hinunter, der von strahlendem, goldenem Licht erfullt war, brullend vor Lachen und mit Aufwand seiner ganzen Stimme Gestandnisse hinausschreiend. Er gestand alles, sogar die Dinge, die er unter der Folter zu verschweigen fertiggebracht hatte. Er berichtete seine ganze Lebensgeschichte einer Zuhorerschaft, die sie bereits kannte. Mit ihm walzten sich die Wachen, die anderen Verhorenden, die Manner in weifien Manteln, O'Brien, Julia, Herr Charrington, alle 279 zusammen vor Lachen brullend den Gang hinunter. Etwas Schreckliches, das im Schofi der Zukunft gelegen hatte, war irgendwie ubersprungen worden und nicht Wirklichkeit geworden. Alles war schon und gut, es gab keinen Schmerz mehr, die letzte Einzelheit seines Lebens war blofigelegt, verstanden und vergeben. Er fuhr von der Pritsche hoch, in der halben Gewissheit, O'Briens Stimme gehort zu haben. Wahrend seines ganzen Verhors hatte er, obwohl er ihn nie gesehen hatte, das Gefuhl gehabt, O'Brien stehe unmittelbar neben ihm, er sei es, der alles leitete. Er sei es, der die Wachen auf Winston hetzte und der sie daran hinderte, ihn zu toten. Ihm war, als entschied O'Brien daruber, wann Winston vor Schmerz schreien, wann er seine Erholungspause haben, wann er etwas zu essen bekommen, wann er schlafen sollte und wann die Drogen in seinen Arm eingespritzt werden sollten. Er stellte die Fragen und bestimmte die Antworten. Er war der Peiniger, der Beschutzer, der Inquisitor, der Freund. Und einmal - Winston konnte sich nicht erinnern, ob es im narkotischen oder im Normalschlaf oder gar in einem Augenblick des Wachzustandes war - murmelte ihm eine Stimme ins Ohr: »Keine Angst, Winston, du bist in meiner Hut. Sieben Jahre habe ich dich beobachtet. Nun ist der Wendepunkt gekommen. Ich werde dich retten, dich zum Rechten fuhren.« Er war nicht sicher, ob es O'Briens Stimme war; aber es war die gleiche Stimme, die in jenem anderen Traum vor sieben Jahren zu ihm gesagt hatte: »Wir werden uns an einem Ort treffen, wo keine Dunkelheit herrscht.« Er erinnerte sich nicht, dafi sein Verhor jemals ein Ende genommen hatte. Es kam eine Zeitspanne, wo alles schwarz war, und dann hatte die Zelle oder das Zimmer, in dem er sich nun befand, langsam um ihn herum Gestalt angenommen. Er lag fast flach auf dem Rucken und war aufierstande, eine Bewegung zu machen. Sein Korper wurde an jedem in Frage kommenden Punkt niedergehalten. Sogar sein Hinterkopf war auf irgendeine Weise festgeklammert. O'Brien blickte ernst und fast traurig auf 280 ihn herunter. Sein Gesicht sah von unten gesehen derb und abgespannt aus, mit Sacken unter den Augen und muden Linien von der Nase zum Kinn. Er war alter, als Winston gedacht hatte; er war vielleicht achtundvierzig oder funfzig Jahre alt. Seine Hand lag auf einer Skala mit einem Hebel darauf, mit rings um die Scheibe angeordneten Zahlen. »Ich sagte Ihnen«, erklarte O'Brien, »wenn wir uns wieder trafen, wurde es hier sein.« »Ja«, sagte Winston. Ohne jede Warnung, aufier einer kleinen Bewegung von O'Briens Hand, durchflutete eine Schmerzenswelle seinen Leib. Es war ein erschreckender Schmerz, denn er konnte nicht sehen, was vor sich ging, und hatte das Gefuhl, als wurde ihm eine todbringende Verletzung zugefugt. Er wufite nicht, ob sich der Vorgang wirklich abspielte oder die Wirkung elektrisch hervorgebracht wurde; aber sein Leib wurde aus der Form gedehnt, die Gelenke langsam auseinandergezerrt. Obwohl der Schmerz den Schweifi auf seiner Stirn hatte ausbrechen lassen, war doch das Schlimmste vor allem die Angst, sein Ruckgrat sei im Begriff, auseinander zureifien. Er bifi die Zahne zusammen und atmete angestrengt durch die Nase in dem Bemuhen, sich so lange wie moglich still zu verhalten. »Sie haben Angst«, sagte O'Brien, der sein Gesicht beobachtete, »dafi im nachsten Augenblick etwas birst. Sie furchten besonders, dafi es Ihr Ruckgrat sein konnte. Ihnen schwebt lebhaft das Bild vor, dafi die Ruckenwirbel auseinander schnappen und das Ruckenmark zwischen ihnen heraustropft. Das sind Ihre Gedanken, stimmt's, Winston?« Winston antwortete nicht. O'Brien drehte den Hebel auf der Scheibe zuruck. Die Schmerzenswelle ebbte fast ebenso schnell ab, wie sie gekommen war. »Das ware Starke vierzig«, bemerkte O'Brien. »Sie konnen sehen, dafi die Zahlen auf dieser Skala bis hundert reichen. Wollen Sie bitte wahrend unserer ganzen Unterhaltung daran denken, dafi es in unserer Macht steht, Ihnen in jedem Augenblick und in 281 jedem von mir gewtinschten Grad Schmerz zuzuftigen. Wenn Sie mir Ltigen auftischen oder irgendwelche Ausfltichte zu machen versuchen, oder auch nur sich dtimmer stellen, als Sie sind, werden Sie sofort vor Schmerz aufschreien. Haben Sie verstanden?« »Ja«, sagte Winston. O'Briens Art und Weise wurde weniger streng. Er rtickte nachdenklich seine Brille zurecht und machte ein paar Schritte hin und her. Als er sprach, war seine Stimme sanft und geduldig. Er sah aus wie ein Arzt, ein Lehrer, ja sogar wie ein Priester, mehr darauf bedacht, zu erklaren und zu tiberreden, als zu bestrafen. »Ich gebe mir Mtihe mit Ihnen, Winston«, sagte er, »denn bei Ihnen lohnt sich die Mtihe. Sie wissen sehr wohl, was mit Ihnen los ist. Sie wufiten es seit Jahren, wenn Sie es auch nicht wissen wollten. Sie sind geistesgestort. Sie leiden an einem Gedachtnisdefekt. Sie sind aufierstande, sich wirklicher Geschehnisse zu erinnern, und reden sich ein, sich an andere Geschehnisse zu erinnern, die nie stattfanden. Zum Gltick ist das heilbar. Sie haben sich nie davon geheilt, weil Sie es nicht wollten. Es bedurfte einer kleinen Willensanstrengung, die zu machen Sie nicht willens waren. Sogar jetzt halten Sie an Ihrer moralischen Krankheit fest in dem Wahn, sie sei eine Tugend. Nun wollen wir mal ein Beispiel hernehmen. Mit welcher Macht ist Ozeanien augenblicklich im Kriegszustand?« »Als ich verhaftet wurde, befand sich Ozeanien im Kriegszustand mit Ostasien.« »Mit Ostasien. Richtig. Und Ozeanien hat sich immer im Kriegszustand mit Ostasien befunden, nicht wahr?« Winston schopfte Atem. Er machte den Mund auf, um zu sprechen, und sprach dann doch nicht. Er konnte seinen Blick nicht von der Skala wegwenden. »Die Wahrheit, bitte, Winston. Ihre Wahrheit. Sagen Sie mir, was Sie sich zu erinnern glauben.« 282 »Ich erinnere mich, dafi wir uns eine Woche vor meiner Verhaftung uberhaupt noch nicht im Krieg mit Ostasien befanden. Wir hatten ein Bundnis mit Ostasien. Der Krieg war gegen Eurasien gerichtet. Dieser hatte vier Jahre gedauert. Vorher..." O'Brien gebot ihm mit einer Handbewegung Einhalt. »Ein anderes Beispiel«, sagte er. »Vor einigen Jahren hatten Sie unter einer tatsachlich sehr ernsten Selbsttauschung zu leiden. Sie glaubten, drei Manner, drei ehemalige Parteimitglieder namens Jones, Aaronson und Rutherford - Manner, die wegen Hochverrat und Sabotage hingerichtet wurden, nachdem sie das denkbar umfassendste Gestandnis abgelegt hatten -, seien der Verbrechen, deren sie angeklagt wurden, nicht schuldig. Sie glaubten, einen unumstofilichen dokumentarischen Beweis gesehen zu haben, wonach ihre Gestandnisse falsch waren. Es spielte da eine gewisse Fotografie eine Rolle, bezuglich der Sie eine Halluzination gehabt hatten. Sie glaubten, sie tatsachlich in Handen gehalten zu haben. Es war eine Fotografie ungefahr wie diese da.« Ein langlicher Zeitungsausschnitt war zwischen O'Briens Fingern zum Vorschein gekommen. Vielleicht ftinf Sekunden lang befand er sich in Winstons Gesichtswinkel. Es war eine Fotografie, und es bestand keine Frage, was sie darstellte. Es war die Fotografie. Es war ein anderer Abzug der Aufnahme von Jones, Aaronson und Rutherford bei der Parteifunktion in New York, auf der er vor elf Jahren zufallig gestofien war und die er sogleich vernichtet hatte. Nur einen Augenblick hatte er einen Blick darauf werfen konnen, dann war sie wieder fort. Aber er hatte sie gesehen, hatte sie fraglos gesehen! Er machte eine verzweifelte, qualvolle Anstrengung, seine obere Korperhalfte zu befreien. Es war unmoglich, sich auch nur um einen Zentimeter in irgendeiner Richtung zu bewegen. In diesem Augenblick hatte er sogar die Skala vergessen. Er wollte nur noch einmal die Fotografie in Handen halten oder sie wenigstens sehen. 283 »Sie ist vorhanden!« rief er. »Nein«, sagte O'Brien. Er ging durchs Zimmer. In der Wand druben befand sich ein Gedachtnis-Loch. O'Brien hob das Schlitzgitter. Ungesehen wirbelte das leichte Stuckchen Papier in dem Warmluftzug davon; es verschwand in einem Aufflammen. O'Brien wendete sich von der Wand ab. »Asche«, sagte er. »Nicht einmal identifizierte Asche. Staub. Es ist nicht vorhanden. War nie vorhanden.« »Aber es war vorhanden! Ist vorhanden! Es ist in meiner Erinnerung vorhanden. Ich erinnere mich daran. Sie erinnern sich daran.« »Ich erinnere mich nicht daran«, sagte O'Brien. Winstons Mut sank. Das war Doppeldenk. Es uberkam ihn ein Gefuhl vollstandiger Hilflosigkeit. Wenn er hatte sicher sein konnen, dafi O'Brien log, dann hatte das nichts ausgemacht. Aber es war durchaus moglich, dafi O'Brien das Bild wirklich vergessen hatte. Und wenn dem so war, dann hatte er bereits vergessen, dafi er geleugnet hatte, sich an sie zu erinnern, und auch den Vorgang des Vergessens vergessen. Wie konnte man sicher sein, dafi es nur Betrug war? Vielleicht konnte diese verruckte Korrektur nach unseren Wunschen wirklich im Verstand vor sich gehen: das war der Gedanke, der ihn niederschmetterte. O'Brien blickte prufend auf ihn hinunter. Mehr als je sah er aus wie ein Lehrer, der sich mit einem widerspenstigen, aber vielversprechenden Kinde Mtihe gibt. »Es gibt einen Partei-Wahlspruch bezuglich der Kontrolle der Vergangenheit«, sagte er. »>Wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit<«, wiederholte Winston folgsam. »>Wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrolliert die Vergangenheit<«, sagte O'Brien mit einem zustimmenden 284 Kopfnicken. »Sie sind der Meinung, Winston, dafi die Vergangenheit eine tatsachliche Existenz hat?« Wieder bemachtigte sich Winstons das Gefuhl der Hilflosigkeit. Seine Augen suchten rasch die Skala. Nicht nur wufite er nicht, ob »ja« oder »nein« die richtige Antwort war, die ihn vor Schmerz bewahren wurde; er wufite nicht einmal, welche Antwort ihm die richtige schien. O'Brien lachelte leise. »Sie sind kein Metaphysiker, Winston«, sagte er. »Bis jetzt hatten Sie nie in Betracht gezogen, was mit Existenz gemeint ist. Ich will es deutlicher ausdrucken. Existiert die Vergangenheit konkret - im Raum? Gibt es irgendwo einen Ort, eine Welt greifbarer Dinge, wo die Vergangenheit noch in Erscheinung tritt?« »Nein.« »Wo dann existiert die Vergangenheit, wenn uberhaupt?« »In Aufzeichnungen. Sie ist niedergeschrieben.« »In Aufzeichnungen. Und?« »Im Denken. Im Gedachtnis der Menschen.« »Im Gedachtnis. Nun, dann also gut. Wir, die Partei, kontrollieren alle Aufzeichnungen, und wir kontrollieren alle Erinnerungen. Demnach also kontrollieren wir die Vergangenheit, oder nicht?« »Aber wie konnt ihr die Menschen daran hindern, sich an Dinge zu erinnern?« rief Winston, der wieder einen Augenblick die Skala vergafi. »Es geschieht unwillkurlich. Man kann nichts dagegen tun. Wie konnt ihr das Gedachtnis kontrollieren? Meines habt ihr nicht kontrolliert!« O'Briens Verhalten wurde wieder streng. Er legte die Hand auf die Zahlenscheibe. »Umgekehrt«, sagte er. »Sie haben es nicht kontrolliert. Das hat Sie hierher gebracht. Sie sind hier, weil Sie es an Demut, an Selbstdisziplin haben fehlen lassen. Sie wollten den Akt der Unterwerfung nicht vollziehen, der der Preis ist fur geistige Gesundheit. Sie zogen es vor, ein Verruckter, eine Minderheit von einem einzelnen zu sein. Nur der geschulte Geist erkennt die Wirklichkeit, Winston. 285 Sie glauben, Wirklichkeit sei etwas Objektives, aufierlich Vorhandenes, aus eigenem Recht Bestehendes. Auch glauben Sie, das Wesen der Wirklichkeit sei an sich klar. Wenn Sie sich der Selbsttauschung hingeben, etwas zu sehen, nehmen Sie an, jedermann sehe das gleiche wie Sie. Aber ich sage Ihnen, Winston, die Wirklichkeit ist nicht etwas an sich Vorhandenes. Die Wirklichkeit existiert im menschlichen Denken und nirgendwo anders. Nicht im Denken des einzelnen, der irren kann und auf jeden Fall bald zugrunde geht: nur im Denken der Partei, die kollektiv und unsterblich ist. Was immer die Partei fur Wahrheit halt, ist Wahrheit. Es ist unmoglich, die Moglichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache mussen Sie wieder lernen, Winston. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes. Sie mussen sich demutigen, ehe Sie geistig gesund werden konnen.« Er wartete ein paar Augenblicke, wie um das Gesagte erst einmal wirken zu lassen. »Erinnern Sie sich«, fuhr er fort, »in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben: >Freiheit ist die Freiheit zu sagen, dafi zwei und zwei vier istDu sollst nicht.< Das Gebot der totalitaren Systeme hiefi: >Du sollst.< Unser Gebot ist: >Sei.< Kein Mensch, den wir hierher bringen, halt je seinen Widerstand uns gegenuber aufrecht. Jeder wird reingewaschen. Sogar diese drei elenden Verrater, an deren Unschuld Sie einmal glaubten - Jones, Aaronson und Rutherford - haben wir am Schlufi eines Besseren belehrt. Ich nahm selbst an ihrem Verhor teil. Ich sah sie langsam murbe werden, winseln, kriechen, weinen - und zwar zuletzt nicht aus Schmerz oder Furcht, sondern lediglich aus Reue. Als wir fertig waren mit ihnen, waren sie nur noch leere Hiillen von Menschen. In ihnen war nichts anderes mehr ubrig geblieben als Reue tiber das, was sie getan hatten, und Liebe zum Grofien Bruder. Es war ruhrend anzusehen, wie sehr sie ihn liebten. Sie baten, rasch erschossen zu werden, um sterben zu konnen, solange ihr Denken noch sauber war.« Seine Stimme war fast traumerisch geworden. Die Uberspanntheit, die verruckte Begeisterung waren noch in seinem Gesicht. Er tut nicht nur so als ob, dachte Winston; er ist kein Heuchler; er glaubt jedes Wort, das er sagt. Was ihn am meisten bedrilckte, war das Bewufitsein seiner eigenen geistigen Unterlegenheit. Er beobachtete die wuchtige, aber sich elegant bewegende Gestalt, wie sie hin und her schlenderte, in seinen Gesichtskreis und wieder aus ihm heraus trat. O'Brien war ein in jeder Beziehung grofierer Mensch als er. Es gab keinen Gedanken, den er je gehabt hatte oder haben konnte, den O'Brien nicht schon langst gedacht, gepruft und verworfen hatte. Sein Denken umfafite Winstons Denken. Aber wie konnte es in diesem Falle stimmen, dafi O'Brien verruckt war? Er, 293 Winston, mufite der Verruckte sein. O'Brien blieb stehen und blickte auf ihn hinunter. Seine Stimme war wieder streng geworden. »Bilden Sie sich nicht ein, sich retten zu konnen, Winston, auch wenn Sie sich uns noch so vollkommen beugen. Keiner, der je vom rechten Weg abgewichen ist, wird geschont. Und sogar wenn wir es vorzogen, Sie Ihr Leben bis zu seinem naturlichen Ende leben zu lassen, so wurden Sie doch nie mehr von uns loskommen. Was Ihnen hier geschieht, gilt fur immer. Merken Sie sich das im Voraus. Wir zermalmen Sie bis zu dem Punkt, von dem es kein Zuruck mehr gibt. Dinge werden Ihnen widerfahren, von denen Sie sich nicht freimachen konnten, und wenn Sie tausend Jahre alt wurden. Nie wieder werden Sie zu einem gewohnlichen menschlichen Empfinden fahig sein. Alles in Ihnen ist tot. Nie wieder werden Sie der Liebe, der Freundschaft, der Lebensfreude, des Lachens, der Neugierde, des Mutes oder der Lauterkeit fahig sein. Sie werden ausgehohlt sein. Wir werden Sie leer pressen und dann mit unserem Gedankengut fullen.« Er verstummte und winkte dem Mann im weifien Mantel. Winston merkte, wie eine schwere Apparatur hinter seinem Kopf herangeschoben wurde. O'Brien hatte sich neben das Streckbett gesetzt, so dafi sein Gesicht fast in gleicher Hohe mit dem Winstons war. »Dreitausend«, sagte O'Brien, tiber Winstons Kopf hinweg zu dem Mann im weifien Mantel. Zwei weiche, ein wenig feucht sich anfuhlende Polster legten sich an Winstons Schlafen. Er zitterte. Jetzt kam wieder ein Schmerz, eine neue Art von Schmerz. O'Brien legte eine Hand beruhigend auf seine. »Diesmal wird es nicht wehtun Halten Sie Ihre Augen in meine gerichtet.« In diesem Augenblick erfolgte eine furchtbare Explosion, oder was eine Explosion zu sein schien, obwohl es nicht sicher war, dafi ein Larm zu horen war. Zweifellos hatte ein blendender Blitz aufgezischt. Winston war nicht verletzt, nur niedergeschmettert. 294 Obwohl er bereits auf dem Rticken gelegen hatte, als die Entladung erfolgte, hatte er ein merkwurdiges Gefuhl, in diese Lage umgeworfen worden zu sein. Ein furchtbarer, schmerzloser Stofi hatte ihn flach niedergeprefit. Auch in seinem Kopf war etwas vor sich gegangen. Als seine Augen wieder richtig eingestellt waren, erinnerte er sich, wer und wo er war, und erkannte das Gesicht wieder, das in seines starrte. Aber irgendwie machte sich eine grofie Leere geltend, so als sei ein Stuck von seinem Gehirn herausgenommen worden. »Es bleibt nicht so«, sagte O'Brien. »Schauen Sie mir in die Augen. Mit welchem Land liegt Ozeanien im Krieg?« Winston uberlegte. Er wufite, was mit Ozeanien gemeint war, und dafi er ein Burger Ozeaniens war. Auch an Eurasien und Ostasien erinnerte er sich. Wer aber mit wem im Krieg lag, wufite er nicht. Tatsachlich war er sich gar nicht bewufit gewesen, dafi uberhaupt ein Krieg herrschte. »Ich entsinne mich nicht.« »Ozeanien liegt mit Ostasien im Krieg. Erinnern Sie sich jetzt daran?« »Ja.« »Ozeanien ist immer mit Ostasien im Krieg gelegen. Seit Beginn Ihres Lebens, seit der Grundung der Partei, seit Anfang der Geschichte hat der Krieg ohne Unterbrechung fortgedauert, immer derselbe Krieg. Erinnern Sie sich dessen?« »Ja.« »Vor elf Jahren erfanden Sie eine Legende von drei Mannern, die wegen Hochverrat zum Tode verurteilt worden waren. Sie gaben vor, einen Zeitungsausschnitt gesehen zu haben, der ihre Schuldlosigkeit bewies. Ein solches Stuck Papier hat nie existiert. Sie haben es erfunden und glaubten spater selbst daran. Sie erinnern sich jetzt an den Augenblick, an dem Sie es zum erstenmal erfanden. Erinnern Sie sich daran?« »Ja.« »Eben erst hielt ich die Finger meiner Hand fur Sie empor. Sie sahen ftinf Finger. Erinnern Sie sich dessen?« 295 »Ja.« O'Brien hielt die Finger seiner linken Hand, den Daumen versteckt, empor. »Hier sind ftinf Finger. Sehen Sie ftinf Finger?« »Ja.« Und er sah sie wirklich, einen fltichtigen Augenblick lang, bevor sich das Bild vor seinem Geist wieder gewandelt hatte. Er sah ftinf Finger, und ihnen haftete nichts Mifigestaltetes an. Dann war wieder alles normal, und die alte Furcht, der Hass und die Verwirrung kehrten wieder zurtick. Aber es hatte einen Augenblick gegeben - er wufite nicht, wie lange er gewahrt hatte, vielleicht dreifiig Sekunden -, in dem eine leuchtende Gewifiheit ihn beseelt, in dem jede neue Behauptung O'Briens eine leere Stelle ausgeftillt hatte und zur absoluten Wahrheit geworden war, und in dem zwei und zwei ebenso gut drei hatte sein konnen als ftinf, wenn es notig war. Dieser Augenblick war verstrichen, ehe O'Brien die Hand hatte sinken lassen; aber wenn er ihn auch nicht wiederherstellen konnte, so konnte er sich doch daran erinnern, so wie man sich an ein lebhaftes Erlebnis in einer fernen Zeit seines Lebens erinnert, als man in Wahrheit ein anderer Mensch war. »Sie sehen jetzt«, sagte O'Brien, »dafi es in jedem Falle moglich ist.« »Ja«, sagte Winston. O'Brien stand mit einer befriedigten Miene auf. Links hinter ihm sah Winston den Mann im weifien Mantel eine Ampulle abbrechen und den Kolben einer Spritze zurtickziehen. Mit einem Lacheln wandte sich O'Brien zu Winston. Fast in der alten Art rtickte er seine Brille auf der Nase zurecht. Clara.Fall@hotmail.de »Erinnern Sie sich, in Ihr Tagebuch geschrieben zu haben«, sagte er, »dafi es nichts ausmachte, ob ich ein Freund oder ein Feind sei, da ich wenigstens ein Mensch war, der Sie verstand und mit dem man reden konnte? Sie hatten Recht. Ich rede gerne mit Ihnen. Ihr Geist sagt mir zu. Er ahnelt meinem eigenen, nur dafi Sie wahnsinnig sind. Ehe wir die Sitzung beenden, konnen Sie, wenn Sie wollen, ein paar Fragen an mich stellen.« 296 »Jede Frage, die ich will?« »Alles.« Er sah, dafi Winstons Blick auf die Zahlenscheibe gerichtet war. »Sie ist abgestellt. Wie lautet Ihre erste Frage?« »Was hat man mit Julia gemacht?« sagte Winston. O'Brien lachelte wieder. »Sie hat Sie verraten, Winston. Sofort - ruckhaltlos. Ich habe selten jemand so rasch zu uns ubertreten sehen. Sie wurden sie kaum wiedererkennen, wenn Sie sie sehen. Ihre ganze Widerspenstigkeit, ihre Tucke, ihre Narrheit, ihre niedrige Gesinnung - alles das wurde ihr ausgebrannt. Es war eine vollstandige Bekehrung, das richtige Schulbeispiel.« »Man hat sie gefoltert.« O'Brien liefi das unbeantwortet. »Nachste Frage«, sagte er. »Existiert der Grofie Bruder?« »Naturlich existiert er. Die Partei existiert. Der Grofie Bruder ist die Verkorperung der Partei. « »Existiert er so, wie ich existiere?« »Sie existieren nicht«, sagte O'Brien. Wieder uberfiel ihn das Gefuhl der Hilflosigkeit. Er kannte die Argumente, oder konnte sie sich vorstellen, die seine eigene Nichtexistenz bewiesen; aber sie waren Unsinn, sie waren nur ein Spiel mit Worten. Enthielt nicht die Feststellung »Sie existieren nicht« eine logische Sinnwidrigkeit? Aber was fur einen Zweck hatte es, das auszusprechen? Sein Geist scheute zuruck, als er an die unbeantwortbaren, verruckten Argumente dachte, mit denen O'Brien ihn abtun wurde. »Ich glaube, ich existiere«, sagte er rnude. »Ich bin mir meines Ichs bewufit. Ich wurde geboren und werde sterben. Ich habe Arme und Beine. Ich nehme einen gewissen Platz im Raum ein. Kein anderer fester Gegenstand kann gleichzeitig den gleichen Platz einnehmen. Existiert der Grofie Bruder in diesem Sinne?« »Das ist ohne Bedeutung. Er existiert.« »Wird der Grofie Bruder jemals sterben?« »Naturlich nicht. Wie konnte er sterben? Nachste Frage. « »Gibt es die Bruderschaft?« 297 »Das, Winston, werden Sie nie erfahren. Falls wir beschliefien, Ihnen die Freiheit zuruckzugeben, wenn wir mit Ihnen fertig sind, und Sie leben weiter, bis Sie neunzig Jahre alt sind, werden Sie doch nie erfahren, ob die Antwort auf diese Frage ja oder nein lautet. So lange Sie leben, wird das in Ihrem Denken ein ungelostes Ratsel sein.« Winston lag still da. Seine Brust hob und senkte sich ein wenig rascher. Noch hatte er nicht die Frage gestellt, die ihm als erste in den Sinn gekommen war. Er mufite sie stellen, und doch war es so, als wollte sie ihm nicht tiber die Lippen kommen. Ein Anflug von Belustigung lag auf O'Briens Gesicht. Sogar seine Brillenglaser schienen ironisch zu glanzen. Er weifi, dachte Winston plotzlich, er weifi, was ich fragen will! Bei diesem Gedanken brachen die Worte aus ihm heraus: »Was ist in Zimmer 101?« O'Brien antwortete trocken: »Sie wissen, was in Zimmer 101 ist, Winston. Jedermann weifi, was in Zimmer 101 ist.« Er hob einen Finger zu dem Mann im weifien Mantel. Offenbar war das Verhor zu Ende. Eine Nadel drang in Winstons Arm. Fast augenblicklich sank er in tiefen Schlaf. Drittes Kapitel »Ihre Umerziehung geht in drei Etappen vor sich«, sagte O'Brien. »Lernen, verstehen und bejahen. Es ist an der Zeit fur Sie, in die zweite Etappe einzutreten.« Wie immer lag Winston flach auf dem Rucken. Aber in letzter Zeit hatten sich seine Fesseln gelockert. Sie hielten ihn zwar noch auf dem Streckbett nieder, aber er konnte seine Knie ein wenig bewegen, seinen Kopf von einer Seite auf die andere drehen und seinen Arm vom Ellbogen an beugen. Auch die Skala war kein 298 solcher Schrecken mehr. Er konnte ihre Qualen vermeiden, wenn er gewitzigt genug war: hauptsachlich wenn er Dummheit an den Tag legte, drehte O'Brien den Hebel. Manchmal kam die Skala eine ganze Sitzung hindurch nicht in Anwendung. Er konnte sich nicht erinnern, wie viele Sitzungen stattgefunden hatten. Die ganze Prozedur schien sich tiber eine lange, unbestimmte Zeit - moglicherweise waren es Wochen - hinzuziehen, und die Zwischenzeiten zwischen den Sitzungen mochten manchmal Tage, manchmal nur eine oder zwei Stunden betragen haben. »Wahrend Sie so dalagen«, sagte O'Brien, »haben Sie sich oft gefragt - ja, sogar mich gefragt -, warum das Ministerium fur Liebe soviel Zeit und Mtihe an Sie wendet. Und wenn Sie frei waren, zerbrachen Sie sich den Kopf tiber die im Grunde gleiche Frage. Sie konnten den Mechanismus der Gesellschaft, in der Sie lebten, begreifen, nicht aber die ihr zugrunde liegenden Beweggrtinde. Erinnern Sie sich, dafi Sie in Ihr Tagebuch geschrieben haben: >Das Wie verstehe ich, aber nicht das Warum<. Wenn Sie tiber das >Warum< nachdachten, zweifelten Sie an Ihrer eigenen Vernunft. Sie haben das Buch, Goldsteins Buch, oder wenigstens Teile davon gelesen. Hat es Ihnen irgend etwas gesagt, was Sie nicht schon wufiten?« »Sie haben es gelesen?« fragte Winston. »Ich schrieb es. Das heifit, ich arbeitete bei seiner Abfassung mit. Kein Buch wird von einem einzelnen hervorgebracht, wie Sie wissen.« »Ist es wahr, was darin steht?« »Als Schilderung, ja. Das Programm, das es entwickelt, ist Unsinn. Geheime Aufspeicherung von Wissen - eine allmahlich um sich greifende Aufklarung - schliefilich eine proletarische Erhebung - der Sturz der Partei. Sie sahen selbst voraus, dafi es inhaltlich auf das hinauskommen wtirde. Das ist alles Unsinn. Die Proletarier werden sich nie erheben, nicht in tausend oder einer Million Jahren. Sie konnen es nicht. Ich brauche Ihnen den Grund nicht zu sagen: Sie kennen 299 ihn bereits. Wenn Sie jemals Traume von einem gewaltsamen Aufstand gehegt haben, dann miissen Sie sie aufgeben. Es gibt keine Moglichkeit, mit Hilfe derer die Partei gesturzt werden konnte. Die Herrschaft der Partei gilt fur immer. Nehmen Sie das zum Ausgangspunkt Ihrer Uberlegungen.« Er trat naher an das Streckbett heran. »Fur immer!« wiederholte er. »Und nun lassen Sie uns zu der Frage von >Wie< und >Warum< zuriickkommen. Sie verstehen recht gut, wie die Partei sich an der Macht halt. Nun aber sagen Sie mir, warum halten wir an der Macht fest? Was ist unser Beweggrund? Warum sollten wir Macht wunschen? Los, reden Sie«, fugte er hinzu, als Winston stumm blieb. Trotzdem sagte Winston ein paar weitere Augenblicke lang nichts. Ein Gefuhl des Uberdrusses hatte ihn uberkommen. Der undeutliche, irre Begeisterungsschimmer war wieder auf O'Briens Gesicht erschienen. Er wufite im Voraus, was O'Brien sagen wiirde. Namlich, dafi die Partei die Macht nicht um ihrer eigenen Zwecke willen anstrebte, sondern nur zum Wohlergehen der Menschheit. Dafi sie die Macht suchte, weil die Menschen in der Masse schwache, feige Kreaturen waren, die es nicht ertrugen, frei zu sein oder der Wahrheit ins Angesicht zu sehen, sondern von anderen, die starker waren als sie, beherrscht und systematisch betrogen werden mufiten. Dafi die Menschheit die Wahl hatte zwischen Freiheit oder Gliick, und dafi - fur die grofie Masse der Menschen - Gliick besser war. Dafi die Partei die ewige Behuterin der Schwachen war, eine geweihte Sekte, die Boses tat, auf dafi das Gute kommen moge, und die ihr eigenes Gliick dem anderer opferte. Das Schreckliche, dachte Winston, das Schreckliche war, dafi O'Brien, wenn er das sagte, daran glaubte. Das konnte man seinem Gesicht ansehen. O'Brien wufite alles. Tausendmal besser als Winston wufite er, wie die Welt wirklich aussah, in welcher Erniedrigung die Masse der Menschen lebte und durch welche Ltigen und Barbareien die Partei sie dort hielt. Er hatte alles das 300 erkannt, alles abgewogen, und es machte nichts aus: alles war durch den Endzweck gerechtfertigt. Was kann man, dachte Winston, gegen den Wahnsinnigen machen, der kliiger ist als man selbst, der die Argumente des anderen geduldig anhort und dann doch ganz einfach bei seinem Wahn beharrt? »Ihr herrscht tiber uns zu unserem eigenen Besten« sagte er schwach. »Ihr glaubt, dafi die Menschen nicht imstande sind, sich selbst zu regieren, und deshalb...« Er fuhr zusammen und schrie fast laut auf. Eine Schmerzenswelle hatte seinen Korper durchbrandet. O'Brien hatte den Hebel der Zahlenscheibe auf funfunddreifiig hochgedreht. »Das war dumm, Winston, sehr dumm!« sagte er. »Sie sollten es besser wissen und so etwas nicht sagen.« Er drehte den Hebel zuruck und fuhr fort: »Jetzt werde ich Ihnen die Antwort auf meine Frage geben. Sie lautet: Die Partei strebt die Macht lediglich in ihrem eigenen Interesse an. Uns ist nichts am Wohl anderer gelegen; uns interessiert einzig und allein die Macht als solche. Nicht Reichtum oder Luxus oder langes Leben oder Gliick: nur Macht, reine Macht. Was reine Macht besagen will, werden Sie gleich verstehen. Wir sind darin von alien Oligarchien der Vergangenheit verschieden, dafi wir wissen, was wir tun. Alle anderen, sogar die, welche uns ahnelten, waren feige und scheinheilig. Wir aber wissen, dafi nie jemand die Macht ergreift in der Absicht, sie wieder abzutreten. Die Macht ist kein Mittel, sie ist ein Endzweck. Eine Diktatur wird nicht eingesetzt, um eine Revolution zu sichern: sondern man macht eine Revolution, um eine Diktatur einzusetzen. Der Zweck der Verfolgung ist die Verfolgung. Der Zweck der Folter ist die Folter. Der Zweck der Macht ist die Macht. Fangen Sie nun an, mich zu verstehen?« Winston fiel, wie schon vorher, die Mudigkeit von O'Briens Gesicht auf. Es war kraftig, fleischig und brutal, es war voll Klugheit und einer Art kontrollierter Leidenschaft, der gegenuber er sich hilflos fuhlte; aber es war miide. Es hatte Sacke unter den 301 Augen, die Haut hing schlaff von den Backenknochen herab. O'Brien beugte sich tiber ihn und brachte das abgekampfte Gesicht absichtlich naher heran. »Sie denken«, sagte er, »dafi mein Gesicht alt und mtide ist. Sie denken, ich sprache von Macht und sei doch nicht imstande, meinen eigenen korperlichen Verfall aufzuhalten. Konnen Sie denn nicht begreifen, Winston, dafi der einzelne Mensch nur eine Zelle ist? Die Schwache der Zelle ist die Starke des Organismus. Sterben Sie etwa, wenn Sie Ihre Fingernagel abschneiden?« Er wandte sich von dem Streckbett weg und begann wieder, eine Hand in der Tasche, hin und her zu gehen. »Wir sind die Priester der Macht«, sagte er. »Gott ist Macht. Aber noch bedeutet fur Sie Macht nur ein Wort. Es ist fur Sie an der Zeit, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Macht besagen will. Als erstes mtissen Sie sich vor Augen halten, dafi Macht Kollektivgeist ist. Der einzelne besitzt nur insoweit Macht, als er aufhort, ein einzelner zu sein. Sie kennen das Parteischlagwort: >Freiheit ist Sklaverei.< Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, dafi man es auch umkehren kann? Sklaverei ist Freiheit. Allein - frei - geht der Mensch immer zugrunde. Das mufi so sein, denn jedem Menschen ist bestimmt, zu sterben, was der grofite aller Mangel ist. Wenn ihm aber vollstandige, letzte Unterwerfung gelingt, wenn er seinem Ich entrinnen, in der Partei aufgehen kann, so dafi es die Partei ist, dann ist er allmachtig und unsterblich. Als zweites mussen Sie sich bewufit werden, dafi Macht gleichbedeutend ist mit Macht tiber Menschen und Volker. Uber den Leib - aber vor allem tiber den Geist. Macht tiber die Materie - die aufierliche Wirklichkeit, wie Sie sagen wtirden - ist nicht wichtig. Unsere Kontrolle tiber die Materie ist bereits eine vollkommene.« Einen Augenblick liefi Winston die Skala aufier Acht. Er machte eine heftige Anstrengung, sich zu sitzender Stellung aufzurichten, und brachte es lediglich fertig, seinen Korper schmerzvoll zu verdrehen. 302 »Aber wie konnt ihr die Materie kontrollieren?« brach es aus ihm heraus. »Ihr kontrolliert noch nicht einmal das Klima oder die Schwerkraft. Und da sind Krankheit, Schmerz und Tod...« O'Brien gebot ihm durch eine Handbewegung Schweigen. »Wir kontrollieren die Materie, weil wir den Geist kontrollieren. Die Wirklichkeit spielt sich im Kopf ab. Sie werden Schritt um Schritt lernen, Winston. Es gibt nichts, was wir nicht machen konnten. Unsichtbarkeit, Levitation - alles. Ich konnte mich von diesem Boden erheben wie eine Seifenblase, wenn ich wollte. Ich will es nicht, weil die Partei es nicht will. Sie mussen sich von diesen dem neunzehnten Jahrhundert angehorenden Vorstellungen hinsichtlich der Naturgesetze freimachen. Die Naturgesetze machen wir.« »Aber ihr macht sie nicht! Ihr seid nicht einmal Meister dieses Planeten. Was ist mit Eurasien und Ostasien? Ihr habt sie noch nicht erobert.« »Unwichtig. Wir werden sie erobern, wenn wir es fur richtig halten. Und wenn wir es nicht taten, was machte das schon aus? Die Partei ist auch nur ein Werkzeug jener, die im Grunde den Planeten beherrschen. Sie wissen, von wem ich spreche, nicht wahr?" »Aber diese Welt ist selbst nur ein Staubkorn. Und der Mensch ist winzig - hilflos! Wie lange hat er schon existiert? Millionen von Jahren war die Erde unbewohnt.« »Unsinn. Die Erde ist so alt wie wir, nicht alter. Wie konnte sie alter sein? Alles ist nur im menschlichen Bewufitsein vorhanden.« »Aber das Gestein ist voll von den Knochen ausgestorbener Tiere - Mammute und urzeitliche Elefantengattungen und riesige Reptilien, die hier lebten, lange bevor man etwas vom Menschen horte.« »Haben Sie je diese Knochen gesehen, Winston? Naturlich nicht. Die Biologen des neunzehnten Jahrhunderts haben sie erfunden. Vor dem Menschen gab es nichts. Nach dem Menschen, wenn er erloschen konnte, gabe es nichts. Aufier dem Menschen gibt es nichts. « 303 »Aber das ganze Weltall ist unerreichbar fur uns. Sehen Sie die Sterne an! Einige von ihnen sind eine Million Lichtjahre entfernt. Sie sind fur ewig aufierhalb unserer Reichweite.« »Was bedeuten schon die Sterne?« sagte O'Brien gleichgultig. »Sie sind ein paar Kilometer entfernte kleine Feuerherde. Wir konnten sie erreichen, wenn wir wollten. Oder wir konnten sie ausloschen. Die Erde ist der Mittelpunkt des Weltalls. Die Sonne und die Sterne drehen sich um sie. Und ich als Mitglied der Inneren Partei diene denen, die diese Welt kontrollieren. Und diese Welt ist alles." Winston machte erneut eine krampfhafte Bewegung. Diesmal sagte er nichts. O'Brien fuhr fort, als beantworte er einen ausgesprochenen Einwand: »Zu gewissen Zwecken hat das naturlich keine Gultigkeit. Wenn wir das Meer befahren oder wenn wir eine Sonnenfinsternis voraussagen, finden wir es oft bequem anzunehmen, die Erde drehe sich um die Sonne und die Sterne seien Millionen und aber Millionen von Kilometern entfernt. Aber was schadet das? Halten Sie uns nicht fur fahig, ein doppeltes astronomisches System hervorzubringen? Die Sterne konnen nah oder fern sein, je nachdem wir es brauchen. Glauben Sie, unsere Mathematiker seien dem nicht gewachsen? Haben Sie Doppeldenk vergessen?« Winston sank auf das Streckbett zuruck. Was auch immer er sagte, die rasche Antwort knuppelte ihn nieder. Und doch wufite er, wufite, dafi er Recht hatte. Sicherlich mufite es einen Weg geben, um aufzuzeigen, dafi der Glaube, es gebe nichts aufierhalb unserer Vorstellung, falsch war? War er nicht vor langer Zeit als Irrtum entlarvt worden? Es gab sogar eine Bezeichnung dafur, die er vergessen hatte. Ein Lacheln zuckte um O'Briens Mundwinkel, als er auf ihn hinunterblickte. »Ich sagte Ihnen schon, Winston«, sagte er, »dafi die Metaphysik nicht Ihre Starke ist. Das Wort, das Sie suchen, heifit Solipsismus. Aber Sie irren sich. Hier handelt es sich nicht um Solipsismus. Kollektiven Solipsismus, wenn Sie wollen. Das hier ist etwas anderes: in der Tat das Gegenteil davon. Alles das ist eine 304 Abschweifung«, ftigte er in einem anderen Ton hinzu. »Die wirkliche Macht, die Macht, um die wir Tag und Nacht kampfen mtissen, ist nicht die Macht tiber Dinge, sondern iiber Menschen.« Er schwieg und nahm einen Augenblick wieder sein Gehaben eines Schulmeisters an, der einen hoffnungslosen Schiller prtift: »Wie versichert sich ein Mensch seiner Macht tiber einen anderen, Winston?« Winston tiberlegte. »Indem er ihn leiden lafit«, sagte er. »Ganz recht. Indem er ihn leiden lafit. Gehorsam ist nicht genug. Wie konnte man die Gewifiheit haben, es sei denn, er leidet, dafi er Ihrem und nicht seinem eigenen Willen gehorcht? Die Macht besteht darin, Schmerz und Demtitigungen zuftigen zu konnen. Macht heifit, einen menschlichen Geist in Stticke zu reifien und ihn nach eigenem Gutdtinken wieder in neuer Form zusammenzusetzen. Fangen Sie nun an zu sehen, was ftir eine Art von Welt wir im Begriff sind zu schaffen? Sie ist das genaue Gegenteil der bloden, auf Freude hinzielenden Utopien, die den alten Reformatoren vorschwebten. Eine Welt der Angst, des Verrats und der Qualen, eine Welt des Tretens und Getretenwerdens, eine Welt, die nicht weniger unerbittlich, sondern immer unerbittlicher werden wird, je weiter sie sich entwickelt. Fortschritt in unserer Welt bedeutet Fortschreiten zu grofierer Pein. Die alten Kulturen erhoben Anspruch darauf, auf Liebe oder Gerechtigkeit gegrtindet zu sein. Die unserige ist auf Hass gegrtindet. In unserer Welt wird es keine anderen Geftihle geben als Hass, Wut, Frohlocken und Selbstbeschamung. Alles andere werden wir vernichten - und zwar alles. Wir merzen bereits die Denkweisen aus, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammen. Wir haben die Bande zwischen Kind und Eltern, zwischen Mensch und Mensch und zwischen Mann und Frau durchschnitten. Niemand wagt es mehr, einer Gattin, einem Kind oder einem Freund zu trauen. Aber in Zukunft wird es keine Gattinnen und keine Freunde mehr geben. Die Kinder 305 werden ihren Mtittern gleich nach der Geburt weggenommen werden, so wie man einer Henne die Eier wegnimmt. Kreaturen mit dem Mai des Tieres auf der Stirn werden vor uns tiber diese Erde schlurfen, so wie es die Herren dieser Erde wtinschen. Denn sie werden nur noch Tiere sein und wenn sie noch etwas wissen, dann das, dass sie nur noch Tiere sind. Der Geschlechtstrieb - er wird ausgerottet. Die Zeugung wird eine alljahrlich vorgenommene Formalitat wie die Erneuerung einer Lebensmittelkarte werden. Wir werden das Wollustmoment abschaffen. Unsere Neurologen arbeiten gegenwartig daran. Es wird keine Treue mehr geben, aufier der Treue gegenuber der Partei. Es wird keine Liebe geben, aufier der Liebe zum Grofien Bruder. Es wird kein Lachen geben, aufier dem Lachen des Frohlockens tiber einen besiegten Feind. Es wird keine Kunst geben, keine Literatur, keine Wissenschaft. Wenn wir allmachtig sind, werden wir die Wissenschaft nicht mehr brauchen. Es wird keinen Unterschied geben zwischen Schonheit und Hafilichkeit. Es wird keine Neugier, keine Lebenslust geben. Alle Freuden des Wettstreits werden ausgetilgt sein. Aber immer - vergessen Sie das nicht, Winston - wird es den Rausch der Macht geben, die immer mehr wachst und immer raffinierter wird. Dauernd, in jedem Augenblick, wird es den aufregenden Kitzel des Sieges geben, das Geftihl, auf einem wehrlosen Feind herumzutrampeln. Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft ausmalen wollen, dann stellen Sie sich einen Stiefel vor, der in ein Menschenantlitz tritt - immer und immer wieder.« Er verstummte, so als erwarte er, dafi Winston etwas sagen wtirde. Winston versuchte sich in die Oberflache seines Streckbettes zu verkriechen. Er brachte kein Wort hervor. O'Brien fuhr fort: »Und vergessen Sie nicht, dafi das ftir immer gilt. Das Gesicht zum Treten wird immer da sein. Den Ketzer, den Feind der Gesellschaft, wird es immer geben, so dafi er immer wieder besiegt und gedemtitigt werden kann. 306 Alles, was Sie durchgemacht haben, seitdem Sie uns in die Hande gerieten - alles das wird weitergehen, und noch schlimmer. Die Bespitzelung, der Verrat, die Verhaftungen, die Folterungen, die Hinrichtungen, die Verschleppungen werden nie aufhoren. Es wird sowohl eine Welt des Schreckens als des Triumphes sein. Je machtiger die Partei ist, desto weniger duldsam wird sie sein: je schwacher die Opposition, desto unerbittlicher die Gewaltherrschaft. Goldstein und seine Irrlehren werden ewig in der Welt sein. Jeden Tag, jeden Augenblick werden sie zunichte gemacht, beschimpft, verlacht, bespuckt werden - und doch werden sie immer bleiben. Das Drama, das ich mit Ihnen sieben Jahre hindurch aufgefuhrt habe, wird wieder und wieder, Generation um Generation, in immer raffinierteren Formen gespielt werden. Immer werden wir den Abtrunnigen auf Gnade oder Ungnade uns hier ausgeliefert haben, wie er vor Schmerz schreit, schwach und verraterisch wird - um am Schlufi ruckhaltlos bereuend, vor sich selbst gerettet, aus eigenem Antrieb uns vor die Fufie zu kriechen. Diese Welt streben wir an, Winston. Eine Welt, in der Sieg auf Sieg, Triumph auf Triumph folgt: ein nicht endender Kitzel des Machtnervs. Wie ich sehen kann, fangen Sie zu begreifen an, wie diese Welt aussehen wird. Aber am Schlufi werden Sie mehr tun, als sie nur begreifen. Sie werden sie begriifien, sie willkommen heifien, sich zu ihr bekennen.« Winston hatte sich genugend erholt, um sprechen zu konnen. »Das konnt ihr nicht!« sagte er schwach. »Was wollen Sie mit dieser Bemerkung sagen, Winston?« »Ihr konnt keine solche Welt schaffen, wie Sie sie soeben geschildert haben.« »Warum?« »Es ist unmoglich, eine Kultur auf Furcht, Hass und Grausamkeit aufzubauen. Sie wurde nie Bestand haben. « »Warum nicht?« »Sie hatte keine Lebensfahigkeit. Sie wurde sich auflosen. Sie wurde Selbstmord begehen.« 307 »Unsinn. Sie stehen unter dem Eindruck, Hass sei aufreibender als Liebe. Warum sollte dem so sein? Und wenn, was wurde es ausmachen? Angenommen, wir hatten beschlossen, uns rascher zu verbrauchen. Angenommen, wir beschleunigen das Tempo des Menschenlebens, bis die Menschen mit dreifiig Jahren alter sschwach sind. Was wurde selbst dadurch geandert? Konnen Sie nicht begreifen, dafi der Tod des einzelnen nicht den Tod der Partei bedeutet? Die Partei ist unsterblich.« Wie gewohnlich, hatte die Stimme Winston zu volliger Hilflosigkeit niedergeschmettert. Aufierdem fiirchtete er, O'Brien wiirde, wenn er auf seinem Widerspruch beharrte, wieder den Hebel drehen. Und doch konnte er nicht schweigen. Schwach wie er war, ohne Beweisgrunde, mit nichts zu seiner Unterstutzung aufier seinem unaussprechlichen Grauen vor dem, was O'Brien gesagt hatte, griff er erneut an. »Ich weifi nicht - kann es nicht sagen. Irgendwie wird es euch fehlschlagen. Etwas macht euch einen Strich durch die Rechnung. Das Leben macht euch einen Strich durch die Rechnung.« »Wir kontrollieren das Leben, Winston, in alien seinen Aufierungen. Sie bilden sich ein, es gebe so etwas wie die sogenannte menschliche Natur, die durch unser Tun beleidigt sein und sich gegen uns auflehnen werde. Aber wir machen die menschliche Natur. Die Menschen sind unendlich gefugig. Oder vielleicht sind Sie wieder auf Ihre alte Idee zuruckgekommen, dafi die Proletarier oder die Sklaven aufstehen und uns sturzen werden. Schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Sie sind hilflos wie die Tiere. Die Menschheit ist die Partei und die Menschheit ist nur noch ein Brei. Die anderen stehen aufierhalb und sind belanglos.« »Meinetwegen. Am Schlufi werden sie euch abtun. Fruher oder spater werden sie euch als das erkennen, was ihr seid, und dann werden sie euch in Stucke reifien.« »Sehen Sie irgendein Anzeichen dafiir, dafi das geschieht? Oder einen Grund, warum es geschehen sollte?« 308 »Nein. Ich glaube einfach daran. Ich weifi, dafi es euch fehlschlagen wird. Es gibt etwas in der Welt - ich weifi nicht, einen Geist, ein Prinzip -, das ihr nie uberwinden werdet.« »Glauben Sie an Gott, Winston?« »Nein.« »Was ist dann dieses Prinzip, das uns zuschanden machen wird?« »Ich weifi es nicht. Der menschliche Geist. « »Und halten Sie sich fur einen Menschen?« »Ja.« »Wenn Sie ein Mensch sind, Winston, dann sind Sie der letzte Mensch. Ihre Gattung ist ausgestorben; wir sind die Erben. Begreifen Sie, dafi Sie allein dastehen? Sie stehen aufierhalb der Geschichte, Sie sind nicht-existent.« Seine Art anderte sich, und er sagte barscher: »Und Sie halten sich uns moralisch fur uberlegen, mit unseren Lugen und unserer Grausamkeit?« »Ja, ich halte mich fur uberlegen.« O'Brien sagte nichts. Zwei andere Stimmen sprachen. Nach einem Augenblick erkannte Winston eine davon als seine eigene. Es war eine Wachsplattenaufnahme des Gesprachs, das er mit O'Brien am Abend seiner Aufnahme in die Bruderschaft gefuhrt hatte. Er horte sich geloben zu lugen, zu stehlen, zu falschen, zu morden, die Rauschgiftsucht und die Prostitution zu ermutigen, Geschlechtskrankheiten zu verbreiten, einem Kind Vitriol ins Gesicht zu schutten. O'Brien machte eine kleine ungeduldige Geste, so als wollte er sagen, die Vorfuhrung lohne kaum die Mtihe. Dann drehte er einen Knopf, und die Stimmen verstummten. »Stehen Sie auf von diesem Lager«, sagte er. Die Fesseln hatten sich gelost. Winston liefi sich auf den Fufiboden heruntergleiten und richtete sich unsicher auf. »Sie sind der letzte Mensch«, sagte O'Brien. »Sie sind der Huter des menschlichen Geistes. Sie sollen sich sehen, wie Sie sind. Ziehen Sie Ihre Kleider aus.« 309 Winston knupfte das Stuck Schnur auf, das seinen Trainingsanzug zusammenhielt. Der Reifiverschlufi war schon seit langem herausgerissen. Er konnte sich nicht erinnern, ob er seit seiner Festnahme jemals seine ganzen Kleider gleichzeitig abgelegt hatte. Unter dem Trainingsanzug war sein Korper in schmutzig gelbliche Fetzen gehullt, die man gerade noch als Uberreste von Unterwasche erkennen konnte. Als er sie auf den Boden abstreifte, sah er, dafi am anderen Ende des Raumes ein dreiteiliger Spiegel stand. Er trat naher heran und blieb mit einem Ruck stehen. Unwillkurlich war ihm ein Schrei entfahren. »Gehen Sie weiter«, sagte O'Brien. »Stellen Sie sich zwischen die beiden Seitenteile des Spiegels. Sie sollen sich auch von der Seite sehen.« Er war stehen geblieben, weil er erschrak. Ein gebeugtes, graufarbenes, skelettartiges Etwas kam auf ihn zu. Sein tatsachliches Aussehen und nicht nur die Tatsache, dafi er wufite, dafi er das selbst war, war erschreckend. Er trat naher an den Spiegel heran. Das Gesicht des Wesens schien infolge seiner gebeugten Haltung vorgeschoben. Ein verzweifeltes Verbrechergesicht mit einer edlen Stirn, die in eine glatzkopfige Schadelhaut auslief, eine Hakennase und entstellt aussehende Backenknochen, daruber wilde, wachsame Augen. Die Wangen waren zerschunden, der Mund eingefallen. Es war freilich sein eigenes Gesicht, aber es schien ihm mehr verandert, als er sich innerlich verandert hatte. Er war stellenweise glatzkopfig geworden. Im ersten Augenblick hatte er gemeint, zugleich auch grau geworden zu sein, aber es war nur die Kopfhaut, die grau war. Mit Ausnahme seiner Hande und des Ovals seines Gesichts war sein ganzer Korper grau von altem, in die Haut eingefressenem Schmutz. Da und dort waren unter dem Schmutz die roten Narben von Wunden zu sehen, und die Krampfaderknoten an seinem Fufiknochel bildeten eine entzundete Masse, von der sich Hautfetzen abschalten. Aber das wirklich Erschreckende war die Abgezehrtheit seines Korpers. Die Rippen seines Brustkorbes 310 zeichneten sich deutlich ab wie bei einem Skelett; das Fleisch der Beine war so geschunden, dafi die Knie dicker waren als die Oberschenkel. Jetzt ging ihm ein Licht auf, was O'Brien damit gemeint hatte, als er sagte, er sollte sich von der Seite ansehen. Die Ruckgratverkrummung war erstaunlich. Die mageren Schultern fielen nach vorne, als sollte an Stelle der Brust eine Hohlung entstehen; der dunne Hals schien vom Gewicht des Schadels gebeugt. Auf den ersten Blick hatte er gesagt, es handle sich um den Korper eines Sechzigjahrigen, der an einer bosartigen Krankheit litt. »Sie haben manchmal gedacht«, sagte O'Brien, »mein Gesicht - das Gesicht eines Mitglieds der Inneren Partei - sehe alt und verbraucht aus. Was denken Sie nun tiber Ihr eigenes Gesicht?« Er ergriff Winston bei der Schulter und drehte ihn herum, so dafi er Angesicht zu Angesicht vor ihm stand. »Sehen Sie sich Ihren Zustand an!« sagte er. »Betrachten Sie die schmierige Schicht, die Ihren ganzen Korper bedeckt. Schauen Sie den Schmutz zwischen Ihren Zehen an. Sehen Sie die scheufiliche wassernde Wunde an Ihrem Bein. Wissen Sie, dafi Sie stinken wie ein Bock? Vermutlich merken Sie es nicht mehr. Schauen Sie sich Ihre Magerkeit an. Sehen Sie? Ich kann Ihren Bizeps mit Daumen und Zeigefinger umfassen. Ich konnte Ihren Hals abbrechen wie eine Mohrrube. Wissen Sie, dafi Sie funfundzwanzig Kilo eingebufit haben, seit Sie in unseren Handen sind? Sogar Ihr Haar geht buschelweise aus. Sehen Sie her!« Er ergriff Winstons Schopf und hielt ein Buschel Haare in der Hand. »Machen Sie den Mund auf. Neun...zehn...elf Zahne sind ubriggeblieben. Wie viele hatten Sie, als Sie zu uns kamen? Und die paar, die Sie noch haben, fallen aus. Schauen Sie her.« Er packte einen von Winstons restlichen Schneidezahnen zwischen seinem starken Daumen und Zeigefinger. Ein stechender Schmerz durchfuhr Winstons Kiefer. O'Brien hatte den lockeren Zahn mit der Wurzel herausgedreht. Er schnippte ihn durch die Zelle. 311 »Sie verfaulen schon langsam«, sagte er, »Sie losen sich in Ihre Bestandteile auf. Was sind Sie? Ein Haufen Unrat. Nun drehen Sie sich um und schauen Sie noch einmal in diesen Spiegel. Sehen Sie das Wesen, das Sie daraus anblickt? Es ist der letzte Mensch. Wenn Sie menschlich sind, so ist das die Menschheit. Jetzt Ziehen Sie Ihre Kleider wieder an.« Winston begann sich mit langsamen, steifen Bewegungen anzuziehen. Bis jetzt hatte er scheinbar nicht bemerkt, wie mager und schwach er war. Nur ein Gedanke beschaftigte ihn: dafi er langer, als er gedacht hatte, hier gewesen sein mufite. Dann, als er die elenden Lumpen um sich hullte, iiberfiel ihn ein Gefuhl des Mitleids mit seinem zugrunde gerichteten Korper. Ehe er wufite, was er tat, war er auf einen neben dem Bett stehenden kleinen Schemel gesunken und in Tranen ausgebrochen. Er war sich seiner Hafilichkeit, seines unerquicklichen Anblicks bewufit, wie er als ein Bundel Knochen in schmutziger Unterwasche in dem grellen weifien Licht dasafi und heulte: aber er konnte sich nicht beherrschen. O'Brien legte ihm, fast begutigend, die Hand auf die Schulter. »Es dauert nicht ewig«, sagte er. »Sie konnen dem entrinnen, wenn Sie wollen. Alles hangt von Ihnen selbst ab.« »Sie haben das getan!« schluchzte Winston. »Sie versetzten mich in diesen Zustand.« »Nein, Winston, Sie selbst haben sich darein versetzt. Damit mufiten Sie rechnen, als Sie sich gegen uns auflehnten. Alles das war in diesem ersten Schritt beschlossen. Es geschah nichts, was Sie nicht voraussehen konnten.« Er schwieg und fuhr dann fort: »Wir haben Sie geschlagen, Winston. Wir haben Sie kleingemacht. Sie haben gesehen, wie Ihr Korper aussieht. Ihr Geist befindet sich in demselben Zustand. Ich glaube nicht, dafi noch viel Stolz in Ihnen stecken kann. Sie wurden mit Fufien getreten, geprugelt und beschimpft. Sie haben vor Schmerz gebrullt, haben sich in Ihrem Blut und Ihrem eigenen Erbrochenen auf dem Boden gewalzt. Sie haben um Gnade gewimmert, jeden und alles verraten. Fallt Ihnen auch nur 312 eine einzige Demutigung ein, die Sie nicht durchgemacht haben?« Winston hatte zu weinen aufgehort, wenn ihm auch noch die Tranen aus den Augen rannen. Er blickte zu O'Brien empor. »Julia habe ich nicht verraten«, sagte er. O'Brien blickte nachdenklich auf ihn hinunter. »Nein«, sagte er, »nein, das stimmt vollkommen. Sie haben Julia nicht verraten.« Die merkwurdige Verehrung fur O'Brien, die nichts erschuttern zu konnen schien, durchflutete wieder Winstons Herz. Wie klug, dachte er, wie weise! O'Brien versagte nie darin, zu verstehen, was man zu ihm sagte. Jeder andere Mensch auf dieser Welt hatte sogleich geantwortet, dafi er Julia verraten habe. Denn was gab es, was sie unter der Folter nicht aus ihm herausgeprefit hatten? Er hatte ihnen alles gestanden, was er von ihr wufite, ihre Gewohnheiten, ihren Charakter, ihr bisheriges Leben. Er hatte bis zur kleinsten Einzelheit ausgesagt, was sich bei ihren Begegnungen abgespielt hatte, alles, was er zu ihr und sie zu ihm gesagt hatte; ihre Schwarzmarkt-Mahlzeiten, ihre Bettgemeinschaften, ihr unklares Planeschmieden gegen die Partei - alles. Und doch, in dem Sinne, was er mit dem Wort ausdrucken wollte, hatte er sie nicht verraten. Er hatte nicht aufgehort, sie zu lieben; sein Geftihl ihr gegenuber war das gleiche geblieben. O'Brien hatte erkannt, was er sagen wollte, ohne dafi es einer Erklarung bedurft hatte. »Sagen Sie mir«, fragte Winston, »wie bald wird man mich erschiefien?« »Es kann noch lange dauern«, sagte O'Brien. »Sie sind ein schwieriger Fall. Aber geben Sie die Hoffnung nicht auf. Jeder wird fruher oder spater geheilt. Und am Schlufi erschiefien wir Sie.« 313 Viertes Kapitel Es ging ihm viel besser. Mit jedem Tag, sofern man von Tagen sprechen konnte, wurde er dicker und kraftiger. Das weifie Licht und der summende Ton waren unverandert geblieben, aber seine neue Zelle war ein wenig bequemer als die fruheren. Auf der Holzpritsche lagen ein Kissen und eine Matratze, und es gab einen Schemel zum Sitzen. Man hatte ihm ein Bad genehmigt, und er durfte sich ziemlich haufig in einer Zinnwanne waschen. Man gab ihm dazu sogar warmes Wasser. Man hatte ihm neue Unterwasche und einen sauberen Trainingsanzug gebracht. Hatte sein Krampfadergeschwur mit einer schmerzlindernden Heilsalbe verbunden. Die restlichen Zahne hatte man ihm gezogen und ein neues Gebifi eingesetzt. Wochen oder Monate mufiten verstrichen sein. Es ware jetzt moglich gewesen auszurechnen, wie viel Zeit vergangen war, wenn er Wert darauf gelegt hatte, denn er bekam sein Essen in scheinbar regelmafiigen Abstanden. Seiner Schatzung nach erhielt er drei Mahlzeiten in vierundzwanzig Stunden; manchmal fragte er sich verschwommen, ob sie ihm nachts oder tags gebracht wurden. Das Essen war uberraschend gut, zu jeder dritten Mahlzeit gab es Fleisch. Einmal bekam er sogar ein Packchen Zigaretten. Er hatte keine Zundholzer, aber der ewig stumme Wachmann, der ihm sein Essen brachte, wurde ihm Feuer geben. Das erste Mai, als er zu rauchen versuchte, wurde ihm schlecht, aber er fuhr damit fort, und er reichte mit dem Packchen eine lange Zeit, indem er nach jeder Mahlzeit eine halbe Zigarette rauchte. Man hatte ihm eine weifie Schreibtafel mit einem an der Ecke angebundenen Bleistiftstumpf gegeben. Zuerst machte er keinen Gebrauch davon. Sogar im Wachzustand doste er dumpf vor sich hin. Oft lag er von einer Mahlzeit bis zur nachsten fast bewegungslos da, manchmal schlafend, dann wieder wach in 314 undeutlichen Traumereien versunken, bei denen es schon zuviel Mtihe bedeutete, die Augen zu offnen. Er hatte sich seit langem daran gewohnt, bei grell in sein Gesicht scheinendem Licht zu schlafen. Es schien ihm nichts auszumachen, aufier dafi die Traume mehr Zusammenhang bekamen. Er traumte diese ganze Zeit hindurch viel, und immer waren es gliickhafte Traume. Er weilte in dem Goldenen Land oder safi zwischen riesigen, prachtigen, sonnenbeschienenen Ruinen mit seiner Mutter, mit Julia, mit O'Brien - ohne etwas zu tun, sondern einfach so in der Sonne und plauderte von friedlichen Dingen. Soweit er uberhaupt Gedanken hatte, wenn er wach lag, drehten sie sich meistens um seine Traume. Die Kraft zu einer geistigen Anstrengung schien ihm abhanden gekommen zu sein, jetzt, wo der Erregungsfaktor des Schmerzes nicht mehr mitwirkte. Er empfand keine Langeweile, verspurte kein Verlangen nach Unterhaltung oder Zerstreuung. Er wollte nur eben allein sein, nicht geschlagen oder verhort werden, genug zu essen haben und am ganzen Korper sauber sein - mehr wollte er nicht. Allmahlich verbrachte er weniger Zeit mit Schlafen, verspurte aber noch immer keine Lust, das Bett zu verlassen. Ihn verlangte nur danach, still dazuliegen und zu fuhlen, wie die Kraft in seinen Korper zuruckkehrte. Er befuhlte sich da und dort und versuchte sich zu uberzeugen, dafi es keine Tauschung war, dafi seine Haut sich straffte und seine Muskeln runder wurden. Endlich stand aufier Zweifel fest, dafi er an Gewicht zunahm; seine Oberschenkel waren jetzt deutlich dicker als seine Knie. Danach begann er, zuerst widerwillig, regelmafiig korperliche Ubungen zu machen. Schon bald konnte er drei Kilometer laufen, wie er an seinen Schritten in der Zelle abmafi, und seine gebeugten Schultern wurden gerader. Er versuchte schwierigere Ubungen und war erstaunt und gedemutigt bei der Entdeckung, was er alles nicht fertig brachte. Er konnte unterm Gehen keine anderen Bewegungen machen, konnte seinen Schemel nicht auf Armeslange hinaushalten, konnte nicht auf einem Bein stehen, ohne seitlich umzukippen. Er 315 hockte sich auf seine Fersen nieder und entdeckte, dafi es ihm mit qualvollen Schmerzen in Schenkeln und Waden nur eben gelang, sich zu stehender Stellung aufzurichten. Er legte sich flach auf den Bauch und versuchte, sich mit aufgestutzten Handen hochzustemmen. Es war hoffnungslos, er konnte sich keinen Zentimeter vom Boden hochheben. Aber nach ein paar weiteren Tagen - ein paar weiteren Mahlzeiten - gelang ihm auch dieses Kunststuck. Es kam eine Zeit, als er es sechsmal hintereinander fertig brachte. Er begann richtig stolz zu werden auf seinen Korper und sich dem heimlichen Glauben hinzugeben, auch sein Gesicht werde wieder normal. Nur wenn er zufallig die Hand auf seinen kahlen Schadel legte, fiel ihm das zerschundene, zerstorte Gesicht ein, das ihn aus dem Spiegel angeblickt hatte. Sein Geist wurde wacher. Er setzte sich auf die Pritsche, mit dem Rucken zur Wand und die Schreibtafel auf seine Knie gelegt, und machte sich behutsam daran, seinen Geist wieder zu tiben. Er hatte kapituliert, soviel stand fest. In Wahrheit war er, wie er nun erkannte, bereit gewesen zu kapitulieren, lange ehe er den Entschlufi dazu gefafit hatte. Von dem Augenblick an, als er sich in dem Ministerium fur Liebe befand - ja sogar schon wahrend der Minuten, als er und Julia hilflos dagestanden hatten, wahrend ihnen die eiserne Stimme aus dem Televisor sagte, was sie tun sollten -, hatte er die Leichtfertigkeit, die Oberflachlichkeit seines Versuches, sich gegen die Macht der Partei aufzulehnen, voll erkannt. Er wufite jetzt, dafi ihn die Gedankenpolizei sieben Jahre hindurch wie einen Kafer unter einem Vergrofierungsglas beobachtet hatte. Es gab keine korperliche Verrichtung, kein laut gesprochenes Wort, das sie nicht wahrgenommen hatten, keinen Gedankengang, den sie nicht im Voraus gewufit hatten. Sogar das weifie Staubkornchen auf dem Einband seines Tagebuches hatten sie sorgfaltig wieder ersetzt. Sie hatten ihm Wachsplattenaufnahmen vorgespielt, ihm Fotografien gezeigt. Einige davon waren Fotografien von Julia 316 und ihm. Ja, sogar...Er konnte nicht langer gegen die Partei ankampfen. Aufierdem war die Partei im Recht. Sie mufite es sein: denn wie konnte der unsterbliche kollektive Geist irren? Mit welchem aufieren Mali stab konnte man seine Werte nachprufen? Das Urteil des gesunden Menschenverstandes stand statistisch fest. Es war lediglich eine Frage, so denken zu lernen, wie sie dachten. Nur. . . ! Der Bleistift fuhlte sich plump und sperrig zwischen seinen Fingern an. Er begann die Gedanken niederzuschreiben, die ihm durch den Kopf gingen. Zuerst schrieb er in grofien unbeholfenen Anfangsbuchstaben: FREIHEIT 1ST SKLAVEREI Dann, fast ohne Innehalten, schrieb er darunter: ZWEI UND ZWEI 1ST FUNF Jetzt aber schaltete sich eine Art Hemmung ein. Sein Geist schien so, als scheue er vor etwas zuruck, aufierstande, sich zu sammeln. Er wufite, dafi er wufite, was als nachstes kam; aber im Augenblick konnte er nicht darauf kommen. Als er dann darauf kam, was es sein mufite, war es nur auf Grund bewufiter Uberlegung; es fiel ihm nicht von selber ein. Er schrieb: GOTT 1ST MACHT Er nahm jetzt alles richtig hin. Die Vergangenheit war veranderlich. Die Vergangenheit war nie verandert worden. Ozeanien lag im Krieg mit Ostasien. Ozeanien war immer mit Ostasien im Krieg gelegen. Jones, Aaronson und Rutherford waren der Verbrechen schuldig, deren sie angeklagt waren. Er hatte die Fotografie gesehen, die ihre Schuld widerlegte. Sie hatte nie existiert, er hatte sie erfunden. Er erinnerte sich, dafi er sich gegenteiliger Dinge erinnert hatte, aber das waren falsche Erinnerungen, Produkte der Selbsttauschung. Wie einfach alles war! Man brauchte nur nachzugeben, und alles andere ergab sich von selbst. Es war wie das Schwimmen gegen eine Stromung, die einen zuruckrifi, wie sehr man sich auch anstrengte, bis man 317 dann plotzlich beschlofi, kehrtzumachen und mit der Stromung zu gehen, statt gegen sie. Nichts hatte sich geandert, aufier die eigene Haltung: Das vom Schicksal Vorbestimmte geschah in jedem Fall. Er wufite kaum, warum er sich jemals aufgelehnt hatte. Alles war einfach, aufier...! Alles konnte wahr sein. Die sogenannten Naturgesetze waren Unsinn. Das Gesetz der Schwerkraft war Unsinn. »Wenn ich wollte«, hatte O'Brien gesagt, »dann konnte ich mich von diesem Boden erheben wie eine Seifenblase.« Winston verfolgte diesen Gedanken weiter. »Wenn er glaubt, sich vom Fufiboden erheben zu konnen, und ich gleichzeitig glaube, dafi ich ihn das tun sehe, dann geschieht es wirklich.« Wie ein Teil eines uberschwemmten Wracks hochkommend die Oberflache des Wassers durchbricht, so durchdrang ihn plotzlich der Gedanke: »Es geschieht nicht wirklich. Wir bilden es uns ein. Es ist eine Sinnestauschung.« Sofort wies er diesen Gedanken von sich. Der Trugschlufi war offensichtlich. Er setzte voraus, dafi es irgendwo aufierhalb einem selbst eine »wirkliche« Welt gab, in der »wirkliche« Dinge geschahen. Aber wie konnte es eine solche Welt geben? Was wissen wir von irgendetwas, aufier durch unser eigenes Denken? Alle Geschehnisse spielen sich im Denken ab. Was immer sich im Denken aller abspielt, geschieht wirklich. Es fiel ihm nicht schwer, den Trugschlufi abzutun, und er war nicht in Gefahr, ihm anheim zufallen. Trotzdem war er sich bewufit, dafi ihm dieser Einfall nie hatte kommen durfen. Das Denken sollte eine leere Stelle einschalten, sooft sich ein gefahrlicher Gedanke einstellte. Der Prozefi sollte automatisch, instinktiv vor sich gehen. Verbrechenstop nannte man es in der Neusprech. Er machte sich daran, sich in Verbrechenstop zu tiben. Er stellte bei sich Behauptungen auf wie »Die Partei sagt, die Erde ist flach«, »Die Partei sagt, Eis ist schwerer als Wasser« und schulte sich darin, die Argumente, die gegen diese Behauptungen 318 sprachen, nicht zu sehen oder nicht zu verstehen. Das war nicht leicht. Es bedurfte grofier Geschicklichkeit im Argumentieren und Improvisieren. So gingen zum Beispiel die durch solche Behauptungen wie »Zwei und zwei ist vier« aufgeworfenen arithmetischen Probleme tiber seine geistige Fassungskraft hinaus. Auch war eine Art geistiges Athletentum notig, die Fahigkeit zu entwickeln, in dem einen Augenblick mit der geschliffenen Logik vorzugehen und im nachsten die grobsten logischen Fehler zu ubersehen. Dummheit tat ebenso not wie Klugheit und war ebenso schwer zu erreichen. Die ganze Zeit fragte er sich mit einem Teil seines Denkens, wie bald sie ihn wohl erschiefien wurden. »Alles hangt von Ihnen selbst ab«, hatte O'Brien gesagt. Aber er wufite, dafi er durch keine besondere Handlung diesen Augenblick beschleunigen konnte. Es konnte, von jetzt ab gerechnet, in zehn Minuten oder in zehn Jahren da sein. Sie hielten ihn vielleicht jahrelang in Einzelhaft, schickten ihn vielleicht in ein Zwangsarbeiterlager, liefien ihn vielleicht eine Weile frei, wie sie das manchmal machten. Es war durchaus moglich, dafi er, bevor er erschossen wurde, das ganze Trauerspiel seiner Festnahme und seines Verhors noch einmal von vorne durchmachen mufite. Eines jedenfalls war gewifi, dafi der Tod nie in einem erwarteten Augenblick kam. Das ubliche Verfahren - das stillschweigende Verfahren, von dem man irgendwie wufite, obwohl nie daruber gesprochen wurde - bestand darin, dafi sie einen hinterrucks erschossen: immer in den Hinterkopf, und zwar ohne Warnung, wahrend man von Zelle zu Zelle den Gang entlangging. Eines Tages - aber »eines Tages« war nicht die richtige Bemerkung; ganz ebenso wahrscheinlich konnte es mitten in der Nacht gewesen sein: - einmal also verfiel er in eine seltsame, selige Traumerei. Er ging den Gang hinunter in Erwartung der Kugel. Er wufite, dafi sie im nachsten Moment kommen wurde. Alles war entschieden, geklart, versohnt. Es gab keine Zweifel mehr, keine Streitfragen, keinen Schmerz, keine Angst. Sein 319 Korper war gesund und stark. Er ging leichten Schrittes, mit einer Freude an der Bewegung und in dem Gefuhl, im Sonnenlicht zu wandeln. Es war nicht mehr in den engen grellweifien Gangen des Ministeriums fur Liebe, er befand sich in dem riesigen, einen Kilometer breiten Durchlafi, von dem es ihm so vorgekommen war, als durchwandle er ihn in einem durch Drogen herbeigefuhrten Wahn. Er war im Goldenen Land und folgte dem Fufipfad durch die alte, von Kaninchen bevolkerte Weide. Er konnte den kurzgeschorenen, federnden Rasen unter seinen Fufien und den milden Sonnenschein auf seinem Gesicht fuhlen. Am Rande des Feldes standen leise sich wiegend die Ulmen, und irgendwo dahinter war der Flufi, in dem sich die Weififische in den grunen Tumpeln unter den Hangeweiden tummelten. Plotzlich fuhr er in jahem Erschrecken hoch. Der Schweifi brach ihm aus alien Poren. Er hatte sich laut ausrufen horen: »Julia! Julia! Julia, Geliebte! Julia!« Einen Augenblick hatte ihn uberzeugend die Tauschung uberkommen, sie sei da. Es hatte ihm geschienen, als sei sie nicht nur bei ihm, sondern in ihm. Es war, als sei sie unter das Gewebe seiner Haut gekrochen. In diesem Augenblick hatte er sie weit mehr geliebt als je zuvor, als sie noch zusammen und frei waren. Auch wufite er, dafi sie irgendwo noch am Leben war und seiner Hilfe bedurfte. Er legte sich auf dem Bett zuruck und versuchte, sich zu fassen. Was hatte er angerichtet? Wie viele Jahre hatte er seiner Knechtschaft durch diesen Augenblick der Schwache hinzugefugt? Im nachsten Augenblick wurde er draufien den Schritt schwerer Stiefel horen. Seine Peiniger konnten einen solchen Ausbruch nicht ungestraft hingehen lassen. Sie wurden jetzt wissen, wenn sie es nicht schon vorher gewufit hatten, dafi er das mit ihnen getroffene Abkommen brach. Er gehorchte der Partei, aber noch immer Hasste er sie. In den vergangenen Tagen hatte er einen aufruhrerischen Geist hinter zur Schau getragener Fugsamkeit 320 versteckt. Jetzt hatte er sich einen Schritt weiter zuruckgezogen: er hatte im Geist nachgegeben, jedoch gehofft, sein Herzinneres unversehrt zu bewahren. Er wufite, dafi er im Unrecht war, aber lieber wollte er im Unrecht sein. Sie wurden das erkennen - O'Brien wurde es erkennen. All das war in diesem einzigen torichten Schrei eingestanden. Er wurde noch einmal ganz von neuem anfangen mussen. Es konnte Jahre dauern. Er fuhr sich mit der einen Hand ubers Gesicht, in dem Versuch, sich mit dessen neuer Form vertraut zu machen. Er hatte tiefe Furchen in den Wangen, die Backenknochen standen hervor, die Nase war abgeplattet. Aufierdem hatte er, seitdem er sich zum letzten Mai im Spiegel gesehen hatte, ein vollstandig neues Gebifi bekommen. Es war nicht leicht, ein undurchdringliches Gesicht zu machen, wenn man nicht wufite, wie das eigene Gesicht aussah. Jedenfalls, nur das Gesicht zu wahren, genugte nicht. Zum ersten Mai erkannte er, dafi jemand, der ein Geheimnis bewahren will, es auch vor sich selbst bewahren mufi. Man mufi standig um sein Vorhandensein wissen, aber bis die Notwendigkeit besteht, darf man es nie in irgendeiner benennbaren Form ins eigene Bewufitsein dringen lassen. Von jetzt an mufite er nicht nur richtig denken, er mufite richtig ftihlen, richtig traumen. Und die ganze Zeit mufite er seinen Hass in sich verschlossen halten wie eine Gewebewucherung, die ein zu ihm gehoriger Bestandteil war und doch mit seinem ubrigen Ich nichts zu tun hatte - eine Art Zyste. Eines Tages wurden sie beschliefien, ihn zu erschiefien. Man konnte nicht sagen, wann das sein wurde, aber ein paar Sekunden vorher mufite man es erraten konnen. Es geschah immer durch Genickschufi, wahrend man einen Gang entlangging. Zehn Sekunden wurden genugen. In dieser Zeit konnte die Welt in ihm eine Umdrehung erfahren. Und dann plotzlich, ohne ein Wort zu aufiern, ohne im Schritt innezuhalten, ohne dafi sich auch nur ein Zug in seinem Gesicht veranderte - plotzlich wurde die Tarnung fallengelassen und peng! wurden 321 sich die Batterien seines Hasses entladen. Hass wurde ihn erfullen wie eine riesige brausende Flamme. Und fast im gleichen Augenblick wurde peng! die Kugel fallen, zu spat oder zu frtih. Sie wurden ihm eine Kugel durchs Hirn gejagt haben, ehe sie es wieder zu richtigem Denken zuruckgefuhrt haben konnten. Der ketzerische Gedanke wurde unbestraft, unbereut, fur immer ungreifbar fur sie bleiben. Sie hatten ein Loch in ihre eigene Vortrefflichkeit geschossen. Im Hass gegen sie zu sterben war gleichbedeutend mit Freiheit! Er schlofi die Augen. Das war schwieriger, als sich einer geistigen Disziplin zu unterwerfen. Es erforderte, sich selbst zu erniedrigen, zu verstummeln. Er mufite sich in den schlimmsten Schmutz sturzen. Was war das Schrecklichste, Ekelhafteste von allem? Er dachte an den Grofien Bruder. Das riesige Gesicht (da er es dauernd auf Plakaten sah, stellte er es sich immer einen Meter breit vor) mit seinem dicken schwarzen Schnurrbart und den Augen, die einem uberallhin folgten, schien ihm ganz von selbst einzufallen. Was waren seine wahren Gefuhle gegenuber dem Grofien Bruder? Ein schweres Stiefelgetrampel war draufien auf dem Gang zu horen. Die Stahlture schwang klirrend auf. O'Brien trat in die Zelle. Hinter ihm drein kamen der wachsgesichtige Offizier und die schwarzuniformierten Wachen. »Stehen Sie auf«, sagte O'Brien. »Kommen Sie her.« Winston stand vor ihm. O'Brien ergriff Winstons Schultern mit seinen kraftigen Handen und sah ihn scharf an. »Sie liefien es sich einfallen, mich tauschen zu wollen«, sagte er. »Das war dumm. Stehen Sie strammer. Schauen Sie mich an.« Er schwieg und fuhr in milderem Ton fort: »Sie bessern sich. Verstandesmafiig ist recht wenig an Ihnen auszusetzen. Nur gefuhlsmafiig haben Sie keinen Fortschritt gemacht. Sagen Sie mir, Winston - und denken Sie daran, keine Lugen: Sie wissen, dafi ich eine Luge immer herausfinden kann -, sagen Sie, was sind Ihre wahren Gefuhle gegenuber dem Grofien Bruder?« »Ich hasse ihn.« 322 »Sie hassen ihn. Schon. Dann ist fur Sie die Zeit gekommen, den letzten Schritt zu tun. Sie mussen den Grofien Bruder lieben. Es geniigt nicht, ihm zu gehorchen: Sie mussen ihn lieben.« Er liefi Winston los, indem er ihm einen kleinen Stofi in Richtung zu den Wachleuten versetzte. »Zimmer 101 !«, sagte er. Fxinftes Kapitel In jedem Stadium seiner Haft hatte er gewufit - oder zu wissen geglaubt -, wo in dem fensterlosen Gebaude er sich befand. Moglicherweise machten sich leichte Unterschiede im Luftdruck bemerkbar. Die Zellen, wo ihn die Wachen geprugelt hatten, lagen unter ebener Erde. Das Zimmer, in dem er von O'Brien verhort worden war, war hoch oben in Dachnahe. Dieser Raum nun befand sich viele Meter unter der Erde, so tief drunten wie moglich. Es war grofier als die meisten Zimmer, in denen er gewesen war. Aber Winston nahm seine Umgebung kaum wahr. Er sah nur zwei kleine, gerade vor ihm stehende Tische, von denen jeder mit grunem Flanell bezogen war. Der eine stand nur einen oder zwei Meter von ihm entfernt, der andere weiter weg bei der Tur. Er war aufrecht sitzend so fest auf einen Stuhl angeschnallt, dafi er nichts, nicht einmal den Kopf, bewegen konnte. Eine Art Schiene umklammerte von hinten seinen Kopf und zwang ihn, den Blick geradeaus vor sich hin gerichtet zu halten. Einen Augenblick war er allein, dann offnete sich die Tur, und O'Brien kam herein. »Sie haben mich einmal gefragt«, sagte O'Brien, »was in Zimmer 101 ware. Ich sagte, Sie wufiten die Antwort bereits. Jedermann weifi sie. Was einen in Zimmer 101 erwartet, ist das Schlimmste auf der Welt.« 323 Wieder offnete sich die Tur. Ein Wachmann kam herein und trug etwas aus Drahtgeflecht, eine Art Behalter oder Korb. Er stellte es auf den entferntesten Tisch. Wegen der Stellung, die O'Brien einnahm, konnte Winston nicht sehen, was es war. »Das Schlimmste auf der Welt«, sagte O'Brien, »ist individuell verschieden. Es kann lebendig begraben werden sein oder Tod durch Verbrennen, durch Ertranken, durch Aufpfahlen, oder funfzig andere Todesarten. Es gibt Falle, bei denen es eine ganz nichtssagende, nicht einmal todbringende Sache ist.« Er war ein wenig beiseite getreten, so dafi Winston den Gegenstand auf dem Tisch besser sehen konnte. Es war ein langlicher Drahtkafig, mit oben einem Griff zum Tragen. An der Vorderseite war etwas befestigt, das wie eine Fechtmaske aussah, mit der Hohlseite nach aufien. Obwohl es drei oder vier Meter von ihm entfernt stand, konnte er sehen, dafi der Kafig der Lange nach in zwei Abteilungen geteilt war, und in jeder befand sich ein Lebewesen. Es waren Ratten. »Fur Sie«, sagte O'Brien, »sind zufallig das Schlimmste auf der Welt Ratten. « Eine Art warnendes Zittern, eine Furcht vor - er wufite nicht genau was - hatte Winston bei seinem ersten Blick auf den Kafig befallen. Aber in diesem Augenblick kam ihm plotzlich eine Erleuchtung, zu was die vorne befestigte maskenartige Vorrichtung diente. Ihm schien der Boden unter den Fufien zu wanken. »Das konnen Sie nicht tun!« rief er mit schriller brechender Stimme. »Nur das nicht, nur das nicht! Es ist unmoglich!« »Erinnern Sie sich«, sagte O'Brien, »an das Panikmoment, das sich in Ihren Traumen einzustellen pflegte? Vor Ihnen tat sich eine dunkle Mauer auf, und in Ihren Ohren vernahmen Sie ein heulendes Gerausch. Etwas Schreckliches lauerte auf der anderen Seite der Mauer. Sie waren sich bewufit, dafi Sie wufiten, was es war, aber sie wagten nicht, es ans Licht zu ziehen. Es waren die Ratten, die sich auf der anderen Seite der Mauer befanden.« 324 »0'Brien!« rief Winston mit einer Anstrengung, seine Stimme in die Gewalt zu bekommen. »Sie wissen, dafi das nicht notwendig ist. Was wollen Sie, das ich tun soll?« O'Brien gab keine direkte Antwort. Als er sprach, war es in der schulmeisterlichen Art, die er manchmal an den Tag legte. Er blickte nachdenklich in die Feme, so als wende er sich an eine Zuhorerschaft im Rucken von Winston. »Schmerz als solcher«, sagte er, »genugt nicht immer. Es gibt Gelegenheiten, wo ein Mensch dem Schmerz standhalt, sogar bis zum Tode. Aber fur jeden Menschen gibt es etwas Unertragliches - etwas, das er nicht ins Auge fassen kann. Das hat nichts mit Mut oder Feigheit zu tun. Wenn man aus einer Hohe heruntersturzt, ist es nicht feig, sich an ein Seil zu klammern. Wenn man aus der Tiefe des Wassers emportaucht, ist es nicht feig, die Lungen mit Luft voll zupumpen. Es ist lediglich ein Instinkt, gegen den man sich nicht wehren kann. Das gleiche gilt von den Ratten. Sie sind eine Form des Zwanges, dem Sie nicht Widerstand leisten konnen, sogar wenn Sie wollten, Sie werden tun, was man von Ihnen verlangt.« »Aber was ist es, was ist es? Wie kann ich es tun, wenn ich nicht weifi, was es ist?« O'Brien ergriff den Kafig und brachte ihn heruber zu dem naheren Tisch. Er stellte ihn behutsam auf die Flanelldecke. Winston konnte das Blut in seinen Ohren sausen horen. Er hatte das Gefuhl, in volliger Einsamkeit dazusitzen. Er befand sich in der Mitte einer grofien leeren Ebene, einer von Sonnenlicht durchtrankten flachen Wuste, tiber die alle Gerausche aus ungeheuren Entfernungen zu ihm drangen. Dabei war der Kafig mit den Ratten keine zwei Meter von ihm entfernt. Es waren riesige Ratten. Sie waren in dem Alter, in dem die Schnauze einer Ratte rauh und grimmig und ihr Fell braun statt grau wird. »Die Ratte«, sagte O'Brien, noch immer an seine unsichtbare Zuhorerschaft gewendet, »ist, obwohl ein Nagetier, doch ein Fleischfresser. Halten Sie sich das vor Augen. Sie werden von den 325 Dingen gehort haben, die in den Armenvierteln dieser Stadt passieren. In manchen Strafien wagt eine Frau ihren Saugling nicht einmal ftinf Minuten allein im Haus zu lassen. Die Ratten wiirden das Kind bestimmt angreifen. In ganz kurzer Zeit wtirden sie es bis auf die Knochen abnagen. Sie greifen auch Kranke oder Sterbende an. Sie legen eine erstaunliche Intelligenz darin an den Tag, zu wissen, wann ein Mensch hilflos ist.« Vom Kafig her horte man jetzt ein lautes Quieken. Es schien aus weiter Feme an Winstons Ohr zu dringen. Die Ratten rauften miteinander; sie versuchten, einander durch das Trennungsgitter anzufallen. Er horte auch ein tiefes Verzweiflungsstohnen. Auch das schien nicht von ihm selbst zu kommen. O'Brien ergriff den Kafig und druckte dabei auf etwas darin. Ein scharfes Klinken erfolgte. Winston machte eine furchtbare Anstrengung, sich von dem Stuhl zu befreien. Es war hoffnungslos, jeder Teil von ihm, sogar sein Kopf, waren unbeweglich festgehalten. O'Brien rtickte den Kafig naher heran. Er war kaum einen Meter von Winstons Gesicht entfernt. »Ich habe auf den ersten Hebel gedruckt«, erklarte O'Brien. »Sie verstehen die Konstruktion dieses Kafigs. Die Maske pafit tiber Ihren Kopf, so dafi kein Durchschlupf bleibt. Wenn ich auf diesen anderen Hebel drticke, schiebt sich die Kafigture auf. Diese vor Hunger fast wahnsinnigen Scheusale werden wie Geschosse daraus hervorschiefien. Haben Sie je eine Ratte durch die Luft springen sehen? Sie werden Ihnen ins Gesicht springen und sich sofort einen Weg hindurch bahnen. Manchmal greifen sie als erstes die Augen an. Manchmal wtihlen sie sich durch die Wangen und zerfressen die Zunge.« Der Kafig kam naher; schlofi sich um ihn. Winston vernahm eine Folge schriller Schreie, die in der Luft tiber seinem Kopf zu erschallen schienen. Aber er kampfte wtitend gegen seine panische Angst an. Uberlegen, tiberlegen, auch wenn nur ein Sekundenbruchteil Zeit blieb, tiberlegen war die einzige Hoffnung. Plotzlich stieg ihm der widerliche, muffige Geruch der Scheusale in die Nase. Ein furchtbarer Ekel wtirgte ihn, und er 326 verlor fast das Bewufitsein. Alles war schwarz geworden vor seinen Augen. Einen Augenblick war er vernunftlos, ein kreischendes Tier. Dann jedoch rifi er sich von dem Schwindelgefuhl los, indem er sich an eine Idee klammerte. Es gab einen, nur einen einzigen Weg, sich selbst zu retten. Er mufite einen anderen Menschen, den Korper eines anderen Menschen, zwischen sich und die Ratten schieben. Die Kreisoffnung der Maske war jetzt grofi genug, um alles andere aus dem Gesichtskreis auszuschliefien. Die Drahtture war zwei Handspannen von seinem Gesicht entfernt. Die Ratten wufiten, was nun kommen wurde. Eine von ihnen sprang auf und ab, die andere, ein alter schuppiger Grofivater aus den Kloaken, richtete sich mit ihren rosa Pfoten an den Gitterstaben auf und schnupperte wild in die Luft. Winston konnte die Schnurrhaare und die gelben Zahne sehen. Wieder uberfiel ihn die schwarze Panik. Er war blind, hilflos, ohne Vernunft. »Im kaiserlichen China war es eine ubliche Strafe«, sagte O'Brien in seiner gewohnten lehrerhaften Art. Die Maske legte sich vor Winstons Gesicht. Der Draht beriihrte seine Wange. Und dann - nein, es war keine Erlosung, nur eine Hoffnung - ein winziger Hoffnungsschimmer. Zu spat, vielleicht zu spat. Aber er hatte plotzlich erkannt, dafi es auf der ganzen Welt nur einen Menschen gab, auf den er seine Strafe abwalzen, nur einen Korper, den er zwischen sich und die Ratten schieben konnte. Und aufier sich schrie er, wieder und immer wieder: »Nehmen Sie Julia! Nehmen Sie Julia! Nicht mich! Julia! Mir ist's gleich, was Sie mit ihr machen. Zerreifien Sie ihr das Gesicht, Ziehen Sie ihr das Fleisch von den Knochen. Nicht mich! Julia! Nicht mich!« Er fiel zuruck, in riesige Tiefen, fort von den Ratten. Er war noch immer auf dem Stuhl festgeschnallt, aber er war durch den Fufiboden, durch die Mauern des Gebaudes, durch die Erde, durch die Meere, durch die Atmosphare in den freien Raum, in 327 die Abgrunde zwischen den Sternen gesturzt - immer weiter, weiter und weiter weg von den Ratten. Er war Lichtjahre entfernt, aber O'Brien stand noch immer an seiner Seite. Noch war die kalte Beriihrung eines Drahtes an seiner Wange. Aber durch die ihn einhullende Dunkelheit vernahm er ein nochmaliges metallisches Klinken und wufite, dafi die Kafigtur ins Schlofi gefallen war und sich nicht geoffnet hatte. Sechstes Kapitel Das Cafe »Zum Kastanienbaum« war fast leer. Ein schrag durch ein Fenster einfallender Sonnenstrahl fiel auf verstaubte Tischplatten. Es war die stille Stunde nach funfzehn Uhr. Blechmusik rieselte aus den Televisoren. Winston safi in seiner Stammtischecke und starrte in ein leeres Glas. Dann und warm hob er den Blick zu einem grofien Gesicht, das ihn von der gegenuberliegenden Wand ansah. Der Grofie Bruder sieht dich an, lautete der Begleittext. Unaufgefordert kam ein Kellner und fullte sein Glas mit Victory- Gin, wobei er ein paar Tropfen aus einer anderen Flasche, deren Kork von einem Federkiel durchbohrt war, hineinspritzte. Es war mit Gewurznelken versetztes Sacharin, die Spezialitat des Hauses. Winston lauschte auf den Televisor. Im Augenblick ertonte nur Musik, aber es bestand die Moglichkeit, dafi jeden Augenblick eine Sondermeldung des Friedensministeriums erfolgte. Die Nachrichten von der Afrikafront waren aufierst beunruhigend. Immer wieder hatte er sich den ganzen Tag Sorgen daruber gemacht. Eine eurasische Armee (Ozeanien befand sich im Kriegszustand mit Eurasien: Ozeanien hatte sich immer im 328 Kriegszustand mit Eurasien befunden) ruckte in Eilmarschen gegen Suden vor. Der Tagesbericht vom Mittag hatte zwar kein bestimmtes Gebiet genannt, aber wahrscheinlich war die Kongomundung bereits Kriegsschauplatz. Brazzaville und Leopoldville waren in Gefahr. Man brauchte nicht erst die Landkarte anzusehen, um zu wissen, was das bedeutete. Es war nicht nur eine Frage des Verlustes von Mittelafrika: Zum erstenmal wahrend des ganzen Krieges war das Gebiet von Ozeanien selbst bedroht. Eine erregte Gemutsbewegung, nicht gerade Furcht, aber ein ihr nicht unahnliches Gefuhl, wallte in ihm hoch, dann verebbte sie wieder. Er horte auf, an den Krieg zu denken. Gegenwartig konnte er seine Gedanken nie langer als ein paar Augenblicke hintereinander auf einen Gegenstand gerichtet halten. Er erhob sein Glas und leerte es auf einen Zug. Wie immer, mufite er sich danach schutteln und einen leichten Brechreiz uberwinden. Das Zeug war greulich. Das Sacharin und die Gewurznelken, die einem durch ihre widerliche Art an sich schon widerstehen, konnten den faden oligen Geschmack nicht vertuschen; am schlimmsten von allem aber war, dafi der Gin-Geruch, den er Tag und Nacht nicht los wurde, in seiner Vorstellung unentwirrbar vermischt war mit dem Geruch dieser. . . Er nannte sie nie bei Namen, sogar in Gedanken nicht, und so weit wie moglich stellte er sie sich nie im Geiste vor. Sie waren etwas, das ihm nur halbwegs zum Bewufitsein kam, das dicht vor seinem Gesicht herumschwebte, ein Geruch, den er in der Nase hatte. Als ihm der Gin hochkam, stiefi er zwischen purpurroten Lippen auf. Er war beleibter geworden, seitdem sie ihn entlassen hatten, und hatte wieder seine alte Farbe bekommen - wahrhaftig, mehr als das. Seine Gesichtszuge hatten sich vergrobert, die Haut von Nase und Backenknochen war derb rot, sogar die Glatze war von einem zu dunklen Rosa. Ein Kellner brachte, wiederum unaufgefordert, das Schachbrett und die Tagesausgabe der Times, auf der Seite mit der 329 Schachaufgabe aufgeschlagen. Dann, als er sah, dafi Winstons Glas leer war, brachte er die Ginflasche und fullte es. Es bedurfte keiner Bestellung. Man kannte seine Gewohnheiten. Das Schachbrett wartete immer auf ihn, sein Ecktisch war immer reserviert. Sogar wenn das Lokal voll war, hatte er ihn fur sich allein, da niemand Wert darauf legte, zu nahe von ihm sitzend gesehen zu werden. Er machte sich nie auch nur die Mtihe, seine Glaser zu zahlen. In unregelmafiigen Abstanden wurde ihm ein schmutziger Fetzen Papier gebracht, von dem es hiefi, es sei die Rechnung; aber er hatte den Eindruck, dafi man ihm immer zu wenig aufrechnete. Es hatte keinen Unterschied ausgemacht, wenn das Gegenteil der Fall gewesen ware. Er besafi jetzt immer eine Menge Geld. Er hatte sogar eine Stellung, eine Sinekure, die besser bezahlt war, als seine alte Stellung es gewesen war. Die Musik aus dem Televisor brach ab, und stattdessen kam eine Stimme. Winston hob den Kopf, um zu lauschen. Es war jedoch kein Frontbericht. Sondern lediglich eine kurze Verlautbarung des Ministeriums fur Uberflufi. Im vorausgehenden Vierteljahr, zeigte es sich, war die zehnte Quote fur Schnursenkel innerhalb des Dreijahresplans um achtundneunzig Prozent ubertroffen worden. Er studierte die Schachaufgabe und stellte die Figuren auf. Es war ein verzwicktes Schlufispiel mit Hilfe von zwei Springern. » Weill zieht und setzt Schwarz in zwei Zugen matt.« Winston blickte zu dem Bildnis des Grofien Bruders empor. Weill setzt immer matt, dachte er mit einer Art von dunklem Mystizismus. Immer, ohne Ausnahme, ist es so eingerichtet. Bei keiner Schachaufgabe seit Entstehung der Welt hat jemals Schwarz gewonnen. Symbolisierte das nicht den ewigen, unabanderlichen Sieg des Guten tiber das Bose? Das riesige Gesicht blickte voll ruhiger Macht auf ihn zuruck. Weill setzt immer matt. Die Stimme aus dem Televisor hielt inne und fugte in einem anderen, viel ernsteren Ton hinzu: »Wir machen unsere Horer 330 auf eine wichtige Meldung aufmerksam, die um ftinfzehn Uhr dreifiig durchgegeben wird. Funfzehn Uhr dreifiig! Es handelt sich um eine aufierst wichtige Meldung. Sorgen Sie daftir, dafi Sie sie nicht versaumen. Funfzehn Uhr dreifiig.« Wieder fiel die Blechmusik ein. Winstons Herz klopfte heftig. Das war der Frontbericht. Ein Instinkt sagte ihm, dafi schlechte Nachrichten kommen wtirden. Den ganzen Tag tiber hatte ihn unter kurz aufflackernden Erregungszustanden der Gedanke an eine vernichtende Niederlage in Afrika beschaftigt und war ihm dann wieder entfallen. Ihm war, als sehe er leibhaftig das eurasische Heer tiber die nie zuvor tiberschrittene Grenze einschwarmen und sich wie eine Ameisenkolonne in die Spitze Afrikas ergiefien. Warum war es nicht moglich gewesen, sie in der Flanke zu umgehen? Der Umrifi der westafrikanischen Ktiste stand ihm lebhaft vor Augen. Er ergriff den weifien Springer und schob ihn tiber das Spielbrett. Hier war das richtige Feld. Zur gleichen Zeit, wahrend er die schwarzen Horden stidwarts vorsttirmen sah, schwebte ihm eine andere, auf geheimnisvolle Weise gesammelte Streitmacht vor Augen, die plotzlich in ihrem Rticken auftauchte und ihre Verbindungen zu Land und zu Wasser abschnitt. Er hatte das Geftihl, durch seinen Willensaufwand diese andere Streitmacht ins Leben zu rufen. Aber man mufite rasch handeln. Wenn sie ganz Afrika unter ihre Kontrolle bringen konnten, wenn sie Flugplatze und Unterseeboot-Sttitzpunkte am Kap hatten, dann war Ozeanien in zwei Halften geteilt. Daraus konnte sich alles ergeben: Niederlage, Zusammenbruch, eine Neuaufteilung der Welt, die Vernichtung der Partei! Er holte tief Atem. Ein seltsames Gemisch von Geftihlen - aber genaugenommen war es kein Gemisch, eher waren es einander ablosende Geftihlsschichten, bei denen man nicht sagen konnte, welches Geftihl das unterste war - regte sich in ihm. Der Anfall ging vortiber. Er stellte den weifien Springer auf seinen Platz zurtick, aber ftir den Augenblick konnte er sich nicht einer ernsthaften Uberlegung des Schachproblems widmen. Seine 331 Gedanken schweiften erneut. Fast unbewufit malte er mit dem Finger in den Staub der Tischplatte: 2x2 = 5 »In dein Inneres konnen sie nicht eindringen«, hatte Julia gesagt. Aber sie konnten in einen eindringen. »Was Ihnen hier widerfahrt, gilt fur immer«, hatte O'Brien gesagt. Das war ein wahres Wort. Es gab Dinge, eigene Taten, die man nie wieder loswurde. Etwas in der eigenen Brust war getotet worden: ausgebrannt und ausgeatzt. Er hatte sie gesehen; hatte sogar mit ihr gesprochen. Es war keine Gefahr dabei. Er wufite gleichsam instinktiv, dafi sie jetzt so gut wie kein Interesse an seinem Tun und Treiben nahm. Er hatte eine zweite Begegnung mit ihr verabreden konnen, wenn einer von ihnen beiden es gewollt hatte. Tatsachlich waren sie sich durch Zufall begegnet. Es war im Stadtpark gewesen, an einem abscheulichen, schneidenden Marztag, als die Erde aussah wie aus Eisen, das ganze Gras abgestorben schien und nirgendwo eine Blutenknospe zu sehen war aufier ein paar Krokussen, die sich durch das Erdreich durchgekampft hatten, um vom Wind zerzaust zu werden. Er eilte mit frostblauen Handen und wassernden Augen dahin, als er sie keine zehn Meter von sich entfernt erblickte. Sofort fiel ihm auf, dafi sie sich in einer schwer bestimmbaren Weise verandert hatte. Sie gingen, fast ohne Erkennen zu verraten, aneinander vorbei, dann kehrte er um und ging ihr, nicht sehr eifrig, nach. Er wufite, dafi keine Gefahr bestand, niemand kummerte sich um sie. Sie sagte nichts. Sie ging schrag tiber den Rasen davon, so als versuche sie, ihn loszuwerden; dann schien sie sich damit abzufinden, ihn an ihrer Seite zu haben. Schliefilich kamen sie zu einer Gruppe zerzauster, entblatterter Straucher, die weder als Versteck noch als Schutz vor dem Wind dienen konnten. Sie blieben stehen. Es war scheufilich kalt. Der Wind pfiff durch die Zweige und zerpfluckte die verstreut dastehenden, schmutzig aussehenden Krokusse. Er legte den Arm um ihre Hufte. Es gab keinen Televisor, aber es mufiten versteckte Mikrofone da sein; 332 aufierdem konnte man sie sehen. Das machte nichts aus, nichts machte etwas aus. Sie hatten sich auf den Boden legen und das tun konnen, was sie gewollt hatten. Sein Fleisch erstarrte vor Grauen bei dem blofien Gedanken. Sie reagierte uberhaupt nicht auf seinen um sie gelegten Arm; sie versuchte nicht einmal, sich freizumachen. Jetzt wufite er, was sich in ihr verandert hatte. Ihr Gesicht war bleicher, und eine teilweise von einer Haarstrahne bedeckte lange Narbe lief tiber ihre Stirn und Schlafe. Aber nicht das war die Veranderung. Sie bestand darin, dafi ihre Taille dicker und in einer uberraschenden Weise steif geworden war. Er erinnerte sich, wie er einmal nach der Explosion einer Raketenbombe geholfen hatte, eine Leiche aus den Trummern zu ziehen, und nicht tiber das unglaubliche Gewicht des Toten gestaunt hatte, sondern tiber seine Steifheit und die Schwierigkeit, mit der er sich handhaben liefi, so dafi er eher aus Stein als aus Fleisch zu sein schien. Ihr Korper ftihlte sich ebenso an. Es kam ihm der Gedanke, dafi das Gewebe ihrer Haut ein ganz anderes sein mufite als frtiher. Er versuchte nicht, sie zu ktissen; auch sprachen sie nicht miteinander. Als sie tiber das Gras zurtickgingen, sah sie ihn zum erstenmal unmittelbar an. Es war nur ein kurzer Blick, voll Verachtung und Abneigung. Er fragte sich, ob es eine Abneigung war, die sich nur aus der Vergangenheit herleitete, oder ob sie auch durch sein gedunsenes Gesicht und das Wasser, das ihm der Wind standig aus den Augen trieb, verursacht war. Sie setzten sich auf zwei eiserne Sttihle, Seite an Seite, aber nicht zu eng nebeneinander. Er sah, dafi sie im Begriff war, zu sprechen. Sie schob ihren plumpen Schuh ein paar Zentimeter vor und zertrat bedachtsam einen Zweig. Ihr Fufi schien breiter geworden zu sein, bemerkte er. »Ich habe dich verraten«, sagte sie trocken. »Auch ich verriet dich«, erwiderte er. Sie warf ihm einen erneuten kurzen Blick des Abscheus zu. »Manchmal«, sagte sie, »drohen sie einem mit etwas - etwas, das 333 man nicht aushalten, ja nicht einmal ausdenken kann. Und dann sagt man: >Tut es nicht mir an, tut es jemand anderem, tut es dem Soundso an.< Und vielleicht macht man sich nachher vor, es sei nur ein Kniff gewesen, und man habe nur eben so gesagt, damit sie aufhorten, und es sei einem nicht wirklich ernst damit gewesen. Aber das ist nicht wahr. Zurzeit, wenn es sich abspielt, ist es einem ernst damit. Man glaubt, es gebe keinen anderen Ausweg, um sich selbst zu retten, und man ist durchaus bereit, sich auf diese Weise zu retten. Man will, dafi es dem anderen widerfahrt. Es kummert einen keinen Pfifferling, was sie leiden. Es geht nur noch um einen selbst.« »Es geht nur noch um einen selbst«, echote er. »Und danach empfindet man fur den anderen Menschen nicht mehr dasselbe.« »Nein«, sagte er, »man empfindet nicht mehr dasselbe.« Es schien, sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Der Wind klatschte ihre dunnen Trainingsanzuge an ihre Leiber. Mit einmal setzte es einen in Verlegenheit, schweigend dazusitzen: aufierdem war es zu kalt, um stillzusitzen. Sie murmelte etwas, sie mufite ihre Untergrundbahn erreichen, und stand zum Gehen auf. »Wir miissen uns wiedersehen«, sagte er. »Ja«, sagte sie, »wir miissen uns wiedersehen.« Unentschlossen ging er ein kleines Stuck weit mit, einen halben Schritt hinter ihr. Sie sprachen nicht noch einmal. Sie versuchte nicht direkt, ihn abzuschutteln, sondern ging nur eben in solchem Tempo, dass er nicht mit ihr Schritt halten konnte. Er hatte bei sich beschlossen, sie bis zum Untergrundbahnhof zu begleiten, aber plotzlich schien dieses Sich-durch-die-Kalte-Hinterherziehen- lassen sinnlos und unertraglich. Er fuhlte einen brennenden Wunsch, nicht so sehr von Julia wegzukommen, als ins Cafe »Zum Kastanienbaum« zuruckzukehren, das ihm nie so anziehend vorgekommen war 334 wie in diesem Augenblick. Er hatte eine sehnsuchtige Vision von seinem Ecktisch mit der Zeitung, dem Schachbrett und dem ewig fliefienden Gin. Vor allem wurde es dort warm sein. Im nachsten Augenblick wurde er, rein zufallig, durch eine kleine Gruppe Menschen von ihr getrennt. Er machte einen schwachen Versuch, sie einzuholen, dann wurde er langsamer, machte kehrt und ging in entgegengesetzter Richtung davon. Als er funfzig Meter gegangen war, blickte er sich um. Es waren nicht viele Menschen auf der Strafie, aber schon konnte er sie nicht mehr unterscheiden. Jede von einem Dutzend eilender Gestalten hatte Julia sein konnen. Vielleicht war ihr dick und steif gewordener Rucken nicht mehr unter den anderen Menschen herauszufinden. »Zur Zeit, wenn es sich abspielt«, hatte sie gesagt, »ist es einem ernst damit.« Es war ihm ernst damit gewesen. Er hatte es nicht nur gesagt, sondern auch gewunscht, dafi sie und nicht er ausgeliefert wiirde an die... Etwas an der Musik, die aus dem Televisor rieselte, anderte sich. Ein prahlerischer und hohnischer, ein hetzerischer Unterton kam hinein. Und dann - vielleicht geschah es nicht wirklich, vielleicht war es nur eine sich in eine Melodie kleidende Erinnerung - sang eine Stimme: »Under the spreading chestnut tree I sold you and you sold me...« Tranen stiegen ihm in die Augen. Ein vorbeikommender Kellner sah, dafi sein Glas leer war, und kam mit der Ginflasche zuruck. Er hob sein Glas und schnupperte daran. Das Zeug wurde mit jedem Schluck, den er trank, nicht weniger scheufilich, sondern scheufilicher. Aber es war zu dem Element geworden, in dem er schwamm. Es war sein Leben, sein Tod und sein Wiederbelebungsmittel. Der Gin versetzte ihn allabendlich in einen dumpfen Schlaf, und der Gin erweckte ihn allmorgendlich wieder zum Leben. Wenn er, was selten vor elf Uhr geschah, mit verklebten Augen, mit schlechtem Geschmack im Mund und einem wie gebrochenen 335 Rucken aufwachte, ware es unmoglich gewesen, sich auch nur aus der Horizontale aufzurichten, waren nicht die nachtsuber neben dem Bett stehende Flasche und Teetasse gewesen. Uber die Mittagsstunde safi er mit verglastem Blick da, die Flasche griffbereit vor sich, und lauschte dem Televisor. Von funfzehn Uhr bis Lokalschlufi gehorte er zum Inventar des Cafes. »Zum Kastanienbaum«. Niemand kummerte sich mehr darum, was er tat, keine Sirene weckte, kein Televisor mahnte ihn. Gelegentlich, vielleicht zweimal in der Woche, ging er zu einem verstaubten, vergessen aussehenden Btiro im Wahrheitsministerium und verrichtete ein wenig Arbeit, oder wenigstens was man so Arbeit nennt. Er war einem Unterausschufi eines Unterausschusses zugeteilt worden, der sich von einem der unzahligen Ausschusse abgezweigt hatte, die mit der Bearbeitung der unbedeutenden Schwierigkeiten beschaftigt waren, die sich bei der Zusammenstellung der elften Ausgabe des Neusprech-Worterbuches ergaben. Sie waren mit der Abfassung von etwas beauftragt, das sich Zwischenbericht nannte, was es aber war, woruber sie berichteten, hatte er nie ganz herausgefunden. test@gmx.de Es hatte etwas mit der Frage zu tun, ob Kommas innerhalb oder aufierhalb der Klammern gesetzt werden sollten. Noch vier andere gehorten dem Ausschufi an, samtlich Menschen ahnlich wie er selber. Es gab Tage, an denen sie zusammentraten, um dann gleich wieder auseinander zugehen und einander offen einzugestehen, dafi in Wirklichkeit nichts zu tun war. Es gab aber auch andere Tage, an denen sie sich fast begierig auf ihre Arbeit sturzten, ein riesiges Aufheben davon machten, ihre Entwurfe zu besprechen und lange Denkschriften zu entwerfen, die nie vollendet wurden - an denen der Streit daruber, woruber sie sich eigentlich stritten, aufierordentlich verwickelt und unklar wurde, mit spitzfindigen Erorterungen von Definitionen, riesigen Abschweifungen, Zankereien, ja sogar Drohungen, sich an eine hohere Stelle zu wenden. Und dann plotzlich war ihre Lebendigkeit erschopft, sie 336 safien herum und sahen einander mit erloschenen Augen an wie Gespenster, die sich beim ersten Hahnenschrei in Nichts auflosen. Der Televisor war einen Augenblick verstummt. Winston hob wieder den Kopf. Der Tagesbericht! Aber nein, sie schalteten nur andere Musik ein. Er stellte sich in Gedanken die Karte von Afrika vor. Die Bewegungen der Heere bildeten ein Diagramm: Ein schwarzer Pfeil stiefi senkrecht nach Suden vor und ein weifier Pfeil waagerecht nach Osten, durch das Ende des ersteren hindurch. Wie zur Beruhigung blickte er zu dem unerschutterlichen Gesicht auf dem Bild empor. War es denkbar, dafi der zweite Pfeil nicht einmal existierte? Sein Interesse erlahmte wieder. Er trank einen neuen Schluck Gin, nahm den weifien Springer zur Hand und machte einen versuchsweisen Zug. Schach. Aber es war offenbar nicht der richtige Zug, denn - ungerufen kam ihm eine Erinnerung in den Sinn. Er sah ein kerzenbeleuchtetes Zimmer mit einem breiten, mit einer weifien Steppdecke bedeckten Bett, und sich selbst als einen Jungen von neun oder zehn Jahren, wie er auf dem Fufiboden safi, einen Wurfelbecher schuttelte und aufgeregt lachte. Seine Mutter safi ihm gegenuber und lachte ebenfalls. Es mufite etwa einen Monat vor ihrem Verschwinden gewesen sein. Es war ein Anblick der Harmonie, in dem der nagende Hunger in seinem Magen vergessen und seine fruhere Liebe zu ihr wieder vorubergehend aufgebluht war. Er erinnerte sich gut an den Tag, einen sturmischen Regentag, an dem das Wasser die Fensterscheibe herunterstromte und das Licht im Zimmer zum Lesen zu trube war. Die Langeweile der beiden Kinder in dem dunklen engen Raum wurde unertraglich. Winston greinte und quengelte, verlangte vergeblich etwas zu essen, fuhrwerkte im Zimmer herum, wobei er alles von der Stelle ruckte und der Wandvertafelung Fufitritte versetzte, bis die Nachbarn an die Wand klopften, wahrend das jungere Kind zwischendurch jammerte. Am Schlufi hatte seine Mutter gesagt: »Sei jetzt brav, und ich kauf dir ein Spielzeug. Ein schones Spielzeug - es wird dir gef alien. « 337 Und dann war sie in den Regen hinausgegangen zu einem kleinen Kramladen in der Nachbarschaft, der noch immer zeitweise geoffnet hatte, und kam mit einer Pappschachtel zuruck, die eine vollstandige Zusammensetzung eines Wettrennspiels enthielt. Er konnte sich noch an den Geruch des muffigen Pappdeckels erinnern. Das Ganze war jammervoll. Die Pappe hatte Sprunge, und die winzigen Holzwiirfel waren so ungleichmafiig geschnitzt, dafi sie kaum auf ihren Flachen liegenbleiben wollten. Winston betrachtete das Spiel murrisch und teilnahmslos. Aber dann zundete seine Mutter einen Kerzenstummel an, und sie setzten sich zum Spiel auf den Boden. Bald gliihte er vor Erregung und schrie vor Lachen, wenn die Spielmarken hoffnungsvoll vorruckten und dann wieder fast bis zum Einsatz zuruckgestellt werden mufiten. Sie spielten acht Spiele, wobei jeder vier gewann. Sein Schwesterchen, das zu klein war, um etwas von dem Spiel zu verstehen, hatte, an ein Polster gelehnt, dagesessen und gelacht, weil die anderen lachten. Einen ganzen Nachmittag hindurch waren sie alle miteinander glucklich gewesen, wie in seiner fruheren Jugend. Er verbannte das Bild aus seinen Gedanken. Es war eine falsche Erinnerung. Gelegentlich suchten ihn falsche Erinnerungen heim. Sie schadeten nichts, solange man sie als das erkannte, was sie waren. Manche Dinge hatten sich zugetragen, andere hatten sich nicht zugetragen. Er wandte sich wieder dem Schachbrett zu und ergriff erneut den weifien Springer. Fast im gleichen Augenblick fiel er mit Geklapper hinunter auf das Spielbrett. Er war zusammengefahren, als habe man ihm eine Nadel hineingerammt. Ein schriller Trompetenstofi hatte die Luft durchdrungen. Es war der Tagesbericht! Sieg! Es bedeutete immer einen Sieg, wenn ein Trompetenstofi den Nachrichten vorherging. Sogar die Kellner waren zusammengeschreckt und spitzten die Ohren. Der Trompetenstofi hatte einen riesigen Aufwand von Larm entfesselt. Schon schnatterte eine aufgeregte Stimme aus dem 338 Televisor, aber bereits als sie loslegte, ging sie beinahe in einem Hurragebrilll von draufien unter. Die Neuigkeit hatte sich wie durch Zauberei in den Strafien verbreitet. Er konnte gerade genug von dem, was der Televisor verkundete, horen, um zu merken, dafi alles so, wie von ihm vorausgesehen, gekommen war; eine grofie, tibers Meer gekommene Kriegsflotte war insgeheim zusammengezogen und ein plotzlicher Schlag gegen die feindliche Nachhut gefuhrt worden, der weifie Pfeil spaltete das Ende des schwarzen Bruchstucke triumphierender Phrasen behaupteten sich gegen den Larm: »Grofies strategisches Manover - vollendete Zusammenarbeit - wilde Flucht des Feindes auf der ganzen Linie - eine halbe Million Gefangene - vollkommene Auflosung - Kontrolle tiber ganz Afrika - das Kriegsende in absehbare Nahe geruckt - grofiter Sieg in der menschlichen Geschichte! Sieg, Sieg, Sieg!« Winstons Ftifie machten unter dem Tisch krampfhafte Bewegungen. Er hatte sich nicht von seinem Platz gertihrt, aber in Gedanken rannte er, rannte rasch, war mit der Menge draufien und schrie sich mit Hochrufen heiser. Wieder blickte er zu dem Bildnis des Grofien Bruders empor. Der Kolofi, der seine Arme schutzend tiber die ganze Welt breitete! Der Felsen, gegen den die asiatischen Horden vergeblich anrannten! Er tiberlegte, wie noch vor zehn Minuten - ja, nur vor zehn Minuten - ein Schwanken in seinem Herzen gewesen war, als er sich fragte, ob die Meldung von der Front Sieg oder Niederlage lauten wtirde. Ach, mehr als ein eurasisches Heer war untergegangen! Viel hatte sich in ihm geandert seit jenem ersten Tag im Ministerium ftir Liebe, aber die endgtiltige, notwendige, heilende Wandlung war bis zu diesem Augenblick nicht erfolgt. Die Stimme aus dem Televisor sprudelte noch immer ihren Bericht von Gefangenen, Beute und Gemetzel, aber das Geschrei draufien hatte sich ein wenig gelegt. Die Kellner gingen wieder an ihre Arbeit. Einer von ihnen kam mit der Ginflasche heran. 339 Winston, der in seligen Traumen verloren dasafi, achtete nicht darauf, als sein Glas gefullt wurde. Er rannte nicht mehr und schrie nicht mehr Hurra. Er war wieder im Ministerium fur Liebe, alles war vergessen, seine Seele schneeweifi. Er safi auf der offentlichen Anklagebank, gestand alles, belastete jedermann. Er schritt den mit weifien Fliesen belegten Gang hinunter mit dem Gefuhl, im Sonnenschein zu wandeln, und ein bewaffneter Wachposten ging hinter ihm drein. Das langerhoffte Geschofi drang ihm in sein Gehirn. Er blickte hinauf zu dem riesigen Gesicht. Vierzig Jahre hatte er gebraucht, um zu erfassen, was fur ein Lacheln sich unter dem dunklen Schnurrbart verbarg. O grausames, unnotiges Mifiverstehen! O eigensinniges, selbst auferlegtes Verbanntsein von der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tranen rannen an den Seiten seiner Nase herab. Aber nun war es gut, war alles gut, der Kampf beendet. Er hatte den Sieg tiber sich selbst errungen. Er liebte den Grofien Bruder. ENDE 340 Kleine Grammatik Neusprech war die in Ozeanien eingefuhrte Amtssprache und zur Deckung der ideologischen Bedurfnisse des Engsoz erfunden worden. Sie hatte nicht nur den Zweck, ein Ausdrucksmittel fur die Weltanschauung und geistige Haltung zu sein, die den Anhangern des Engsoz allein angemessen war, sondern daruber hinaus jede Art anderen Denkens auszuschalten. Wenn Neusprech erst ein fur allemal angenommen und die Altsprache vergessen worden war (etwa im Jahre 2050), sollte sich ein unorthodoxer - d. h. ein von den Grundsatzen des Engsoz abweichender Gedanke - buchstablich nicht mehr denken lassen, wenigstens insoweit Denken eine Funktion der Sprache ist. Der Wortschatz des Neusprech war so konstruiert, dafi jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen wollte, eine genaue und oft mehr differenzierte Form verliehen werden konnte, wahrend alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden, ebenso wie die Moglichkeit, etwa auf indirekte Weise das Gewunschte auszudrucken. Das wurde als durch die Erfindung neuer, hauptsachlich aber durch die Ausmerzung unerwunschter Worte erreicht, und indem man die ubriggebliebenen Worte so weitgehend wie moglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete. Ein Beispiel hierfur: das Wort „frei" gab es zwar im Neusprech noch, aber es konnte nur in Satzen wie »Dieser Hund ist frei von Flohen«, oder »Dieses Feld ist frei von Unkraut« angewandt werden. In seinem alten Sinn von »politisch frei« oder »geistig frei« konnte es nicht gebraucht werden, da es diese politische oder geistige Freiheit nicht einmal mehr als Begriff gab und infolgedessen auch keine Bezeichnung dafur vorhanden war. 341 Neusprech war auf der vorhandenen Sprache aufgebaut, obwohl viele Neusprechsatze, auch ohne neu erfundene Worte zu enthalten, fur einen Menschen des Jahres 1950 kaum verstandlich gewesen waren. Der Wortschatz war in drei deutlich abgegrenzte Klassen eingeteilt, die im Folgenden gesondert behandelt werden. Fur die rein grammatikalischen Besonderheiten gilt jedoch das unter „ Wortschatz A" Gesagte fur alle drei Kategorien. Der Wortschatz A bestand aus den fur das tagliche Leben benotigten Worten - fur Dinge wie Essen, Trinken, Arbeiten, Anziehen, Treppensteigen, Eisenbahnfahren, Kochen u. dgl. Er war fast vollig aus bereits vorhandenen Worten zusammengesetzt, wie schlagen, laufen, Hund, Baum, Zucker, Haus, Feld - aber mit dem heutigen Wortschatz verglichen, war ihre Zahl aufierst klein und ihre Bedeutung viel strenger umrissen. Sie waren von jedem Doppelsinn und jeder Bedeutungsschattierung gereinigt. Es ware ganz unmoglich gewesen, sich des Wortschatzes A etwa zu literarischen Zwecken oder zu einer politischen oder philosophischen Diskussion zu bedienen. Er war nur dazu bestimmt, einfache, zweckbestimmende Gedanken auszudrucken, bei denen es sich gewohnlich um konkrete Dinge oder physische Vorgange handelte. Ein Merkmal der Neusprech-Grammatik war die fast vollstandige Austauschbarkeit unter den verschiedenen syntaktischen Bestandteilen. Jedes Wort konnte sowohl als Zeit-, Haupt-, Eigenschafts- oder Umstandswort verwendet werden. Zeit- und Hauptwort hatten dieselbe Form, wenn sie die gleiche Wurzel hatten, ja selbst wo kein etymologischer Zusammenhang vorhanden war. Es gab zum Beispiel kein Wort fur schneiden, da seine Bedeutung schon hinreichend durch das Hauptwort Messer gedeckt war. Eigenschaftsworte wurden gebildet, indem man dem Hauptwort die Nachsilbe -voll, Umstandsworte, indem man -weise anhangte. 342 Jedes Wort konnte durch Voranstellung von un- in sein Gegenteil umgewandelt oder durch die Voranstellung von plus- oder von doppelplus- gesteigert werden. So bedeutete beispielsweise unkalt »warm«, wahrend pluskalt oder doppelpluskalt »sehr kalt« oder »uberaus kalt« bedeuteten. Auch war es moglich, die Bedeutung fast jeden Wortes durch die Voranstellung von vor-, nach-, ober-, unter- usw. abzuwandeln. Diese Methode ermoglichte es, den Wortschatz ganz gewaltig zu vermindern. Das zweite hervorstechende Merkmal der Neusprech-Grammatik war ihre Regelmafiigkeit. Abgesehen von einigen nachfolgend erwahnten Ausnahmen folgten alle Beugungen derselben Regel. Bei alien Zeitwortern waren das Imperfektum und das Partizip der Vergangenheit identisch und endeten auf -te. Das Imperfektum von stehlen war stehlte, von denken denkte usw., wahrend alle Formen wie dachte, schwamm, brachte, sprach, nahm abgeschafft waren. Die einzigen Wortarten, die weiterhin unregelmafiig gebeugt werden durften, waren die Furworter und die Hilfszeitworte. Ein Wort, das schwer auszusprechen oder leicht mifizuverstehen war, gait eo ipso als etwas Schlechtes: deshalb wurden gelegentlich um des Wohlklangs willen Buchstaben in ein Wort eingeschoben oder veraltete Formen beibehalten. Aber diese Notwendigkeit machte sich vor allem in Zusammenhang mit Wortschatz B bemerkbar. Der Wortschatz B bestand aus Worten, die absichtlich zu politischen Zwecken gebildet worden waren, d. h. die nicht nur in jedem Fall auf einen politischen Sinn abzielten, sondern dazu bestimmt waren, den Benutzer in die gewunschte Geistesverfassung zu versetzen. Ohne ein eingehendes Vertrautsein mit den Prinzipien des Engsoz war es schwierig, diese Worte richtig zu gebrauchen. In manchen Fallen konnte man sie in die Altsprache oder sogar in Worte aus dem Wortschatz A ubersetzen, aber dazu war gewohnlich eine lange Umschreibung notwendig, und unweigerlich gingen dabei 343 gewisse Schattierungen verloren. Die B-Worte waren eine Art Stenographic mit der man oft eine ganze Gedankenreihe in ein paar Silben zusammenfassen konnte. Ihre Formulierungen waren genauer und zwingender als die gewohnliche Sprache. Die B-Worte waren immer zusammengesetzt. Sie bestanden aus zwei oder mehr Worten oder Wortteilen, die zu einer leicht aussprechbaren Form zusammengezogen waren. Die erzielte Verschmelzung war zunachst immer ein Hauptwort, von dem dann in der ublichen Weise weitere Worte abgeleitet wurden. Beispiel: das Wort Gutdenk bedeutete gemeinhin »orthodoxe Haltung, Strengglaubigkeit«, als Zeitwort »in orthodoxer Weise denken« (Vergangenheit gutdenkte); als Eigenschaftswort gutdenkvoll; als Umstandswort gutdenkweise; als aktives Hauptwort Gutdenker. Der Stamm der B-Worte konnte Bestandteilen jeder Wortart angehoren, die in jeder Reihenfolge angeordnet und beliebig verstummelt werden konnten, um ein leicht aussprechbares neues Wort zu bilden. In dem Worte Undenk (Verstofi gegen die Parteidisziplin) z. B. stand denken an zweiter Stelle, wahrend es in Denkpoli (Gedankenpolizei) auf die erste Stelle kam, wobei das Wort Polizei seine dritte Silbe einbufite. Manche B-Worte hatten eine hochst differenzierte Bedeutung, die jemandem, der nicht mit der Sprache im Ganzen vertraut war, kaum verstandlich wurde. Als Beispiel diene ein typischer Satz aus dem Times-Leitartikel: „Altdenker unintusfuhl Engsoz". Die kurzeste Wiedergabe, die davon in der Altsprache moglich gewesen ware, hatte lauten mussen: »Diejenigen, deren Weltanschauung sich vor der Revolution geformt hat, konnen die Prinzipien des neuen englischen Sozialismus nicht wirklich von innen heraus verstehen.« Aber das ist keine ausreichende Ubersetzung. Man mufite eigentlich, um die voile Bedeutung des oben angefuhrten Neusprechsatzes zu verstehen, erst eine genaue Vorstellung von dem haben, was mit Engsoz gemeint war. Dazu kommt, dafi nur 344 ein vollig im Engsoz aufgegangener Mensch die ganze Kraft des Wortes intusfuhl nachzuempfinden vermag, das eine blinde, begeisterte Hingabe bezeichnete, die man sich nur schwer vorstellen kann, desgleichen das Wort Altdenk, das untrennbar mit der Vorstellung von Schlechtigkeit und Entartung verknupft war. Wie wir bereits bei dem Wort frei gesehen haben, wurden Worte, die fruher einen ketzerischen Sinn hatten, manchmal aus Bequemlichkeitsgrunden beibehalten - aber nur, nachdem man sie von ihren unerwunschten Bedeutungen gereinigt hatte. Zahlreiche Worte wie „Ehre, Gerechtigkeit, Moral, Nation, Heimat, Volk, Rasse, Wissenschaft und Religion" gab es ganz einfach nicht mehr. Sie waren durch ein paar Oberbegriffe ersetzt und damit hinfallig geworden. Alle mit den Begriffen der Freiheit und Gleichheit zusammenhangenden Worte z. B. waren in dem einzigen Wort Undenk enthalten, wahrend alle um die Begriffe Objektivitat und Rationalismus kreisenden Worte samtlich in dem Wort Altdenk Inbegriffen waren. Eine grofiere Genauigkeit ware gefahrlich gewesen. Kein Wort des Wortschatzes B war ideologisch neutral. Eine ganze Anzahl hatte den Charakter reiner sprachlicher Tarnung und waren einfach Euphemismen. So bedeuteten zum Beispiel Worte wie Lustlager (= Zwangsarbeitslager) oder Minipax (= Friedensministerium - Kriegsministerium) fast das genaue Gegenteil von dem, was sie zu besagen schienen. Andererseits zeigten einige Worte ganz offen eine verachtliche Kenntnis der wahren Natur der ozeanischen Verhaltnisse. Ein Beispiel dafur war Prolefutter, womit man die armseligen Lustbarkeiten und die verlogenen Nachrichten meinte, mit denen die Massen von der Partei abgespeist wurden. Andere Worte wiederum hatten eine Doppelbedeutung, sie bedeuteten etwas Gutes, wenn sie auf die Partei, und etwas Schlechtes, wenn sie auf deren Feinde angewandt wurden. Aber aufierdem gab es noch eine grofie Anzahl von Worten, die auf den ersten Blick wie 345 einfache Abkurzungen aussahen und ihre ideologische Farbung nicht von ihrer Bedeutung, sondern von ihrer Zusammensetzung bekamen. Soweit wie moglich wurde alles, was irgendwie politische Bedeutung hatte oder haben konnte, dem Wortschatz B angepafit. Der Name jeder Organisation oder Gemeinschaft, jeden Dogmas, jedes Landes, jeder Verordnung, jeden offentlichen Gebaudes wurde unabanderlich auf den gewohnten Nenner gebracht: in die Form eines einzigen, leicht aussprechbaren Wortes mit moglichst geringer Silbenzahl, von dem man die urspriingliche Ableitung noch ablesen konnte. Im Wahrheitsministerium z.B. wurde die Registratur-Abteilung, in der Winston Smith beschaftigt war, Regab genannt, die Literatur-Abteilung Litab, die Televisor- Programm-Abteilung Telab usw. Das geschah nicht nur aus Grunden der Zeitersparnis. Schon in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts waren solche zusammengezogenen Worte charakteristisches Merkmal der politischen Sache gewesen; wobei es sich gezeigt hatte, dafi die Tendenz, solche Abkurzungen zu benutzen, in totalitaren Landern und bei totalitaren Organisationen am ausgepragtesten war. Zunachst war das Verfahren offenbar ganz unbewufit und zufallig in Gebrauch gekommen, im Neusprech aber wurde es vorsatzlich angewandt. Man hatte erkannt, dafi durch solche Abkurzungen die Bedeutung einer Bezeichnung eingeschrankt und unmerklich verandert wurde, indem sie die meisten der ihr sonst anhaftenden Gedankenverbindungen verlor. Die Worte „Kommunistische Internationale" z. B. erweckten das Bild einer „weltumspannenden Menschheitsverbruderung", von roten Fahnen, Barrikaden, Karl Marx und der Pariser Kommune. Das Wort Komintern dagegen lafit lediglich an eine eng zusammengeschlossene Organisation und eine deutlich umrissene Gruppe von Anhangern einer politischen Doktrin denken; es umreifit etwas, das fast so leicht zu erkennen und auf 346 seinen Zweck zu beschranken ist wie ein Stuhl oder ein Tisch. Komintern ist ein Wort, das man fast gedankenlos gebrauchen kann, wahrend man tiber die Bezeichnung Kommunistische Internationale schon einen Augenblick nachdenken mufi. Ebenso sind die Assoziationen, die durch ein Wort wie Miniwahr hervorgerufen werden, geringer an Zahl und leichter kontrollierbar, als bei der Bezeichnung Wahrheitsministerium. Das erklart nicht nur die Gewohnheit, bei jeder nur moglichen Gelegenheit Abkurzungen zu gebrauchen, sondern auch die fast ubertriebene Sorgfalt, die darauf verwendet wurde, fur jedes dieser Worte eine bequem aussprechbare Form zu finden. Es uberwog im Neusprech deshalb die Rucksicht auf leicht eingehenden Wohlklang jede andere Erwagung, aufier der Genauigkeit der Bedeutung; grammatische Regeln mufiten immer zurucktreten, wenn es erforderlich schien. Und das mit Recht, denn man benotigte - vor allem fur politische Zwecke - unmifiverstandliche Kurzworte, die leicht ausgesprochen werden konnten und im Denken des Sprechers ein Minimum an ideenverwandten Erinnerungen wachriefen. Die einzelnen Worte des Wortschatzes B gewannen noch an Ausdruckskraft dadurch, dafi sie einander fast alle sehr ahnlich waren. Sie waren fast immer zwei-, hochstens dreisilbig (Gutdenk, Minipax, Lustlager, Engsoz, Intusfuhl, Denkpoli), wobei die Betonung ebensohaufig auf der ersten wie auf der letzten Silbe lag. Durch ihre Verwendung entwickelte sich ein bestimmter rednerischer Stil, der zugleich kurz, hohltonend und monoton war. Der Wortschatz C bildete eine Erganzung der beiden vorhergehenden und bestand lediglich aus wissenschaftlichen und technischen Fachausdrucken. Diese ahnelten den fruher gebrauchlichen und leiteten sich aus den gleichen Wurzeln ab, doch liefi man die ubliche Sorgfalt walten, sie streng zu umreifien und von unerwunschten Nebenbedeutungen zu saubern. Sie folgten den gleichen grammatikalischen Regeln wie die Worte in den beiden anderen Wortschatzen. Sehr wenige C-Worte 347 tauchten in der politischen Sprache oder der Umgangssprache auf. Jeder wissenschaftliche Arbeiter oder Techniker konnte alle von ihm benotigten Worte in einer fur sein Fach aufgestellten Liste finden, wahrend er selten uber eine mehr als oberflachliche Kenntnis der in den anderen Listen verzeichneten Worte verfugte. Nur einige wenige Worte standen auf alien Listen, doch es gab kein Vokabular, das die Funktion der Wissenschaft unabhangig von ihren jeweiligen Zweigen als eine geistige Einstellung oder Denkungsart ausgedruckt hatte, ja es gab nicht einmal ein Wort fur »Wissenschaft«, da jeder Sinn, den es hatte haben konnen, bereits hinreichend durch das Wort Engsoz umschrieben war. Es war also im Neusprech so gut wie unmoglich, verbotenen Ansichten, uber ein sehr niedriges Niveau hinaus, Ausdruck zu verleihen. Man konnte naturlich ganz grobe Ketzereien wie einen Fluch aussprechen. Man hatte z. B. sagen konnen: Der Grofie Bruder ist ungut. Aber diese Feststellung, die fur ein orthodoxes Ohr lediglich wie ein handgreiflicher Unsinn geklungen hatte, durch Vernunftargumente zu stutzen, ware ganz unmoglich gewesen, da die notigen Worte dafur fehlten. Im Jahre 1984, zu einer Zeit also, da die Altsprache noch das normale Verstandigungsmittel war, bestand theoretisch immer noch die Gefahr, dafi man sich bei der Benutzung von Neusprechworten an ihren ursprunglichen Sinn erinnern konnte. In der Praxis war es fur jeden im Doppeldenk geschulten Menschen naturlich nicht schwer, das zu vermeiden, aber schon nach zwei weiteren Generationen wurde auch die blofie Moglichkeit einer solchen Entgleisung uberwunden sein. Viele Verbrechen und Vergehen wurde dieser Mensch nicht mehr begehen konnen, weil er keinen Namen mehr dafur hatte und sie sich deshalb gar nicht mehr vorstellen konnte. Es war vorauszusehen, dafi im Laufe der Zeit die Besonderheiten des Neusprech immer mehr hervortreten wurden - es wiirde immer weniger Worte geben und deren Bedeutung immer starrer 348 werden. Auch wurde die Moglichkeit, sie zu unliebsamen Zwecken zu gebrauchen, standig geringer werden. Sobald die Altsprache ein fur allemal verdrangt war, war auch das letzte Bindeglied mit der Vergangenheit dahin. Die Geschichte war bereits umgeschrieben worden, doch gab es da und dort unzureichend zensierte Bruchstucke aus der Literatur der Vergangenheit, und solange jemand die Altsprache verstand, war es moglich, sie zu lesen. In der Zukunft wurden solche Fragmente, auch wenn sie zufalligerweise erhalten blieben, unverstandlich und unubersetzbar sein. Es war unmoglich, irgendetwas aus der Altsprache ins Neusprech zu ubertragen, es sei denn, es handelte sich um ein technisches Verfahren oder urn einen einfachen alltaglichen Vorgang, oder es war bereits linientreu („gutdenkvoll" wurde der Neusprechausdruck lauten) in seiner Tendenz. Praktisch bedeutete dies, dafi kein vor 1960 geschriebenes Buch, so wie es war, ubersetzt werden konnte. Vorrevolutionare Literatur konnte nur einer ideologischen Ubertragung unterzogen werden, das heifit einer Veranderung sowohl dem Sinne als der Sprache nach. Ein grofier Teil der Literatur der Vergangenheit war tatsachlich schon in dieser Weise verandert worden. Prestigerucksichten liefien es wunschbar erscheinen, das Andenken an bestimmte historische Figuren beizubehalten, doch so, dafi man deren Errungenschaften mit der Linie des Engsoz in Einklang brachte. Verschiedene Schriftsteller wie Shakespeare, Milton, Swift, Byron, Dickens und andere wurden deshalb einer Ubertragung unterzogen. Sobald dies vollbracht worden war, wurden sowohl die Originalwerke wie auch alles andere, das aus der Literatur der Vergangenheit ubriggeblieben war, vernichtet. Diese Art von Ubertragung waren eine langwierige und muhsame Angelegenheit, und deren Beendigung konnte nicht vor dem ersten oder zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts erwartet werden. Es gab noch eine grofie Menge reiner Fachliteratur - unentbehrlich technische Handbucher und 349 dergleichen, die in der gleichen Weise bearbeitet werden mufiten. Hauptsachlich um Zeit zu den vorbereitenden Ubersetzungsarbeiten zu gewinnen, wurde die endgultige Einfuhrung des Neusprech auf einen so spaten Zeitpunkt wie 2050 festgesetzt. Bearbeitet von stz@cusanus-gymnasium.eu 350